© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 227/19 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Kopftuchverbots für Schülerinnen Aktualisierung von WD 3 - 3000 - 277/16 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 2 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Kopftuchverbots für Schülerinnen Aktualisierung von WD 3 - 3000 - 277/16 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 227/19 Abschluss der Arbeit: 17. Oktober 2019 (zugleich letzter Zugriff auf die Internetquellen) Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Arten der Verschleierung 4 3. Gesetzgebungskompetenz für ein Kopftuchverbot für Schülerinnen und bestehende Verbote 4 4. Vereinbarkeit eines Kopftuchverbots für Schülerinnen mit dem Grundgesetz 5 4.1. Schutzbereich der Religionsfreiheit, Art. 4 GG 6 4.1.1. Tragen eines Kopftuchs 6 4.1.2. Tragen eines Kopftuchs im vorpubertären Alter 7 4.2. Schutzbereich des religiösen Erziehungsrechts der Eltern, Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. Art. 4 GG 9 4.3. Eingriff in den Schutzbereich 9 4.4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs 10 4.4.1. Keine Beschränkung speziell der islamischen Bekenntnis- und Verkündungsfreiheit 10 4.4.2. Kollidierende Grundrechte oder andere Verfassungsgüter 10 4.4.3. Staatliches Bestimmungsrecht über das Schulwesen, Art. 7 Abs. 1 GG 11 4.4.3.1. Befugnis des Staates zur Unterrichtsgestaltung 11 4.4.3.1.1. Tragen eines Kopftuchs 12 4.4.3.1.2. Verschleierung des Gesichts 13 4.4.3.2. Verstoß gegen Erziehungsziele 15 4.4.3.3. Erhaltung des Schulfriedens 17 4.4.4. Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität des Staates 18 4.4.5. Negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Mitschüler und Elternrecht 20 5. Fazit 21 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 4 1. Fragestellung Die Arbeit aktualisiert die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Religionsfreiheit und Schule – Wäre ein Kopftuchverbot für Schülerinnen rechtlich zulässig?, WD 3 - 3000 - 277/16. Die Ausarbeitung hat sich bereits 2017 mit der Frage befasst, ob Schülerinnen muslimischen Glaubens das Tragen eines Kopftuchs oder weitergehender Formen der Verschleierung (Niqab oder Burka) untersagt werden könnte. Die Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen und die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung in Bezug auf religiös motivierte Anträge auf Unterrichtsbefreiung . Zu beachten ist, dass die Ausführungen sich auf die Rechtslage in öffentlichen Schulen beschränken.1 Mit der Aktualisierung wurde die Ausarbeitung erweitert und auf zusätzliche Quellen aus der juristischen Literatur Bezug genommen. 2. Arten der Verschleierung Der Islam sieht zahlreiche verschiedene Formen der Verschleierung vor.2 Ungeachtet der weiteren Differenzierungen werden vorliegend folgende Begriffsbestimmungen zugrunde gelegt: Das Kopftuch bedeckt die Haare und in der Regel den Hals und lässt das Gesicht frei; diese Form wird häufig auch als Hidschab bezeichnet.3 Ein Niqab ist ein kopfbedeckender Gesichtsschleier mit schmalen Augenschlitzen.4 Bei der Burka handelt es sich um einen den ganzen Körper bedeckenden Umhang mit einem Einsatz aus Netzgewebe vor den Augen.5 Im Folgenden werden die verschiedenen Arten der Verschleierung grundsätzlich unter dem Begriff „Kopftuch“ zusammengefasst. Eine Differenzierung erfolgt nur, soweit es rechtlich erforderlich ist. 3. Gesetzgebungskompetenz für ein Kopftuchverbot für Schülerinnen und bestehende Verbote Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichten Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung wesentlichen Regelungen selbst zu treffen.6 Der Grundsatz des Parlamentsvorbehalts bedinge die verfassungsrechtliche Notwendigkeit eines Gesetzes. Insbesondere im Schulwesen verpflichte das Grundgesetz den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu 1 Zur Rechtslage in Bezug auf Privatschulen siehe Jäschke/Müller, Kopftuchverbote gegenüber Schülerinnen an öffentlichen und privaten Schulen, in: DÖV 2018, 279 (280 ff.). 