© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 229/19 Zur Verfassungsmäßigkeit einer Fortbildungspflicht für Richter Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/19 Seite 2 Zur Verfassungsmäßigkeit einer Fortbildungspflicht für Richter Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 229/19 Abschluss der Arbeit: 02.10.2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/19 Seite 3 1. Fragestellung Es stellt sich die Frage, ob eine allgemeine Fortbildungspflicht für Richter gegen Verfassungsrecht verstößt. 2. Aktueller Gesetzesstand Für Richter besteht nach derzeitiger Gesetzeslage überwiegend keine allgemeine Fortbildungspflicht .1 Ausnahmen bestehen seit einigen Jahren insbesondere in folgenden fünf Bundesländern:2 – Baden-Württemberg, Landesrichter- und -staatsanwaltsgesetz, § 8a: „Die Richter sind verpflichtet , sich fortzubilden. Die dienstliche Fortbildung ist vom Dienstherrn durch geeignete Maßnahmen zu fördern.“3 – Bayern, Richter- und Staatsanwaltsgesetz, Art. 6: „Richter und Richterinnen, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen sowie Landesanwälte und Landesanwältinnen sind verpflichtet, sich zur Erhaltung und Fortentwicklung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten fortzubilden. Die dienstliche Fortbildung, einschließlich der Bedeutung der ethischen und sozialen Grundlagen des Rechts für die berufliche Praxis, wird von den Dienstvorgesetzten und der obersten Dienstbehörde gefördert.“4 – Nordrhein-Westfalen, Landesrichter- und Staatsanwältegesetz, § 13: „Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sind verpflichtet, sich fortzubilden. Die dienstliche Fortbildung ist vom Dienstherrn durch geeignete Maßnahmen zu fördern.“5 – Sachsen-Anhalt, Landesrichtergesetz, § 7: „Der Richter ist verpflichtet, sich fortzubilden. Die dienstliche Fortbildung ist vom Dienstherrn durch geeignete Maßnahmen zu fördern.“6 1 Zum früheren, überholten Stand siehe: WD 7 - 3000 - 173/18, Fortbildungspflicht bei juristischen Berufen, https://www.bundestag.de/resource/blob/567690/3574d419e1a95477f9eb95323aed2492/WD-7-173-18-pdfdata .pdf; siehe ferner die Übersicht in WD 7 - 3000 - 022/16, Richterfortbildung in Deutschland, https://www.bundestag .de/resource/blob/415580/df4c51a09ac344d9ae7cbfa4bf8f4880/WD-7-022-16-pdf-data.pdf. 2 Ergebnis einer freien Netzrecherche und einer Abfrage der Juris-Datenbank nach Landesgesetzen mit den Suchkriterien „Richter“, „Fortbildung“/“fortzubilden“, und „verpflichtet“. 3 Gültig ab 7. Mai 2013. 4 Gültig ab 1. April 2018. 5 Gültig ab 1. Januar 2016. 6 Gültig ab 1. April 2011. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/19 Seite 4 – Thüringen, Richter- und Staatsanwältegesetz, § 9: „Richter und Staatsanwälte sind zur dienstlichen Fortbildung verpflichtet. Der Dienstherr fördert die dienstliche Fortbildung durch geeignete Maßnahmen.“7 Der Hamburger Senat hat ferner im Juli 2019 der Bürgerschaft einen Gesetzentwurf vorgelegt, der einen neuen § 3b in das Hamburgische Richtergesetz einfügen soll: „Richter sind verpflichtet, sich zur Erhaltung und Fortentwicklung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten fortzubilden. Die dienstliche Fortbildung ist vom Dienstherrn durch geeignete Maßnahmen zu fördern.“8 3. Richterliche Unabhängigkeit Das Grundgesetz (GG) formuliert in Art. 97 die richterliche Unabhängigkeit wie folgt: „(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen. (2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.“ Im Kern schützt die sachliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG vor sachlichen Weisungen: „Kein Dienstbefehl kann dem Richter vorschreiben, wie er zu urteilen“9 und wie er zu seinem Urteil zu kommen hat: „Die Entscheidung selbst und der Entscheidungsprozess muss von Einwirkungen anderer Amtsträger frei bleiben.“10 Daher dürfen weder „Regierung noch die Verwaltung […] den Richtern in Form von Verwaltungsvorschriften Leitlinien für ihre rechtsprechende Tätigkeit (etwa in Blick auf die Auslegung eines bestimmten Tatbestandsmerkmals irgendeiner Norm) geben.“11 Bis zu der Grenze evidenter Fehlgriffe sind daher der Dienstaufsicht entzogen: der Rechtsspruch (die Sachentscheidung); die Rechtsfindung, also alle dem Rechtsspruch auch nur mittelbar dienenden, ihn vorbereitenden oder ihm nachfolgenden Sach- und Verfahrensentscheidungen (z. B. Beweisaufnahme oder Terminbestimmung). 7 Gültig ab 1. Januar 2019. 8 HB-Drs. 21/17853 vom 23. Juli 2019, S. 10, http://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/67459/stellungnahme _des_senats_zu_dem_ersuchen_der_buergerschaft_vom_30_januar_2019_qualitaetssicherung_im_familiengerichtlichen _verfahren_stellung_von_kind.pdf. 9 Hillgruber , in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 87. EL März 2019, Art. 97 Rn. 21, unter Verweis auf Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Kommentar, 1933, Art. 102 Nr. 2. 10 Hillgruber , in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 87. EL März 2019, Art. 97 Rn. 21 11 Hillgruber , in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 87. EL März 2019, Art. 97 Rn. 75. