© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 229/18 „Mahnwachen“ vor Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Gefragt wird nach der Anwendbarkeit des Versammlungsrechts auf solche Mahnwachen und nach Möglichkeiten der Beschränkung, insbesondere nach der Möglichkeit, „Bannmeilen“ einzurichten. Gebeten wird außerdem um eine Darstellung einschlägiger Urteile, der Erfolgsaussichten von Strafanzeigen und entsprechender Sachverhalte im Ausland. 2. Mahnwachen als Versammlungen Sogenannte Mahnwachen können Versammlungen im Sinne des Art. 8 Grundgesetz (GG) und der Versammlungsgesetze sein. 2.1. Schutzbereich der Versammlungsfreiheit Das in Art. 8 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht der Versammlungsfreiheit gewährt jedem Deutschen das Recht, Versammlungen zu veranstalten und an ihnen teilzunehmen. Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ist eröffnet, wenn mehrere Personen friedlich und ohne Waffen zusammenkommen , um einen gemeinsamen Zweck zu verfolgen. Das Bundesverfassungsgericht vertritt einen engen Versammlungsbegriff: Geeigneter Zweck soll nur die gemeinsame politische Meinungs- und Willensbildung sein.2 Das Gericht betont daher die herausragende Bedeutung des Grundrechts im demokratischen Staat des Grundgesetzes: „Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes.“3 Eine Versammlung setzt nach unterschiedlichen Auffassungen mindestens zwei4 oder mindestens drei5 Teilnehmer voraus. Der letzteren Ansicht folgte das OLG Saarbrücken, indem es einen Demonstranten freisprach, der zusammen mit einem Begleiter vor einer Beratungsstelle nach dem SchKG demonstriert hatte und erstinstanzlich wegen einer Ordnungswidrigkeit nach dem Versammlungsgesetz verurteilt worden war: „Schon der Wortsinn spricht gegen die Annahme, bereits 2 Menschen könnten eine Versammlung bilden. ‚Sich-Versammeln‘ setzt begrifflich eine Zusammenkunft mehrerer voraus. Auch 1 Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten vom 27. Juli 1992, BGBl. I S. 1398. 2 Vgl. zum „engen“ und „weiten“ Versammlungsbegriff nur Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 2017, Rn. 412. 3 BVerfGE 69, 315, 347. 4 Vgl. zu dieser heute wohl überwiegenden Auffassung nur Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 8 Rn. 24. 5 Vgl. nur Hoffmann-Riem, in: Denninger u.a. (Hrsg.), Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 8 Rn. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/18 Seite 4 die historische Entwicklung der Versammlungsfreiheit, die das Zusammentreffen mehrerer Personen sichern wollte, legt dies nahe und schließlich sprechen sachliche Gründe dafür, eine Mindestteilnehmerzahl von 3 Personen zur Erfüllung des Merkmals Versammlung zu verlangen. Die Vorschriften des Versammlungsgesetzes schränken das Grundrecht des Art. 8 GG ein mit dem Ziel, sowohl die Interessen anderer als auch die Versammlung selbst zu schützen. Vor allem soll es den zuständigen Behörden ermöglicht werden, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, daß die öffentliche Sicherheit und Ordnung gewahrt bleiben. Solche behördlichen Maßnahmen kommen aber nur in Betracht bei Zusammenkünften einer ‚größeren‘ oder ‚nicht allzu kleinen‘ Anzahl von Personen […].“6 Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit erstreckt sich auf alle versammlungsspezifischen Verhaltensweisen. Geschützt ist daher neben der Wahl der Form der Versammlung – etwa der Mahnwache7 – insbesondere auch die Wahl von Ort und Zeitpunkt.8 Demnach werden Mahnwachen, bei denen eine hinreichende Zahl von Teilnehmern gemeinsam gegen Schwangerschaftsabbrüche demonstriert, regelmäßig Versammlungen im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG sein. 2.2. Folgen der Qualifikation als Versammlung Einfachrechtlich sind das Versammlungsrecht und insbesondere Beschränkungen für Versammlungen unter freiem Himmel nach Art. 8 Abs. 2 GG in den Versammlungsgesetzen des Bundes und der Länder geregelt. Seit mit der Föderalismusreform 2006 die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Versammlungsrecht aufgehoben wurde, haben Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein vollständige eigene Versammlungsgesetze erlassen.9 Andere Länder haben das Versammlungsgesetz des Bundes mit wenigen Änderungen