2 Harenberg-Lexikon der Religionen, 2002, 543. 3 Deutsche Welle, Hidschab, Tschador, Burka – den einen Schleier gibt es nicht, 22. August 2016, http://www.dw.com/de/hidschab-tschador-burka-den-einen-schleier-gibt-es-nicht/a-19492920. 4 Brockhaus online, Stichwort „Niqab“. 5 Brockhaus online, Stichwort „Burka“. 6 BVerfGE 108, 282 (311 f.) m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 5 überlassen.7 Ein Kopftuchverbot für Schülerinnen bedürfe folglich einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Die Gesetzgebungskompetenz für das Schulwesen liegt mangels anderweitiger Zuweisung gemäß Art. 70 Abs. 1 GG bei den Ländern.8 Den Ländern stehen damit umfassende legislative Befugnisse im Bereich der Schulorganisation sowie bei der Festsetzung und Ausgestaltung von Unterrichtsinhalten und Erziehungszielen zu.9 Dies umfasst nicht nur eine grundsätzliche Gestaltungsfreiheit in Bezug auf die weltanschaulich-religiöse Ausprägung von Schulen,10 sondern auch auf die Wahrung des religiösen Friedens in der Schule.11 Ein Verbot religiös konnotierter Kleidung für Schüler könnte daher ausschließlich von den Ländern erlassen werden.12 Bayern und Niedersachsen haben in ihren Schulgesetzen bereits Regelungen eingefügt, die sich auf die Vollverschleierung beziehen.13 § 56 Abs. 4 S. 2 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) besagt, dass Schüler ihr Gesicht nicht verhüllen dürfen, es sei denn, dass schulbedingte Gründe dies erfordern. Schulleiter dürfen zur Vermeidung einer unbilligen Härte allerdings Ausnahmen zulassen. § 58 Abs. 2 S. 2 Niedersächsisches Schulgesetz (NSchG) gibt vor, dass Schüler „durch ihr Verhalten oder ihre Kleidung die Kommunikation mit den Beteiligten des Schullebens nicht in besonderer Weise erschweren“ dürfen. Dies gilt nicht, wenn einzelne Tätigkeiten oder besondere gesundheitliche Gründe eine Ausnahme erfordern. In anderen Bundesländern werden solche Regelungen derzeit diskutiert.14 4. Vereinbarkeit eines Kopftuchverbots für Schülerinnen mit dem Grundgesetz Fraglich ist, ob Schülerinnen das Tragen eines Kopftuchs in der Schule generell untersagt werden könnte. Ein solches Verbot könnte insbesondere das Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art. 4 GG 7 BVerfGE 108, 282 (312). 8 BVerfGE 6, 309 (354 f.); Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, 87. EL März 2019, Art. 70 Rn. 115. 9 BVerfGE 52, 223 (236); Thiel, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 7 Rn. 1. 10 BVerfGE 41, 29 (45); 108, 282 (302). 11 BVerwG, NVwZ 2012, 162 (166); Badura, in: Maunz/Dürig, GG, 87. EL März 2019, Art. 7 Rn. 40. 12 Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, 159; zur Gesetzgebungskompetenz der Länder für ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen siehe BVerfGE 108, 282 (310). 13 Zum Teil wird vertreten, dass § 69 Abs. 4 S. 2 des hessischen Schulgesetzes (HSchG) ebenfalls eine geeignete Ermächtigungsgrundlage für ein Kopftuchverbot wäre, siehe Westermann, Das Vollverschleierungsverbot für Schülerinnen in der rechtlichen Diskussion, 2019, 22. Die Regelung lautet: „Sie [die Schüler] haben die Weisungen der Lehrkräfte und des Personals, das Betreuungsangebote oder ganztägige Angebote durchführt, zu befolgen, die dazu bestimmt sind, das Bildungs- und Erziehungsziel der Schule zu erreichen und die Ordnung in der Schule aufrechtzuerhalten“. 14 Siehe für Beispiele Westermann, Das Vollverschleierungsverbot für Schülerinnen in der rechtlichen Diskussion, 2019, 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 6 sowie das religiöse Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 4 GG verletzen. 