WD 3 - 3000 - 233/20 (9. Oktober 2020) © 2020 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Gefragt wird, ob es eine verfassungsrechtliche Grenze für den Anteil von Briefwählern bei der Bundestagswahl gibt. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Wahlen zum Bundestag ergeben sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG). Danach werden die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Neben die geschriebenen Wahlrechtsgrundsätze tritt der ungeschriebene Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, der seine Grundlagen in Art. 38 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG findet. Die Öffentlichkeit der Wahl sichert das für die Funktionsfähigkeit einer Demokratie und die Legitimation notwendige Vertrauen in den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl.1 Das Bundesverfassungsgericht hatte mehrfach über die Zulässigkeit der Briefwahl zu entscheiden. Die geltenden bundesrechtlichen Regelungen zur Briefwahl beurteilt das Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform. Die Briefwahl schränkt zwar die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit ein, dient aber dem Ziel, eine umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen und trägt damit dem Grundsatz der Allgemeinheit Rechnung.2 Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl stellt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls im Zusammenhang mit der Briefwahl eine zu den Grundsätzen der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit der Wahl gegenläufige verfassungsrechtliche Grundentscheidung dar, die grundsätzlich geeignet ist, Einschränkungen anderer Grundentscheidungen der Verfassung zu rechtfertigen. Das Gericht hat aber darauf hingewiesen, dass eine deutliche Zunahme der Briefwähler mit dem verfassungsrechtlichen Leitbild der Urnenwahl, die die repräsentative Demokratie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar mache, in Konflikt treten könne.3 Eine gesetzliche Regelung, die eine reine Briefwahl 1 Morlok, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 38 Rn. 126. 2 BVerfGE 134, 25 (30); 123, 39 (75); 59, 119 (125); vgl. auch BVerfGE 21, 200. 3 BVerfGE 134, 25 (32 Rn. 16). Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Frage zur Verfassungsmäßigkeit der Briefwahl Kurzinformation Frage zur Verfassungsmäßigkeit der Briefwahl Fachbereich WD 3 (Verfassung und Verwaltung) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 vorsieht, würde den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Vorgaben für die Umsetzung und Konkretisierung der Wahlgrundsätze daher nicht gerecht.4 Das Bundesverfassungsgericht benennt keine quantitative Grenze für den Anteil von Briefwählern. Aus dem über die Jahre zu beobachtenden kontinuierlichen Ansteigen des Anteils von Briefwählern hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2013 keine die Briefwahl einschränkenden Konsequenzen gezogen.5 Es hält vielmehr eine Regelung für verfassungsgemäß, bei der es grundsätzlich jeder und jedem Wahlberechtigten freisteht, ohne besondere Begründung die Briefwahl zu beantragen. Dies lässt darauf schließen, dass das Bundesverfassungsgericht dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl einen hohen Stellenwert zumisst. Es spricht daher einiges dafür, dass in der besonderen Situation einer Pandemie ein höherer Anteil von Briefwählern vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet werden würde. In der Rechtswissenschaft werden verschiedentlich verfassungsrechtliche Bedenken sowohl gegen die Zulässigkeit der Briefwahl als auch gegen den zunehmenden Umfang ihrer Nutzung (28,6 % bei der Bundestagswahl am 24. September 2017) geäußert.6 Die Einschränkung der verfassungsrechtlichen Grundsätze der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit der Wahl wird in der Literatur überwiegend insofern als tolerabel angesehen, soweit es sich bei der Briefwahl um einen Ausnahmefall und nicht um die Regel handelt.7 Eine quantitative Grenze wird auch in der Rechtswissenschaft nicht benannt. *** 4 Ausführlich dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Verfassungsmäßigkeit von reinen Briefwahlen, WD 3 - 3000 - 074/20. 5 Hahlen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, § 36 Rn. 5a. 6 Vgl. Hahlen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, § 36 Rn. 5 mit weiteren Nachweisen. 7 Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 88. EL, August 2019, Art. 38 Rn. 112 (Fn. 3) mit weiteren Nachweisen.