als Landesversammlungsgesetz übernommen oder einzelne vom Bundesrecht abweichende Teilregelungen geschaffen.10 Soweit die Länder von ihrer Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht haben, gilt nach Art. 125a Abs. 1 GG das Versammlungsgesetz des Bundes (VersG) fort. Hieran orientieren sich die folgenden Ausführungen. Für öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel gilt zwar keine Genehmigungs- aber eine Anmeldepflicht. Grundsätzlich hat der Veranstalter einer solchen Versammlung dieselbe nach § 14 VersG „spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstandes der Versammlung oder des Aufzuges anzumelden.“ 6 OLG Saarbrücken NStZ-RR 1999, 119. 7 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 8 Rn. 29, nennt unter anderem Mahnwachen. 8 BVerfGE 69, 315, 343; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 8 Rn. 31, 35. 9 Vgl. die Übersicht bei Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders (Hrsg.), Versammlungsrecht, Die Versammlungsgesetze des Bundes und der Länder, Kommentar, 2016, Einl. Rn. 8 ff. 10 Eine Synopse und Kommentierung der landesrechtlichen Vorschriften bieten zu jeder Vorschrift des Versammlungsgesetzes des Bundes Dürig-Friedl/Enders (Hrsg.), Versammlungsrecht. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/18 Seite 5 Nach § 15 Abs. 1 VersG kann die Behörde „die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.“ Der Begriff der öffentlichen Sicherheit entspricht dabei dem des allgemeinen Polizeirechts.11 Er umfasst die geschriebene Rechtsordnung , Individualrechtsgüter und die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Eine unmittelbare Gefahr für die die öffentliche Sicherheit „setzt eine Sachlage voraus, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Interessen führt […]. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde bei dem Erlass von vorbeugenden Verfügungen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen […].“12 Auslegung und Anwendung der Norm müssen auch im Übrigen im Lichte der Bedeutung der Versammlungsfreiheit erfolgen. Ein Verbot kann daher nur ultima ratio sein, aber auch Auflagen kommen nur unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit in Betracht. Das gilt auch für eine Auflage, mit der der vom Veranstalter gewählte Versammlungsort verlegt wird. So darf eine Versammlung wegen zu geringer Straßenbreite an einen hinsichtlich der Wahrnehmbarkeit gleichwertigen Ort verlegt werden, nicht aber in ein unbelebtes Gewerbegebiet.13 Neben der Wahrnehmbarkeit wird auch die symbolische Bedeutung des gewählten Ortes für das Anliegen der Versammlung zu beachten sein. Zulässig kann eine Verlegung des Ortes zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Dritter sein.14 In einem solchen Fall entschied das VG Berlin: „Die Absicht des Veranstalters, dem Regierenden Bürgermeister unmittelbar vor seiner privaten Wohnung die möglichen Folgen seiner politischen Entscheidungen zum Flughafen BBI zu verdeutlichen, begründet eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. […] Vorliegend käme es jedenfalls bei der geplanten Abschlusskundgebung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung des durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeitsrechts von Herrn Wowereit.“15 Bei den hier zu untersuchenden Mahnwachen ergeben sich Anhaltspunkte für mögliche Gefahren aus den unter 3. dargestellten Entscheidungen. 11 Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders (Hrsg.), Versammlungsrecht, § 15 Rn. 40. 12 BVerfG NVwZ 2008, 671, 672. 13 Vgl. Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders (Hrsg.), Versammlungsrecht, § 15 Rn. 100. 14 Vgl. Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders (Hrsg.), Versammlungsrecht, § 15 Rn. 100. 