4.1. Schutzbereich der Religionsfreiheit, Art. 4 GG Gemäß Art. 4 Abs. 1 GG sind die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich. Art. 4 Abs. 2 GG gewährleistet die ungestörte Religionsausübung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten beide Absätze von Art. 4 GG ein einheitliches umfassend zu verstehendes Grundrecht.15 Dieses erstreckt sich nicht nur auf die innere Glaubensfreiheit, sondern auch auf die äußere Freiheit , den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Neben kultischen Handlungen und der Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche sind damit Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens umfasst.16 Auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten, gehört dazu.17 Gleichfalls wird das Tragen bestimmter, den Grundsätzen einer Religionsgemeinschaft entsprechender Kleidung von Art. 4 GG geschützt.18 4.1.1. Tragen eines Kopftuchs Das Tragen eines Kopftuchs wird insbesondere auf zwei Stellen im Koran (Sure 24, Vers 31 und Sure 33, Vers 59) zurückgeführt und ist im Islam weit verbreitet.19 Eine Verpflichtung von Frauen zum Tragen eines Kopftuchs in der Öffentlichkeit lässt sich demnach als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinreichend plausibel zuordnen.20 Nicht maßgebend ist, dass der genaue Inhalt der Bekleidungsvorschriften des Korans unter den verschiedenen Glaubensrichtungen des Islams umstritten ist.21 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es vielmehr ausreichend, dass diese Betrachtung unter den verschiedenen Richtungen des Islams verbreitet ist. Teilweise werde ein Bedeckungsgebot im Islam auch als unbedingte Pflicht eingeordnet.22 Daher komme es nicht darauf an, dass andere Richtungen des Islam ein als verpflichtend geltendes Bedeckungsgebot für Frauen nicht vorsähen.23 Wie weit der Umfang der Verschleierung reicht, ist von Land zu Land unterschiedlich und hängt auch 15 BVerfGE 138, 296 (328 f.) m.w.N.; BVerfG, NJW 2017, 381 (383) m.w.N. 16 BVerfGE 138, 296 (329); BVerfG, NJW 2017, 381 (383). 17 BVerfGE 108, 282 (297); BVerfG, NJW 2017, 381 (383). 18 Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 38; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 60. 19 BVerfGE 138, 296 (330). 20 BVerfGE 138, 296 (330); 108, 282 (299); BVerfG, NJW 2017, 381 (383). 21 BVerfGE 108, 282 (298 f.); 138, 296 (330); BVerfG, NJW 2017, 381 (383). 22 BVerfGE 138, 296 (330). 23 BVerfGE 108, 282 (299); 138, 296 (330). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 7 von der Frömmigkeit und dem Grad der konservativen Ausrichtung ab.24 Empfindet eine Muslimin vor diesem Hintergrund die Vollverschleierung in Form eines Niqab oder einer Burka als verbindliches Gebot, fällt dieses Verhalten ebenfalls grundsätzlich in den Schutzbereich der Religionsfreiheit gemäß Art. 4 GG.25 4.1.2. Tragen eines Kopftuchs im vorpubertären Alter Fraglich ist, ab welchem Alter einer Schülerin das Tragen eines Kopftuchs von Art. 4 GG geschützt ist. Grundsätzlich steht auch Kindern das Recht auf Religionsfreiheit zu. Sie sind allerdings in der Ausübung der Religionsfreiheit durch das elterliche Erziehungsrecht eingeschränkt.26 Mit Vollendung des 14. Lebensjahres erreichen Kinder nach § 5 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung (KErzG) die Religionsmündigkeit, also die Fähigkeit, über die eigene Religion selbst zu entscheiden. Bis zum Erreichen der Religionsmündigkeit werden Kinder nach herrschender Meinung im Rahmen der elterlichen Sorge gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 GG in religiösen Fragen von ihren Eltern vertreten.27 Von der Frage der Religionsmündigkeit abzugrenzen ist die Frage, ob das Tragen eines Kopftuchs bei Grundschülerinnen im vorpubertären Alter überhaupt in den Schutzbereich von Art. 4 GG fällt. Nach ganz überwiegender islamischer