© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 231/13 Verfassungsmäßigkeit von Mitgliederentscheiden in politischen Parteien über den Abschluss von Koalitionsverträgen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 231/13 Seite 2 Verfassungsmäßigkeit von Mitgliederentscheiden in politischen Parteien über den Abschluss von Koalitionsverträgen Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 231/13 Abschluss der Arbeit: 9. Dezember 2013 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 231/13 Seite 3 1. Einleitung Der Parteivorstand der SPD hat entschieden, den mit der CDU/CSU ausgehandelten Koalitionsvertrag über die Bildung einer sog. Großen Koalition den eigenen Mitgliedern zur Abstimmung vorzulegen. Das Mitgliedervotum über den Abschluss des Koalitionsvertrages soll für die SPD politisch verbindlich sein, wenn 20 % der Mitglieder an der Abstimmung teilgenommen haben. In Presseveröffentlichungen1 wird die Frage aufgeworfen, ob eine solches Vorgehen mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar wäre. 2. Zulässigkeit eines Mitgliederentscheides nach Parteiengesetz Art. 21 GG garantiert den Parteien die Freiheit, ihre Organisation und ihre Satzung individuell zu gestalten. Die Parteiautonomie ist Ausdruck der staatlichen Neutralität gegenüber den Parteien.2 Gleichzeitig gebietet Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG die innerparteiliche Demokratie. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, „dass der Aufbau der Partei von unten nach oben erfolgen muss, die Mitglieder also nicht von der Willensbildung ausgeschlossen sein dürfen.“3 Einzelne Anforderungen an die Ausgestaltung der innerparteilichen Demokratie werden in den §§ 6 bis 16 Parteiengesetz4 (PartG) formuliert. Gemäß § 8 PartG muss jede Partei zumindest eine Mitgliederversammlung – oder in den überörtlichen Verbänden eine Vertreterversammlung – sowie einen Vorstand haben. Eine Mitgliederbefragung oder ein Mitgliederentscheid können die Parteien in ihren Satzungen verankern. Das PartG macht hierfür keine Vorgaben, steht dem aber auch nicht entgegen.5 Somit sind die Parteien weder nach dem PartG noch nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch6 (BGB) gehindert, den Ausgang von Koalitionsverhandlungen durch einen Mitgliederentscheid klären zu lassen. 1 „Staatsrechtler stellt SPD-Befragung zum Koalitionsvertrag in Frage“, Handelsblatt vom 28. November 2013; Degenhart im Interview in ntv vom 29.11.2013, schriftlicher Auszug im Internet abrufbar unter: http://www.ntv .de/politik/Ich-habe-einen-wunden-Punkt-getroffen-article11819641.html http://www.n-tv.de/politik/Ich-habeeinen -wunden-Punkt-getroffen-article11819641.html Rieble, „So wird die Wahl zum Vorspiel“, FAZS vom 1. Dezember 2013; „Dein Wille geschehe“, FAZ vom 3. Dezember 2013; „Mitgliedervotum als Dauerschleife?“, Die Welt vom 4. Dezember 2013; s. aber auch die Stellungnahmen im Verfassungsblog: http://www.verfassungsblog.de/de/wir-werden-den-quatsch-aber-nicht-beenden-herr-gabriel/#.Up8fr6yLGGl. 2 Morlok/Streit, Mitgliederentscheid und Mitgliederbefragung, ZRP 1996, 447 (449). 3 BVerfGE 2, 1 (40), Hervorhebung nur hier. 4 Gesetz über die politischen Parteien in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Januar 2013 (BGBl. I, S. 149), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 23. August 2013 (BGBl. I, S. 1748). 5 Morlok/Streit, Mitgliederentscheid und Mitgliederbefragung, ZRP 1996, 447 (450 f.). Dies wird wohl auch nicht von Degenhart (Fn. 1) in Frage gestellt. 6 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I, S. 42, ber. S. 2909, ber. 2003 I, S. 738), zuletzt geändert durch Art. 4 Abs. 5 des Gesetzes vom 1. Oktober 2013 (BGBl. I, S. 3719). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 231/13 Seite 4 Die Parteien sind in der Ausgestaltung eines Mitgliederentscheides jedoch nicht völlig frei. Um einen Mitgliederentscheid vor möglichen Manipulationen zu schützen, gilt der Vorbehalt der Bestimmung durch Satzung (Satzungsvorbehalt).7 Somit muss die Vorgehensweise bei Mitgliederentscheidungen schriftlich fixiert sein, bevor eine Partei eine Angelegenheit auf diese Weise klären lassen will. Die SPD hat in §§ 13, 14 ihres Organisationsstatuts (Statut)8 die Voraussetzungen und das Verfahren für einen Mitgliederentscheid geregelt.9 Gemäß § 13 Abs. 1 des Statuts kann ein Mitgliederentscheid einen Beschluss anstelle eines Organs – etwa des Parteitages – fassen. Der Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag beruht auf einem Beschluss des Parteivorstandes gemäß § 13 Abs. 4 lit.b Statut. In § 13 Abs. 6 des Statuts heißt es: „Durch den Mitgliederentscheid wird eine verbindliche Entscheidung gegenüber dem Organ getroffen, an das der Mitgliederentscheid gerichtet ist. Der Entscheid ist wirksam, wenn die Mehrheit der Abstimmenden zugestimmt und mindestens ein Fünftel der Stimmberechtigten sich an der Abstimmung beteiligt haben.