15 VG Berlin, Beschluss vom 21. Februar 2012, Az. 1 L 37.12, Juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/18 Seite 6 2.3. Beschränkbarkeit des Versammlungsrechts durch „Bannmeilen“ Die Einrichtung gesetzlicher „Bannmeilen“ um Beratungsstellen nach dem SchKG, innerhalb derer Versammlungen generell unzulässig sind, dürfte mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht vereinbar sein.16 Formell läge die Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern. Die Zuständigkeit für das Versammlungsrecht ging mit der Föderalismusreform auf sie über; das VersG des Bundes gilt lediglich nach Art. 125a Abs. 1 GG fort. Die Kompetenz des Bundes zur gesetzlichen Festlegung befriedeter Bezirke für seine Verfassungsorgane folgt aus der Natur der Sache; sie ist hier nicht einschlägig. Materiell kann das Recht, Versammlungen unter freiem Himmel abzuhalten, zwar durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden, Art. 8 Abs. 2 GG. Ein solches Gesetz muss aber nicht nur dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Es muss auch – wegen der engen Verknüpfung der Versammlungsfreiheit mit der Meinungsfreiheit – allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG sein.17 Zum Verhältnis der beiden Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: „Staatliche Beschränkungen des Inhalts und der Form einer Meinungsäußerung betreffen den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG. Ihre Rechtfertigung finden sie, auch wenn die Äußerung in einer oder durch eine Versammlung erfolgt, in den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG […]. Demgegenüber schützt Art. 8 Abs. 1 GG die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammenzukommen […]. Der Schutzbereich dieser Grundrechtsnorm ist betroffen, wenn eine Versammlung verboten oder aufgelöst oder die Art und Weise ihrer Durchführung durch staatliche Maßnahmen beschränkt wird. Die in den Absätzen 2 von Art. 5 und Art. 8 GG enthaltenen Schranken sind auf die jeweiligen Schutzbereiche der betroffenen Grundrechtsnorm bezogen. Der Inhalt einer Meinungsäußerung , der im Rahmen des Art. 5 GG nicht unterbunden werden darf, kann daher auch nicht zur Rechtfertigung von Maßnahmen herangezogen werden, die das Grundrecht des Art. 8 GG beschränken […]. b) Eine inhaltliche Begrenzung von Meinungsäußerungen kommt […] nur im Rahmen der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG in Betracht. Dies sind Gesetze, die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten, die vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen […].“18 Die Einrichtung von „Bannmeilen“ um Beratungsstellen der Schwangerschaftskonfliktberatung richtete sich zwar nicht ausdrücklich gegen eine bestimmte Meinung. Wegen der symbolischen Bedeutung dieser Orte träfe sie aber tatsächlich in besonderer Weise solche Grundrechtsträger, die 16 Vgl. zu einer ähnlichen Frage: Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Versammlungsverbot vor Unterbringungseinrichtungen für Asylbewerber, Sachstand vom 18. August 2015, Az. WD 3 - 3000 - 184/15. 17 Schneider, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 37. Edition 2018, Art. 8 Rn. 38. 18 BVerfGE 111, 147, 154 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/18 Seite 7 sich versammeln wollen, um gegen Schwangerschaftsabbrüche zu demonstrieren. Es erscheint daher zweifelhaft, ob es sich noch um ein allgemeines Gesetz handelte. Die Regelung müsste außerdem verhältnismäßig sein. Dabei ist zu beachten, dass Versammlungen auch in den befriedeten Bezirken für die Verfassungsorgane nicht generell verboten sind. Vielmehr handelt es sich um Verbote mit Erlaubnisvorbehalt. Nach § 3 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes19 sind Versammlungen zuzulassen, „wenn eine Beeinträchtigung der Tätigkeit des Deutschen Bundestages und seiner Fraktionen, des Bundesrates oder des Bundesverfassungsgerichts sowie ihrer Organe und Gremien und eine Behinderung des freien Zugangs zu ihren in dem befriedeten Bezirk gelegenen Gebäuden nicht zu besorgen ist.“ 3. Andere Demonstrationsformen Bisher ergangene Gerichtsentscheidungen zu Protesten vor Beratungsstellen oder vor gynäkologischen Praxen und Kliniken betrafen, soweit ersichtlich, nicht das Versammlungsrecht. Die streitgegenständlichen Demonstrationen waren keine Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG. Hier mit der Meinungsfreiheit kollidierende Rechtsgüter können zwar grundsätzlich auch der Versammlungsfreiheit gegenüberstehen. Bei der Abwägung heben die Gerichte aber in allen Fällen die Bedeutung der Umstände des Einzelfalls hervor. Die Wertungen lassen sich nicht ohne weiteres auf andere Fälle übertragen. Das VG Freiburg und der VGH Mannheim hatten 2011/2012 zunächst im einstweiligen Rechtsschutz und anschließend in