Ansicht gilt ein Verschleierungsgebot vor Eintritt der Pubertät als religiös nicht geboten.28 Bei der Bestimmung dessen, was als Religionsausübung zu betrachten ist, ist aber auch das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religionsgemeinschaft und des einzelnen Grundrechtsträgers zu berücksichtigen.29 Zwar bedeutet dies nicht, dass jedes Verhalten einer Person allein aufgrund deren subjektiver Würdigung als Ausdruck der Glaubensfreiheit angesehen werden muss. Vielmehr dürfen die staatlichen Organe, letztlich die Gerichte, prüfen und auch entscheiden, ob hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass sich das infrage 24 Harenberg-Lexikon der Religionen, 2002, 542 f. 25 Bayerischer VGH, NVwZ 2014, 1109 (1109). 26 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 106. 27 Vgl. BVerfGE 30, 415 (424); OVG Bremen, NVwZ-RR 2012, 842 (842); Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 8; Germann, in: BeckOK GG, 41. Edition 15. Mai 2019, Art. 4 Rn. 27; Mager, in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 4 Rn. 20. Dagegen Nettesheim, Grundgesetz und Verbot eines „Kinderkopftuchs“ – Zur Diskussion über Kopftuchverbote für Schülerinnen, 2019, 27 f., der annimmt, dass Kinder, die noch nicht die Reife für die eigene Wahrnehmung der Religionsfreiheit haben, nicht von ihren Eltern vertreten werden können. Er geht in der Folge davon aus, dass eine Schwelle der Grundrechtswahrnehmungsfähigkeit bestehe, unterhalb derer der Schutzbereich der Religionsfreiheit gar nicht erst eröffnet sei. 28 OVG Bremen, NVwZ-RR 2012, 842 (843); Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, 9 (9 Fn. 8) m.w.N.; Deutsche Islamkonferenz, Religiös begründete schulpraktische Fragen - Handreichung für Schule und Elternhaus, 2009, 4, abrufbar unter http://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen /DIK/DE/Downloads/LenkungsausschussPlenum/2008-anhang-zwischenresumee-schulpraktische-fragen .pdf?__blob=publicationFile. 29 BVerfGE 24, 236 (247 f.); 108, 282 (298 f.); 138, 296 (329); BVerfG, NJW 2017, 381 (383). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 8 stehende Verhalten tatsächlich in plausibler Weise dem Schutzbereich der Religionsfreiheit zuordnen lässt.30 Den staatlichen Organen kommt dabei jedoch keine freie Bestimmungsmacht zu, sondern sie haben den vom Grundgesetz gemeinten und nach Sinn und Zweck verfassungsrechtlich verbürgten Begriff der Religion zugrunde zu legen.31 Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Islam keine monokratische Instanz existiert, welche die Lehre für die Religionsgemeinschaft allgemeinverbindlich festlegen dürfte. Vielmehr ist der Islam in seinem Erscheinungsbild durch eine Vielzahl unterschiedlicher Ansichten zur Existenz von Glaubensvorschriften geprägt.32 Dementsprechend sind Bezugspunkte für eine Prüfung nicht notwendig der Islam insgesamt oder bestimmte Glaubensrichtungen dieser Religion. Die Frage nach der Existenz zwingender Vorschriften ist vielmehr für die konkrete, gegebenenfalls innerhalb einer solchen Glaubensrichtung bestehende Religionsgemeinschaft zu beantworten.33 Zudem ist zu beachten, dass auch solche Ansichten von einzelnen Angehörigen einer Religionsgemeinschaft durch Art. 4 GG geschützt sein können, die von der Mehrheitsmeinung abweichen.34 Dem Staat ist es verwehrt, die Glaubensüberzeugungen der Bürger zu bewerten oder als „richtig“ oder „falsch“ zu beurteilen. Das gilt insbesondere dann, wenn dazu unterschiedliche Ansichten innerhalb einer Religionsgemeinschaft vertreten werden.35 Für die Eröffnung des Schutzbereichs ist daher insbesondere auf das Glaubensverständnis des Einzelnen abzustellen.36 Dem Grundrechtsträger obliegt jedoch die Darlegungslast, dass es sich um ein für ihn verbindliches Glaubensgebot handelt, von dem er nicht ohne Not absehen kann.37 Er hat konkrete, substantiierte und objektiv nachprüfbare Tatsachen vorzutragen, aus denen sich die Ernsthaftigkeit des Gewissenkonfliktes infolge des Zwanges, den eigenen Glaubensüberzeugungen zuwiderzuhandeln, ergibt.38 30 BVerfGE 24, 236 (247 f.); 83, 341 (353); 104, 337 (354 f.); 108, 282 (298 f.); 138, 296 (329); BVerfG, NJW 2017, 381 (383). 