© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 229/20 Verschreibung von Medikamenten zur Suizidhilfe nur bei Vorliegen einer unheilbaren Krankheit? Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 229/20 Seite 2 Verschreibung von Medikamenten zur Suizidhilfe nur bei Vorliegen einer unheilbaren Krankheit? Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 229/20 Abschluss der Arbeit: 6. Oktober 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 229/20 Seite 3 1. Fragestellung Es wird gefragt, ob es verfassungsrechtlich zulässig wäre, die ärztliche Verschreibung bzw. Abgabe eines tödlich wirkenden Medikaments an Suizidwillige an das Vorliegen einer schweren und unheilbaren Krankheit zu knüpfen. 2. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 Abs. 1 Strafgesetzbuch Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 das Ende 2015 eingeführte strafrechtliche Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung nach § 217 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) für verfassungswidrig und nichtig erklärt.1 Das Urteil betrifft die assistierte Selbsttötung, im strafrechtlichen Sinne die „Beihilfe“ zur Selbsttötung.2 Diese umfasst etwa den Fall, dass ein Dritter der sterbewilligen Person ein tödliches Medikament verschafft, das die Person dann selbst einnimmt. Die Suizidhilfe ist abzugrenzen von der sog. aktiven Sterbehilfe, bei der der Dritte den Tod der anderen Person herbeiführt, beispielsweise indem er der Person ein tödlich wirkendes Mittel selbst verabreicht, anstatt es ihr zur eigenen Einnahme zu überlassen. Die aktive Sterbehilfe ist weiterhin strafbar (etwa nach § 216 StGB).3 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht unter anderem auf Verfassungsbeschwerden von Personen, die ihr Leben mithilfe der Unterstützung Dritter beenden wollen, sowie von Ärzten zurück . Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als Ausdruck persönlicher Autonomie auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasse.4 Teil des Selbstbestimmungsrechts über das eigene Lebensende sei auch die Freiheit, für die Beendigung Unterstützung in Anspruch zu nehmen.5 Wer erwäge, sein Leben zu beenden, sei vielfach erst durch die fachkundige Hilfe von Dritten, insbesondere von Ärzten, in der Lage, darüber eine Entscheidung zu treffen und den Entschluss in einer zumutbaren Weise umzusetzen. Die Inanspruchnahme dieser Hilfeleistung werde durch § 217 Abs. 1 StGB faktisch unmöglich gemacht, da entsprechende Anbieter ihre Tätigkeit zur Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen eingestellt hätten.6 Das Fehlen der Hilfeleistung sei für Menschen, die ihr Leben beenden wollten, mit dem erheblichen Risiko verbunden, den Entschluss zur Selbsttötung mangels Verfügbarkeit schmerzfreier und sicherer Möglichkeiten nicht realisieren zu können.7 1 BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15. 2 Möllers/Möllers, Geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe als neuer Wirtschaftszweig?, in: Recht und Politik 2020, 156 (157). 3 Möllers/Möllers, Geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe als neuer Wirtschaftszweig?, in: Recht und Politik 2020, 156 (158). 4 BVerfG (Fn. 1), Rn. 208 ff. 5 BVerfG (Fn. 1), Rn. 213, siehe dort auch zum Folgenden. 6 BVerfG (Fn. 1), Rn. 216. 7 BVerfG (Fn. 1), Rn. 218. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 229/20 Seite 4 Ärzte, die im Rahmen ihrer Tätigkeit Suizidhilfe leisteten, seien dabei durch die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützt.8 Die Grundrechte der zur Selbsttötung Entschlossenen und der Hilfeleistenden seien funktional miteinander verschränkt.9 Mit der Gewährleistung des Rechts auf Selbsttötung korrespondiere auch ein entsprechend weitreichender grundrechtlicher Schutz des Handelns der Hilfeleistenden. 2.1. Regulierungserlaubnis des Staates Das Bundesverfassungsgericht stellt klar, dass der Gesetzgeber die Suizidhilfe grundsätzlich durchaus regulieren dürfe.10 Der Gesetzgeber dürfe auch allgemeine Suizidprävention betreiben und insbesondere krankheitsbedingten Selbsttötungswünschen durch Ausbau und Stärkung palliativmedizinischer Behandlungsangebote entgegenwirken.11 Er müsse auch Gefahren für die Autonomie und das Leben entgegentreten, die in den realen Lebensverhältnissen begründet lägen und eine Entscheidung des Einzelnen für die Selbsttötung und gegen das Leben beeinflussen könnten. Dieser sozialpolitischen Verpflichtung dürfe der Gesetzgeber sich aber nicht dadurch entziehen, dass er das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf Selbstbestimmung außer Kraft setze.12 Der Einsatz des Strafrechts zum Schutz der autonomen Entscheidung des Einzelnen über die Beendigung seines Lebens finde seine Grenze dort, wo die freie Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht werde.13 Die Anerkennung der Autonomie des Einzelnen verlange eine strikte Beschränkung staatlicher Intervention auf den Schutz der Selbstbestimmung, der durch Elemente der medizinischen und pharmakologischen Qualitätssicherung und des Missbrauchsschutzes ergänzt werden könne.14 Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers reichten von Sicherungsmechanismen, wie etwa Aufklärungspflichten , über Erlaubnisvorbehalte, die die Zuverlässigkeit von Suizidhilfeangeboten sicherten, bis hin zu strafrechtlich verankerten Verboten von besonders gefahrträchtigen Formen der Suizidhilfe.15 In jedem Fall müsse aber dem verfassungsrechtlich geschützten Recht des Einzelnen , aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, auch 8 BVerfG (Fn. 1), Rn. 307, 310 ff. 9 BVerfG (Fn. 1), Rn. 331, siehe dort auch zum Folgenden. 