der Hauptsache über sogenannte „Gehsteigberatungen“ vor einer Beratungsstelle zu entscheiden.20 Dabei erwies sich ein ordnungsbehördliches Verbot, „im gesamten Bereich der H...straße, Freiburg i.Br., Personen auf eine Schwangerschaftskonfliktsituation anzusprechen oder ihnen unaufgefordert Broschüren, Bilder oder Gegenstände zu diesem Thema zu zeigen oder zu überreichen, d.h. so genannte Gehsteigberatungen durchzuführen“, als gerechtfertigt. In dem zugrundeliegenden Fall hatte eine „Gehsteigberaterin“ Frauen vor der Beratungsstelle angesprochen ; begleitet wurde sie von „einem ‚stillen Beter‘, d.h. von einer Person, die in der Nähe still Rosenkränze betet.“ Ohne auf die Mindestteilnehmerzahl einer Versammlung einzugehen, stellt der VGH fest, dass „die Ansprache […] auf eine individuelle Kommunikation mit Einzelpersonen, nicht aber auf die für die Annahme einer Versammlung konstitutive Kommunikation vermittels einer eigens zu diesem Zweck veranlassten Gruppenbildung“ ziele.21 Der Vorgang sei außerdem dem „kommunikativen Verkehr“ zuzurechnen und daher noch vom straßenrechtlichen Gemeingebrauch gedeckt. Das behördliche Vorgehen richte sich daher nach allgemeinem Polizeirecht. Das Gericht bejaht eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit nach der polizeirechtlichen Generalklausel. Zwar könne sich der klagende christliche Verein auf die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) berufen. Dem stehe aber das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) der angesprochenen schwangeren 19 Gesetz vom 8. Dezember 2008, BGBl. I S. 2366. 20 VGH Mannheim, Urteil vom 11. Oktober 2012, Az. 1 S 36/12, Juris; weitgehend übereinstimmend bereits VG Freiburg, Beschluss vom 4. März 2011, Az. 4 K 314/11, Juris; VGH Mannheim NJW 2011, 2532. 21 VGH Mannheim, Urteil vom 11. Oktober 2012, Az. 1 S 36/12, Juris, Rn. 43. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/18 Seite 8 Frauen gegenüber. Daher sei eine Abwägung vorzunehmen, um die Grundrechte im Wege praktischer Konkordanz bestmöglich zur Geltung zu bringen. Die Ansprache mit den Worten „Sind Sie schwanger?“ betreffe nicht bloß die Sozialsphäre der angesprochenen Frauen: „Gerade das erste Drittel der Schwangerschaft […] weist eine große Nähe zur Intimsphäre auf, so dass für die Frage der Eingriffsrechtfertigung auch dann ein sehr hohes Schutzniveau für das allgemeine Persönlichkeitsrecht zugrundezulegen ist, wenn man die Schwangerschaft nicht sogar pauschal der Intimsphäre der Frau zuordnet […]. […] Die emotionalen Konflikte und persönlichen Lebensumstände, die Frauen in dieser Phase über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken lassen, berühren regelmäßig ebenfalls die Privatsphäre der Frau, unter anderem ihre Beziehung zum Vater des Kindes, ihre weitere Lebensplanung und die Beziehung zu dem in ihr wachsenden Kind. Gerade in dieser Konfliktsituation hat die schwangere Frau, die eine anerkannte Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle aufsucht, ein Recht darauf, von fremden Personen, die sie auf der Straße darauf ansprechen, in Ruhe gelassen zu werden.“22 Das Gericht betont die Bedeutung der freien Meinungsäußerung; gerade solche Meinungen, die dem gesellschaftlichen „Mainstream“ widersprächen, seien von besonderem Wert. Jedoch schütze Art. 5 GG „auch bei Themen von besonderem öffentlichen Interesse keine Tätigkeiten, mit denen Anderen eine bestimmte Meinung aufgedrängt werden soll“.23 Entscheidend sei außerdem, dass es dem Kläger nicht verwehrt sei, seine Meinung am Ort der Beratungsstelle auf andere Weise zu äußern oder „Gehsteigberatungen“ überall sonst durchzuführen. Da das Gericht eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts annimmt, lässt es offen, ob daneben auch aus einer Beeinträchtigung des gesetzlichen Beratungskonzepts eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit folgt.24 Auch in einem 2016 vom VG München entschiedenen Fall wurden potentiell schwangere Frauen auf dem Gehweg angesprochen, jedoch nicht vor einer Beratungsstelle, sondern vor einer Klinik, in der Abtreibungen durchgeführt wurden.25 Das Gericht stellte hier die Rechtswidrigkeit eines Bescheides fest, mit dem die beklagte Stadt den Beauftragten des klagenden Vereins verboten hatte „den näher gekennzeichneten öffentlichen Gehweg vor der Abtreibungsklinik während deren Öffnungszeiten zu betreten.