31 BVerfGE 83, 241 (353). 32 Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, 9 (9) m.w.N.; Janz/Rademacher, Islam und Religionsfreiheit – Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates auf dem Prüfstand, in: NVwZ 1999, 706 (710) m.w.N. 33 BVerfGE 104, 337 (254). 34 Hecker, Renaissance der Kopftuchdebatte – Kopftuch bei Kindern, in: ZRP 2019, 151 (152 f.). 35 BVerfGE 24, 236 (247 f.); 83, 341 (353); 104, 337 (354 f.); 108, 282 (298 f.); 138, 296 (329). 36 Westermann, Das Vollverschleierungsverbot für Schülerinnen in der rechtlichen Diskussion, 2019, 4 m.w.N. Siehe auch Jäschke/Müller, Kopftuchverbote gegenüber Schülerinnen an öffentlichen und privaten Schulen, DÖV 2018, 279 (279): „Maßgeblich ist, ob die Trägerin selbst das Tragen eines Kopftuchs als religiös verpflichtend für sich einstuft.“ 37 Westermann, Das Vollverschleierungsverbot für Schülerinnen in der rechtlichen Diskussion, 2019, 4 m.w.N. 38 BVerwG, NVwZ 1994, 578 (579); OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25. Februar 2011, 19 A 1482/09, juris Rn. 27 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 9 Folglich ist es letztlich nicht ausgeschlossen, dass die Ansicht, dass die islamischen Bekleidungsvorschriften auch für Mädchen vor Erreichen der Pubertät gelten, der Glaubensfreiheit im Einzelfall hinreichend plausibel zugeordnet werden kann. Die Rechtsprechung hat sich in den vergangenen Jahren insbesondere im Rahmen von Entscheidungen über religiös motivierte Befreiungsanträge für Grundschülerinnen vom koedukativen Schwimmunterricht mit dieser Thematik befasst.39 4.2. Schutzbereich des religiösen Erziehungsrechts der Eltern, Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. Art. 4 GG Auch das religiöse Erziehungsrecht der Eltern könnte von einem Kopftuchverbot für Schülerinnen betroffen sein. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG garantiert Eltern das Recht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder und umfasst in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Es ist danach Sache der Eltern, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln.40 Sie haben das Recht, in einem umfassenden Sinn auf eine alltägliche Lebensführung im Einklang mit den von den Eltern für verbindlich erachteten Glaubensgeboten hinzuwirken.41 Dementsprechend fällt das Tragen eines Kopftuchs des Kindes in den Schutzbereich des religiösen Erziehungsrechts der Eltern gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 4 GG. Der Eintritt der Religionsmündigkeit mit der Vollendung des 14. Lebensjahrs sorgt nicht dafür, dass das religiöse Erziehungsrecht der Eltern entfällt. Vielmehr wird die Religionsmündigkeit bis zum Eintritt der Volljährigkeit vom Erziehungsrecht überlagert.42 Das Elternrecht ist allerdings entsprechend der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes zeitlich abgestuft. Es verliert also mit zunehmender Eigenverantwortlichkeit des Kindes an Bedeutung.43 4.3. Eingriff in den Schutzbereich Sofern das Tragen eines Kopftuchs beziehungsweise eines Niqab oder einer Burka in der Öffentlichkeit , also auch im Schulunterricht, aus religiösen Gründen als verpflichtend empfunden wird, stellt ein Verbot einen Eingriff in die Religionsfreiheit der Schülerin bzw. des religiösen Erziehungsrechts der Eltern dar.44 39 OVG Bremen, NVwZ-RR 2012, 842 (843) – bejaht für achteinhalbjähriges Mädchen; VG Augsburg, Beschluss vom 17. Dezember 2008, Au 3 E 08.1613, juris Rn. 25 f. – verneint für achtjähriges Mädchen; VG Düsseldorf, Urteil vom 30. Mai 2005, 18 K 74/05, juris Rn. 27 – verneint für zehnjährigen Jungen; VG Hamburg, Beschluss vom 14. April 2005, 11 E 1044/05, juris Rn. 15 – eher verneint für neunjähriges Mädchen. 