“ Damit ist eindeutig, dass das Ergebnis des Mitgliederentscheides bei einer Mindestbeteiligung von 20 % der Stimmberechtigten das zuständige Organ – und nur dieses – hinsichtlich der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages bindet. 3. Bedeutung des Koalitionsvertrages Politische Parteien können sich in einem Koalitionsvertrag verabreden, gemeinsam eine Regierung zu tragen. Vertragspartner sind die Parteien, nicht jedoch die einzelnen Abgeordneten. Die Rechtsnatur und Verbindlichkeit von Koalitionsverträgen sind umstritten.10 Gegenüber dem einzelnen Abgeordneten haben sie nur beschränkte Relevanz; die Parteien können lediglich versprechen , auf ihre Abgeordneten dahingehend einzuwirken, dass diese die Regierung unterstützen. Jedenfalls können Koalitionsverträge keine Auswirkungen auf die verfassungsrechtlich abgesicherte Abstimmungsfreiheit des Abgeordneten aus Art. 38 GG entfalten.11 7 Morlok/Streit, Mitgliederentscheid und Mitgliederbefragung, ZRP 1996, 447 (451); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 21 Rn. 137. 8 Im Internet abrufbar unter: http://www.spd.de/linkableblob/1852/data/Organisationsstatut.pdf. 9 Vgl. Becker, Wozu denn überhaupt Parteimitglied? Zum Für und Wider verstärkter parteiinterner Partizipationsmöglichkeiten , ZParl 1996, 712 (715). 10 Schröder in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 63 Rn. 18 m.w.N. 11 Streinz in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 21 Abs. 1 Rn. 88 m.w.N.; Schröder (Fn. 10) Art. 63 Rn. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 231/13 Seite 5 4. Vereinbarkeit eines Mitgliederentscheides über den Koalitionsvertrag mit der Freiheit des Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) Die einzelnen Abgeordneten sind gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht an Aufträge und Weisungen – auch nicht an die ihrer Fraktion oder Partei – gebunden, sondern nur ihrem Gewissen unterworfen („freies Mandat“). Vereinzelt werden Stimmen12 laut, die die Vereinbarkeit von Mitgliederentscheiden mit dem freien Mandat des Abgeordneten in Frage stellen. Die Bedenken sind in erster Linie gegen die starke Bindungswirkung gerichtet, die ein Basisvotum entfalten könnte. Diese Bindungswirkung gleiche einem „imperativen Mandat“ und könne daher einen Verstoß gegen Art. 38 GG darstellen. Des Weiteren werde das repräsentativ-demokratische System eingeschränkt, wenn die innerparteiliche Integration durch die Gesamtheit der Parteimitglieder zu erfolgen habe. Die überwiegende Auffassung13 sieht das allerdings anders: Das Grundgesetz stehe einer stärker plebiszitär ausgestalteten innerparteilichen Demokratie jedenfalls nicht entgegen. Das Grundgesetz könne den einzelnen Abgeordneten nicht vor jedem Druck schützen, der in vielfältiger Weise von unterschiedlichen Gruppen ausgeübt wird.14 Zwar sei das Ergebnis einer Mitgliederbefragung vielleicht respekteinflößender als ein – ebenfalls möglicher und in anderen Parteien praktizierter – Parteitagsbeschluss. Die Bindungswirkung besteht jedoch nur gegenüber der Partei(führung).15 Letztlich hat der einzelne Abgeordnete im Rahmen seines freien Mandats – unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu einer Partei – seine Entscheidung nur gegenüber seinem Gewissen zu verantworten.16 Insoweit wird sein Rechtsverhältnis gegenüber der Partei durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ergänzt, dass er als Mandatsträger an keine Weisungen der Partei oder der Fraktionen – „gleich in welcher Form sie ergangen oder als Weisung deutbar sein mögen – gebunden ist“.17 Dies gilt sowohl für die Wahl des Bundeskanzlers wie für jede Abstimmung in anderen Personal- oder Sachfragen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss 12 Schieren, Mitgliederbefragungen: Politically correct, aber schädlich, ZParl 1997, 173 (173 f.); ders., Parteiinterne Mitgliederbefragungen: Ausstieg aus der Professionalität?, ZParl 1996, 214 (227); Wolfrum, Die innerparteiliche demokratische Ordnung nach dem Parteiengesetz, 1974, S. 71. In diese Richtung wohl auch Degenhart, zitiert in: Staatsrechtler stellt SPD-Befragung zum Koalitionsvertrag in Frage“, Handelsblatt vom 28. November 2013 sowie im Interview in ntv vom 29. November 2013, schriftlicher Auszug im Internet abrufbar unter: http://www.n-tv.de/politik/Ich-habe-einen-wunden-Punkt-getroffen-article11819641.html. 13 Vgl. Morlok/Streit, Mitgliederentscheid und Mitgliederbefragung, ZRP 1996, 447 (447 ff.); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 21 Rn. 137; Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 69. Ergänzungslieferung 2013, Art. 21 Rn. 346. 