10 BVerfG (Fn. 1), Rn. 338. 11 BVerfG (Fn. 1), Rn. 276, siehe dort auch zum Folgenden. 12 BVerfG (Fn. 1), Rn. 277. 13 BVerfG (Fn. 1), Rn. 273. 14 BVerfG (Fn. 1), Rn. 338. 15 BVerfG (Fn. 1), Rn. 339. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 229/20 Seite 5 faktisch hinreichender Raum zur Umsetzung belassen werden.16 Dies erfordere nicht nur eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und der Apotheker, sondern möglicherweise auch Anpassungen des Betäubungsmittelrechts. 2.2. Freiverantwortlichkeit der Entscheidung Das Bundesverfassungsgericht ist der Ansicht, der Gesetzgeber sei zulässigerweise davon ausgegangen , dass von der Suizidhilfe bestimmte Gefahren für die autonome Selbstbestimmung über das eigene Leben ausgehen könnten.17 Das Gericht führt aus, dass eine freie Suizidentscheidung von vier wesentlichen Voraussetzungen abhänge: von der Fähigkeit seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden und nach dieser Einsicht handeln zu können, von der Kenntnis aller entscheidungserheblicher Gesichtspunkte, von dem Fehlen unzulässiger äußerer Einflussnahme oder äußeren Drucks und von der Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit des Entschlusses.18 Vor dem Hintergrund, dass ein Sterbeverlangen häufig ambivalent und wechselhaft sei, benennt das Bundesverfassungsgericht eine unzureichende Aufklärung als eine erhebliche Gefahr für eine freie Suizidentscheidung. Eine freie Entscheidung setze „zwingend eine umfassende Beratung und Aufklärung hinsichtlich möglicher Entscheidungsalternativen voraus, um sicherzustellen , dass der Suizidwillige nicht von Fehleinschätzungen geleitet, sondern tatsächlich in die Lage versetzt wird, eine realitätsbezogene, rationale Einschätzung der eigenen Situation vorzunehmen “.19 2.3. Keine Beschränkung auf bestimmte Lebenssituationen Das Bundesverfassungsgericht betont, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht auf fremddefinierte Situationen beschränkt sei.20 Insbesondere gelte das Recht nicht nur im Falle einer schweren oder unheilbaren Krankheit, sondern in jeder Phase des Lebens. Eine Einengung des Schutzbereichs des Grundrechts auf bestimmte Motive laufe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd sei. Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG impliziere, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedürfe. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, sei im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. 16 BVerfG (Fn. 1), Rn. 341, siehe dort auch zum Folgenden. 17 BVerfG (Fn. 1), Rn. 239. 18 BVerfG (Fn. 1), Rn. 241 ff. 19 BVerfG (Fn. 1), Rn. 246. 20 BVerfG (Fn. 1), Rn. 210, siehe dort auch zum Folgenden. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 229/20 Seite 6 3. Fazit Der Gesetzgeber ist grundsätzlich berechtigt, die Suizidhilfe zu regulieren.21 Insbesondere dürften Regelungen in Betracht kommen, die der Sicherstellung der Freiverantwortlichkeit des Suizidentschlusses dienen. Nach den vorangegangenen Ausführungen dürfte aber eine Regelung, die die Möglichkeit zur ärztlichen Verschreibung bzw. Abgabe eines tödlich wirkenden Medikaments an Suizidwillige vom Vorliegen einer schweren und unheilbaren Krankheit abhängig machte, verfassungsrechtlich unzulässig sein.22 Das Bundesverfassungsgericht hat dem Einzelnen das Recht zugesprochen , unabhängig von seiner Lebenssituation über das eigene Lebensende zu bestimmen und dabei Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dieses Recht korrespondiert mit dem Recht eines Dritten, die gewünschte Hilfe zu leisten. Eine Regelung, die die Hilfeleistung durch Ärzte mittels Verschreibung bzw. Abgabe eines tödlichen Medikaments auf unheilbar erkrankte Personen begrenzte, würde die Grundrechte der Suizidwilligen und der Hilfeleistenden entgegen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts einschränken. *** 21 Siehe zu einzelnen Möglichkeiten etwa Spittler, Eckpunkte zu einem Suizidhilfe-Gesetz – Eine ärztliche und speziell psychiatrische Sicht, in: NJOZ 2020, 545 sowie Lindner, Sterbehilfe in Deutschland – mögliche Regelungsoptionen , in: ZRP 2020, 66. 22 So auch Lindner, Sterbehilfe in Deutschland – mögliche Regelungsoptionen, in: ZRP 2020, 66 (67 f.).