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/19 Seite 5 Es ist grundsätzlich nicht ersichtlich, wie eine allgemeine Fortbildungspflicht in den Schutzbereich der sachlichen Unabhängigkeit eingreifen könnte. Die Grenzen der organisatorischen Abhängigkeit von Richtern definiert Art. 97 Abs. 2 GG. Auch hier ist grundsätzlich nicht ersichtlich, wie eine allgemeine Fortbildungspflicht in den Schutzbereich eingreifen könnte. Umgekehrt ließe sich wohl argumentieren, dass eine regelmäßige Fortbildung von Richtern deren Unabhängigkeit auch stärken kann:12 Je fundierter das fachliche Wissen von Richtern ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich bei ihren Entscheidungen nicht von unsachlichen Erwägungen leiten lassen. 4. Berufsfreiheit Das Grundgesetz formuliert in Art. 12 Abs. 1 die Berufsfreiheit wie folgt: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ Eine Fortbildungspflicht würde in die Berufsfreiheit eingreifen, und zwar als Regelung zur Berufsausübung .13 Ein solcher Eingriff lässt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) „durch jede vernünftige Erwägung des Gemeinwohls“ rechtfertigen.14 Im konkreten Fall läge das Gemeinwohl wohl in der Qualität und Effizienz der Rechtspflege. So stellt die Magna Charta für Richter (Europarat) fest: „[Aus- und Fort]bildung ist ein wichtiges Element, um [...] die Qualität und Effizienz des Justizwesens zu gewährleisten […].“15 Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in Bezug auf die Fortbildungspflicht von Fachanwälten als schützenswertes Gemeinwohl Folgendes anerkannt: „[D]as im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege liegende Vertrauen der Öffentlichkeit in die besondere Qualifikation der die Fachanwaltsbezeichnungen führenden Rechtsanwälte“.16 12 Vgl. Europarat, Beirat europäischer Richterinnen und Richter (CCJE), Magna Carta of Judges, CCJE (2010)3 Final, Nr. 8, S. 2: „[Initial and in-service] [t]raining is an important element to safeguard the independence of judges […]“ (inoffizielle Übersetzung: „[Aus- und Fort]bildung ist ein wichtiges Element zur Wahrung der Unabhängigkeit der Richter […]“), https://rm.coe.int/2010-ccje-magna-carta-anglais/168063e431. 13 Vgl. BGH, NJW 2016, 2666 Rn. 10 (Vorschriften zur Erlangung und zum Erhalt der Fachanwaltsbezeichnung, einschließlich Fortbildung, regeln die Berufsausübung). 14 Jarass/Pieroth, GG Kommentar, 15. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 45. 15 Vgl. Europarat, Beirat europäischer Richterinnen und Richter (CCJE), Magna Carta of Judges, CCJE (2010)3 Final, Nr. 8, S. 2: „[Initial and in-service] [t]raining is an important element to safeguard [...] the quality and efficiency of the judicial system“ (deutscher Text: inoffizielle Übersetzung); zum Für und Wider einer richterlichen Fortbildungspflicht siehe auch: Henning/Sandherr, DRiZ 2013, 396; Dyckmans, DRiZ 2008, 149. 16 Vgl. BGH NJW 2016, 2666 Rn. 9 (in Bezug auf die Fortbildungspflicht von Fachanwälten). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/19 Seite 6 Eine Fortbildungspflicht wäre grundsätzlich geeignet, diesem Gemeinwohl zu dienen. Ein grundsätzlich milderes Mittel ist nicht ersichtlich, das gleich geeignet wäre.17 Die Angemessenheit einer Fortbildungspflicht würde von ihrer konkreten Ausgestaltung abhängen. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass eine Pflicht zur Fortbildung nicht außer Verhältnis steht zu dem angestrebten Ziel (Qualität und Effizienz der Rechtspflege). Der BGH hatte in Bezug auf die Fortbildungspflicht von Fachanwälten keine Bedenken gegen eine jährliche Fortbildung mit einer Mindestdauer von zehn Zeitstunden.18 Das BVerfG begründet seine Entscheidungen mitunter mit „internationalen Entwicklungen“.19 In diesem Zusammenhang ließe sich anführen, dass internationale Standards Fortbildung von Richtern als Pflicht ansehen.20 *** 17 Vgl. BGH NJW 2016, 2666 Rn. 9 (in Bezug auf die Fortbildungspflicht von Fachanwälten). 18 Vgl. BGH NJW 2016, 2666 Rn. 15 (in Bezug auf die Fortbildungspflicht von Fachanwälten): Lektüre von oder Publikation in Fachzeitschriften ersetzt Fortbildung nicht. 19 BVerfG, Urteil vom 4. Juli 2007 – 2 BvE 1/06, Rn. 279-280: „Transparenzregeln finden danach ihre grundsätzliche Rechtfertigung im Vorrang der Repräsentations- und Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages gegenüber dem Privatinteresse des Abgeordneten an informationeller Abschirmung seiner Tätigkeiten neben dem Mandat. Diese Gewichtung entspricht internationalen Entwicklungen“. 20 Siehe nur Europarat, Beirat europäischer Richterinnen und Richter (CCJE), Magna Carta of Judges, CCJE (2010)3 Final, Nr. 8, S. 1: „Initial and in-service training is a right and a duty for judges“ (inoffizielle Übersetzung: „Aus- und Fortbildung ist ein Recht und eine Pflicht für Richter“); Europarat, Empfehlung des Ministerrats an die Mitgliedstaaten , Judges: independence, efficiency and responsibilities, CM/Rec(2010)12, Chapter VII – Duties and responsibilities , Nr. 65: „Judges should regularly update and develop their proficiency“ (inoffizielle Übersetzung: „Richter sollten ihre Fähigkeiten regelmäßig aktualisieren und weiterentwickeln“), https://rm.coe.int/16807096c1.