“ Auch in diesem Fall wurde der Bescheid auf die polizeirechtliche Generalklausel gestützt. Nach Auffassung des Gerichts ist das Verbot – ausgelegt als ein Verbot jeder „Gehsteigberatung“ – jedoch nicht gerechtfertigt: „Ist der Einsatz Privater für das ungeborene Leben verfassungsrechtlich legitim, so heiligt der Zweck nicht jedes Mittel zu seiner Erreichung. Die angewandten Methoden zur Hilfe für das Ungeborene müssen im Einklang mit der Wertordnung des Grundgesetzes stehen. Hier sind die Belange der schwangeren Frau in den Blick zu nehmen. […] 22 VGH Mannheim, Urteil vom 11. Oktober 2012, Az. 1 S 36/12, Juris, Rn. 47 f. 23 VGH Mannheim, Urteil vom 11. Oktober 2012, Az. 1 S 36/12, Juris, Rn. 64, Hervorhebung hinzugefügt. 24 VGH Mannheim, Urteil vom 11. Oktober 2012, Az. 1 S 36/12, Juris, Rn. 60. 25 VG München, Urteil vom 12. Mai 2016, Az. M 22 K 15.4369, Juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/18 Seite 9 Das dargestellte sensible Beratungsmodell nimmt diese spezifische Befindlichkeit der Frau hinreichend auf und führt zu einem schonenden Ausgleich der betroffenen Interessen und grundgesetzlichen Wertvorstellungen. Ein höheres Maß an Berücksichtigung kann die Frau nicht verlangen und die Behörde nicht anordnen. Die Frau hat auf ihrem Weg zu einer Abtreibungsklinik kein Recht darauf, vor jeglicher Konfrontation mit der Thematik Abtreibung oder vor jeglicher Ansprache darauf verschont zu bleiben.“26 Ein generelles Verbot der „Gehsteigberatung“ sei nur unter besonderen Umständen denkbar, insbesondere bei wiederholten Verstößen gegen das „sensible Modell“. Solche Umstände lägen hier jedoch nicht vor.27 4. Zivilrechtliche Rechtsprechung Neben den Verwaltungsgerichten haben sich auch die ordentlichen Gerichte bereits mit Demonstrationen vor gynäkologischen Praxen oder Kliniken beschäftigt. In diesen Fällen klagten Ärzte auf Unterlassung der Demonstrationen (analog § 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch).28 Da die Grundrechte eine objektive Werteordnung bilden und von den Gerichten bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu beachten sind, stellen sich hier vergleichbare Fragen. Da die Rechtsprechung aber entscheidend auf das Persönlichkeitsrecht des Arztes und auf die Störung des Arzt-Patienten-Verhältnisses abstellt, dürften sich die meisten Wertungen nicht auf Demonstrationen vor Beratungsstellen übertragen lassen. Im Fall einer Urteilsverfassungsbeschwerde führte das Bundesverfassungsgericht jedoch ein Argument an, das sich auch in der oben dargestellten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung findet: „Allerdings ist die Erwägung, dass die Patientinnen, deren Weg in die Arztpraxis am Standort des Beschwerdeführers vorbeiführt, sich durch dessen Aktionen gleichsam einem Spießrutenlauf ausgesetzt sehen könnten, ein gewichtiger Gesichtspunkt. Vor dem Hintergrund , dass Art. 5 Abs. 1 GG zwar das Äußern von Meinungen schützt, nicht aber Tätigkeiten, mit denen anderen eine Meinung – mit nötigenden Mitteln – aufgedrängt werden soll […], erscheint es nicht ausgeschlossen, auf diesen Gesichtspunkt und die damit verbundene Einmischung in die rechtlich besonders geschützte Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patientin im Einzelfall ein verfassungsrechtlich tragfähiges Verbot von bestimmten Formen von Protestaktionen zu stützen.“29 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte über einen vergleichbaren Fall zu entscheiden.30 Der Beschwerdeführer war von deutschen Gerichten zur Unterlassung verurteilt worden, nachdem er in der Nähe einer Klinik Flugblätter verteilt hatte, auf denen er Parallelen 26 VG München, Urteil vom 12. Mai 2016, Az. M 22 K 15.4369, Juris, Rn. 39 f. 27 VG München, Urteil vom 12. Mai 2016, Az. M 22 K 15.4369, Juris, Rn. 59 f. 28 Den quasinegatorischen Unterlassungsanspruch bejaht BGH NJW 2005, 592; den Anspruch verneint LG München I, Urteil vom 25. Juli 2006, Az. 28 O 5186/06, Juris. 29 BVerfG NJW 2011, 47, 48, Hervorhebungen hinzugefügt. 