14 Vgl. Grimm, Parlament und Parteien, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 6 Rn. 16. 15 So auch Bommarius, Demokratie ist kein Rechtsproblem, Frankfurter Rundschau vom 29. November 2013. 16 So auch Grimm im Interview, „Gemäß des Grundgesetzes“, Frankfurter Rundschau vom 5. Dezember 2013. 17 Ausführlich zum Ganzen Henke in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 63. Lfg. 1991, Art. 21 Rn. 86. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 231/13 Seite 6 vom 6. Dezember 2013 zum Mitgliederentscheid18 festgestellt, dass es in den Grenzen der Art. 21 und 38 GG der Autonomie der Parteien obliege zu entscheiden, wie sie die verfassungsrechtlich zulässige Fraktionsdisziplin innerparteilich vorbereiten. Art. 21 und 38 GG seien im vorliegenden Fall jedenfalls nicht verletzt. Nur soweit dem Abgeordneten eine bestimmte Wahrnehmung seines Mandats auferlegt und für den Fall der Nichtbefolgung eine Sanktion angedroht würde, die die Fraktion auch ergreifen kann, wäre ein Verstoß gegen das freie Mandat wohl zu bejahen.19 Entsprechendes würde für von Parteien angedrohte Sanktionen gelten – wie etwa einen Parteiausschluss gemäß § 10 Abs. 4 PartG – wobei deren Durchsetzung angesichts eines Verstoßes gegen Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG fragwürdig wäre. Allerdings hat unter dem Grundgesetz keine Partei die Möglichkeit, einen Abgeordneten, der ihrer Partei angehört, aus dem Bundestag zu entfernen. 5. Vereinbarkeit eines Mitgliederentscheides mit dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 GG) und der Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) Vereinzelt wird ein Verstoß gegen den Grundsatz der repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 GG) sowie der Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) darin gesehen, dass das Votum der Mitglieder der SPD über das Zustandekommen einer Koalition entscheidet und damit deren Stimme wichtiger wäre als das der gesamten Wähler bei der Bundestagswahl. Außerdem werde die Entscheidung der Wähler bei der Bundestagswahl dadurch entwertet, dass die Teilnahme an dem Mitgliederentscheid noch nicht einmal die aktive Wahlberechtigung voraussetze; vielmehr könnten auch nicht wahlberechtigte Ausländer sowie Minderjährige innerhalb der SPD abstimmen.20 Auch diese Einwände tragen nicht. Bei der Bundestagswahl bestimmen die Wähler die Zusammensetzung des Parlaments und wählen keine bestimmte Regierung(skoalition). Welche Partei welche Koalition eingeht, ist nicht Gegenstand der Abstimmung einer Bundestagswahl, sondern liegt im politischen Ermessen der Parteien. Dies entspricht auch dem Grundgedanken der repräsentativen Demokratie, in der „vom Volke eingesetzte und in seinem Namen handelnde Staatsorgane bei ihren konkreten Entscheidungen verfassungsrechtlich nicht an einen jeweils festzustellenden tatsächlichen Volkswillen gebunden sind.“21 Ferner ist darauf hinzuweisen , dass ein Parteitagsbeschluss über den Abschluss von Koalitionsverhandlungen, der als Alternative in Betracht kommt, keine größere Partizipation des Wahlvolkes gewährleisten würde . Da die Zusammensetzung des Bundestages auch nicht mittelbar durch den Mitgliederentscheid beeinflusst wird und dieser auch keine bindende Wirkung für die Abgeordneten im 18 BVerfG, Beschluss vom 6.12.2013, 2 BvQ 55/13, im Internet abrufbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/qk20131206_2bvq005513.html. 19 So für den Fall des Fraktionszwangs Klein in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, 69. EL 2013, Art. 38 Rn. 216 mit Verweis auf Kasten, Ausschussorganisation und Ausschussrückruf, 1983, S. 166; Badura in: Schneider /Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, Ein Handbuch, 1989, § 15 Rn. 21. 20 Vgl. „Mitgliedervotum als Dauerschleife?“, Die Welt vom 4. Dezember 2013. 21 Grzeszick in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 69. Ergänzungslieferung 2013, Art. 20 Rn. 67. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 231/13 Seite 7 Bundestag entfalten kann, ist auch die Teilnahme nicht zum Bundestag wahlberechtigter Parteimitglieder unproblematisch. 6. Ergebnis Innerparteiliche Urabstimmungen stellen eine Ausprägung der innerparteilichen Demokratie dar. Sie sind daher grundsätzlich verfassungsgemäß, soweit die Parteisatzung Näheres regelt. Urabstimmungen, die nicht in der Satzung verankert sind, sind hingegen unzulässig. Ein Mitgliederentscheid in einer an Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene beteiligten Partei verstößt weder gegen das freie Mandat der Abgeordneten des Bundestages noch gegen die repräsentative Demokratie. Die verfassungsrechtlichen Bedenken sind daher unbegründet.