WD 3 - 3000 - 232/17 (23.11.2017) © 2017 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Nach Art. 63 Abs. 4 GG ist in der dritten Phase der Bundeskanzlerwahl gewählt, wer die meisten Stimmen erhält. Die Formulierung zielt auf einen Wahlgang ab, in dem mehrere Kandidaten zur Wahl stehen. Tritt hingegen nur ein Kandidat in dieser Wahlphase an, lässt sich nicht eindeutig aus dem Verfassungstext herleiten, wann die „meisten Stimmen“ erreicht sind. Mangels bisheriger Fälle in der Staatspraxis bestehen zur Auslegung des Art. 63 Abs. 4 GG keine verfassungsgerichtlichen Entscheidungen. Denkbar sind zwei mögliche Auslegungsansätze: 1. Einfache Mehrheit Man kann „die meisten Stimmen“ begrifflich als Hinweis auf die sog. einfache Mehrheit gem. Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG verstehen. Sie ist erreicht, wenn die Zahl der Ja-Stimmen die der Nein- Stimmen überwiegt. Würde man dieses Erfordernis auf Art. 63 Abs. 4 GG übertragen, so würde ein Kandidat mehr Ja- als Nein-Stimmen benötigen. Enthaltungen könnten hierbei unberücksichtigt bleiben. Zu diesem Auslegungsergebnis gelangt Zeh in einer gutachterlichen Stellungnahme im Auftrag des Präsidenten des Landtages Thüringen (das Gutachten ist online nicht abrufbar). In dieser wird Art. 70 Abs. 3 S. 3 ThürVerf interpretiert. Ähnlich wie Art. 63 Abs. 4 GG lautet dieser : „Kommt die Wahl auch im zweiten Wahlgang nicht zustande, so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält.“ Als Ergebnis seiner Begutachtung führt Zeh aus: „Alle bekannten Methoden der Verfassungsauslegung führen zu dem Ergebnis, dass ein im ‚weiteren Wahlgang‘ nach Art. 70 Abs. 3 S. 3 alleine (ohne Gegenkandidaten) antretender Bewerber gewählt ist, sofern mehr Ja- als Nein-Stimmen für ihn abgegeben worden sind. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Bundeskanzlerwahl in der dritten Wahlphase nach Art. 63 Abs. 4 GG Kurzinformation Bundeskanzlerwahl in der dritten Wahlphase nach Art. 63 Abs. 4 GG Fachbereich WD 3 (Verfassung und Verwaltung) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 Auch bei parlamentsinternen Wahlen im Deutschen Bundestag wird in der Regel die Möglichkeit , mit Nein, Ja oder Enthaltung zu stimmen, vorgesehen. Einen Anwendungsfall von Art. 63 Abs. 4 GG hat es aber bislang nicht gegeben. 2. Meiststimmenprinzip Ein anderer Auslegungsansatz stellt darauf ab, dass ein Einzelkandidat automatisch, sofern überhaupt Stimmen auf ihn entfallen sind, auch die meisten Stimmen erzielt hat. Nein-Stimmen, Enthaltungen und ungültige Stimmen bleiben dabei unberücksichtigt. Zu einem solchen Ergebnis gelangt Morlok in einer gutachterlichen Stellungnahme für das Thüringer Justizministerium aus dem Jahr 2014 (abrufbar unter: https://www.thueringen.de/mam/th4/justiz/publikationen/gutachten -morlok.pdf Stand: 23.11.2017). In dem Gutachten heißt es hierzu abschließend: „Tritt im Wahlgang nach Art. 70 Abs. 3 S. 3 ThürVerf nur ein Bewerber an, so ist er mit jeder Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen gewählt, unabhängig von der Zahl der nicht für ihn abgegebenen Stimmen .“ Legt man die dargestellten Ansätze der Auslegung des Art. 63 Abs. 4 GG zugrunde, wäre ein Kandidat , der ohne Gegenkandidaten antritt, auch bei einer sehr niedrigen Zustimmung unabhängig entgegenstehender Nein-Stimmen gewählt. Die demokratische Legitimation eines solchen Kandidaten , der mit mehr Nein- als Ja-Stimmen „gewählt“ worden ist, wäre jedoch sehr niedrig. Dieser Umstand dürfte daher auf der Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen sein: Je schwächer die Legitimation ist, desto mehr spricht dafür, dass der Bundespräsident den Gewählten nicht ernennt, sondern den Bundestag gem. Satz 3 auflöst. ***