40 BVerfGE 138. 296 (337); 108, 282 (301). 41 BVerwG, NVwZ 2014, 237 (240). 42 Vgl. BVerwGE 15, 134 (138 f.); 68, 16 (18 f.); Badura, in: Maunz/Dürig, GG, 87. EL März 2019, Art. 7 Rn. 84. 43 Büscher/Glasmacher, Schule und Religion, in: JuS 2015, 513 (516). 44 Vgl. BVerfG, NJW 2017, 381 (383). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 10 4.4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs Fraglich ist, ob der Eingriff in die Religionsfreiheit bzw. das religiöse Erziehungsrecht der Eltern verfassungsrechtlich gerechtfertigt wäre. 4.4.1. Keine Beschränkung speziell der islamischen Bekenntnis- und Verkündungsfreiheit Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus der Religionsfreiheit der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den verschiedenen Religionen und Bekenntnissen.45 Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben , könne die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er in Glaubensfragen Neutralität bewahre.46 Zudem sind nach dem Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 GG Benachteiligungen wegen des Glaubens und wegen religiöser Anschauungen verboten. Ein Gesetz, dass sich ausschließlich gegen das Tragen islamisch geprägter Bekleidung in der Schule richtet, wäre aus diesen Gründen nicht zulässig.47 Ein Verbot müsste folglich sämtliche religiösen Bekundungen umfassen. 4.4.2. Kollidierende Grundrechte oder andere Verfassungsgüter Das Grundgesetz sieht weder bei der Religionsfreiheit noch beim Erziehungsrecht der Eltern eine Einschränkung vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich Einschränkungen der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit aus der Verfassung selbst ergeben.48 Verfassungsimmanente Grenzen der Religionsfreiheit sind nur die Grundrechte Dritter und andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang, deren Beachtung dem Staat aufgegeben ist.49 Einschränkungen eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts dürfen nicht formelhaft mit allgemeinen Zielen wie etwa dem „Schutz der Verfassung“ gerechtfertigt werden.50 Vielmehr müssen anhand einzelner Grundrechtsbestimmungen diejenigen verfassungsrechtlich geschützten Güter herausgearbeitet werden, die mit dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht kollidieren.51 Im Falle der Kollision ist zwischen den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten und den entgegenstehenden Grundrechten oder Verfassungsgütern im Wege der Abwägung und mit dem Ziel der Herstellung der „praktischen Konkordanz“ ein angemessener Ausgleich herbeizuführen.52 Dabei 45 BVerfGE 91, 1 (16). 46 BVerfGE 93, 1 (16). 47 Vgl. Nettesheim, Grundgesetz und Verbot eines „Kinderkopftuchs“ – Zur Diskussion über Kopftuchverbote für Schülerinnen, 2019, 38. 48 BVerfGE 108, 282 (297); BVerfG, NVwZ 2008, 72 (73). 49 BVerfGE 108, 282 (297). 50 BVerfGE 81, 278 (293). 51 BVerfGE 81, 278 (293). 52 BVerfGE 28, 243 (61); 41, 29 (50 f.); 52, 223 (246 f., 251); 93, 1 (21). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 11 darf nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet werden, sondern alle sollen einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren.53 Erforderlich ist somit ein kollidierendes Grundrecht oder ein anderes Rechtsgut mit Verfassungsrang. 4.4.3. Staatliches Bestimmungsrecht über das Schulwesen, Art. 7 Abs. 1 GG Ein solches Rechtsgut mit Verfassungsrang könnte das staatliche Bestimmungsrecht über das Schulwesen nach Art. 7 Abs. 1 GG sein. Die Vorschrift begründet nicht nur Aufsichtsrechte des Staates im technischen Sinne, sondern darüber hinaus einen umfassend zu verstehenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag.54 Aus Art. 7 Abs. 1 GG werden verschiedene Rechte und Pflichten des Staates abgeleitet. 