30 EGMR, Urteil vom 26. November 2015, Az. 3690/10, nichtamtliche Übersetzung des BMJV bei Juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/18 Seite 10 zwischen Schwangerschaftsabbrüchen und der „Ermordung der Menschen in Auschwitz“ gezogen hatte. Der EGMR sieht in der Verurteilung zur Unterlassung eine Verletzung der Meinungsfreiheit. 5. Strafrechtliche Beurteilung Ob in dem Verhalten von Demonstranten gegenüber Dritten eine strafbare Nötigung liegt, ist Frage des Einzelfalls. Nach § 240 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) macht sich strafbar, wer „einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt“. Die Tat ist nach Abs. 2 rechtswidrig, „wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“ Vorliegend käme es insbesondere auf das Tatmittel der Gewalt und auf die Verwerflichkeit (sogenannte Zweck-Mittel-Relation) an. Gerade im Zusammenhang mit Versammlungen kommt der verfassungskonformen Auslegung dieser Merkmale eine besondere Bedeutung zu.31 Das Bundesverfassungsgericht geht generell davon aus, dass eine bloß psychische Zwangswirkung für die Annahme von Gewalt nicht ausreiche.32 Im Zusammenhang mit Versammlungen weist es darauf hin, dass mit der Ausübung des Grundrechts häufig gewisse nötigende Wirkungen verbunden seien. „Derartige Behinderungen Dritter und Zwangswirkungen sind durch Art. 8 GG gerechtfertigt, soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden sind […].“33 Das bloße Versperren des Weges führt nicht ohne weiteres zur Strafbarkeit: „Der Einsatz des Mittels der Beeinträchtigung dieser Interessen ist zu dem angestrebten Versammlungszweck bewertend in Beziehung zu setzen, um zu klären, ob eine Strafsanktion zum Schutz der kollidierenden Rechtsgüter angemessen ist. Insofern werden die näheren Umstände der Demonstration für die Verwerflichkeitsprüfung bedeutsam […]. In diesem Rahmen sind insbesondere auch Art und Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige Abwägungselemente sind unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand […]. Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände ist mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass dem Gericht eine Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und wertvoll einschätzt oder es missbilligt.“34 6. Beschränkungen von Demonstrationen vor Kliniken im Ausland Soweit danach gefragt wird, wie in anderen Staaten Demonstrationen vor Beratungsstellen oder Kliniken beschränkt werden, wird nur beispielhaft auf einige neuere Presseberichte hingewiesen. 31 Vgl. nur Eser/Eisele, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2014, § 240 Rn. 5, 16; Lackner/Kühl, in: Lackner/Kühl (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2018, § 240 Rn. 2, 8. 32 BVerfGE 104, 92, 101 f. 33 BVerfGE 104, 92, 108. 34 BVerfGE 104, 92, 111 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 229/18 Seite 11 Der Londoner Bezirk Ealing beschloss im April 2018 eine „Bannmeile“ („safe zone“) um eine Klinik.35 Verboten sind Versammlungen im Umkreis von 100 Metern. Auch in der kanadischen Provinz Ontario verbietet ein Gesetz („Safe Access to Abortion Services Act“) seit Anfang des Jahres 2018 Versammlungen im Umkreis von 50 oder 150 Metern um Abtreibungskliniken.36 Das Gesetz soll mit der Redefreiheit („freedom of speech“) nach kanadischem Recht vereinbar sein.37 *** 35 Baynes, Council becomes first in UK to ban protests outside abortion clinic, Ealing to introduce 'safe zone' to shield women from harassment and intimidation, The Independent vom 10. April 2018, abrufbar unter https://www.independent.co.uk/news/uk/home-news/ealing-council-abortion-clinic-ban-protests-marie-stopeslondon -labour-party-a8298621.html, alle Internet-Quellen abgerufen am 2. Juli 2018; vgl. auch: Protests banned outside abortion clinic in landmark vote by London council, The Telegraph vom 10. April 2018, abrufbar unter https://www.telegraph.co.uk/news/2018/04/10/protests-banned-outside-abortion-clinic-landmark-vote-london/. 36 Safe zones around abortion clinics now in place, CBC News vom 1. Februar 2018, abrufbar unter https://www.cbc.ca/news/canada/ottawa/ottawa-abortion-clinic-safe-zone-police-1.4510607. 37 Drimonis, Safe zones outside abortion clinics are not a violation of free speech, Canadas National Observer vom 6. Februar 2018, abrufbar unter https://www.nationalobserver.com/2018/02/06/opinion/safe-zones-outsideabortion -clinics-are-not-violation-free-speech.