4.4.3.1. Befugnis des Staates zur Unterrichtsgestaltung Zum staatlichen Gestaltungsbereich gehören nicht nur die Befugnis zur organisatorischen Gliederung der Schule, sondern auch die inhaltlich-didaktische Ausgestaltung des Schulwesens sowie die Festlegung der Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele und -modalitäten.55 Die Eigenständigkeit der staatlichen Wirkungsbefugnisse, so das Bundesverwaltungsgericht, bezieht ihre Legitimation aus der Bedeutung der Schule für die Entfaltung der Lebenschancen der nachwachsenden Generationen und für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Schule soll allen jungen Bürgern ihren Fähigkeiten entsprechende Bildungsmöglichkeiten gewährleisten und einen Grundstein für ihre selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben legen. Zugleich ist es ihre Aufgabe, in einer pluralistisch und individualistisch geprägten Gesellschaft dazu beizutragen, die Einzelnen zu verantwortungsvollen „Bürgern“ heranzubilden und hierüber eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion zu erfüllen.56 Der Staat kann daher in der Schule grundsätzlich unabhängig von den Wünschen und Vorstellungen der Eltern eigene Ziele verfolgen.57 Müsste die Schul- und Unterrichtsgestaltung an den Vorstellungen der Beteiligten ausrichtet werden, wäre die Schule durch kollidierende Erziehungsansprüche einzelner und grundrechtliche Vetopositionen vielfach blockiert. Die verfassungsrechtlich anerkannte Bildungs- und Integrationsfunktion der Schule würde nur unvollkommen Wirksamkeit erhalten.58 Hinsichtlich der Frage, ob das Tragen eines Kopftuchs im Unterricht mit den staatlichen Bildungsund Erziehungsauftrag kollidiert, ist zwischen dem einfachen Kopftuch, das das Gesicht frei lässt, und einer Verschleierung des Gesichts, wie beim Niqab oder der Burka, zu unterscheiden. 53 BVerfGE 93, 1 (21). 54 BVerfGE 93, 1 (21). 55 BVerfGE 93, 1 (21); BVerwG, NVwZ 2014, 81 (81). 56 BVerwG, NVwZ 2014, 81 (82). 57 BVerfGE 93, 1 (21); BVerfG, NVwZ 2008, 72 (73); BVerwG, NVwZ 1994, 578 (578). 58 BVerwG, NVwZ 2014, 81 (82); BVerwG, NJW 2014, 804 (806). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 12 4.4.3.1.1. Tragen eines Kopftuchs Grundsätzlich dürfte ein Kopftuch, das das Gesicht frei lässt, eine Schülerin nicht daran hindern, am allgemeinen Unterrichtsgeschehen teilzunehmen. Es schränkt nicht die Kommunikationsmöglichkeiten ein und dürfte sich auch sonst nicht störend auswirken. Folglich ließe sich ein generelles Kopftuchverbot für Schülerinnen wohl nicht mit dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag gemäß Art. 7 Abs. 1 GG rechtfertigen.59 Auch das Alter der Schülerin oder die Frage, ob diese eine Grund- oder Oberschule besucht, dürfte diesbezüglich unerheblich sein. Zwar hat die Rechtsprechung bei der Abwägung zwischen dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag und der Glaubensfreiheit bzw. dem religiösen Erziehungsrecht die widerstreitenden Verfassungspositionen zum Teil abhängig vom Alter der Schülerin unterschiedlich gewichtet. Das OVG Bremen hat etwa ausgeführt, dass der Gesetzgeber in § 5 KErzG die Religionsmündigkeit auf die Vollendung des 14. Lebensjahres beziehe und damit davon ausgehe , dass Kinder ab diesem Alter grundsätzlich in der Lage seien, sittliche Wertentscheidungen zu verstehen und für sich zu treffen.60 Das Gericht hat daraus geschlussfolgert, dass deutlich jüngeren Kindern die religiöse Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit fehle, durch die Teilnahme am koedukativen Sportunterricht in einen Gewissenskonflikt zu stürzen. Beeinträchtigt das Kopftuch jedoch die Teilnahme am Unterricht nicht, bedarf es einer solchen unterschiedlichen Gewichtung wohl nicht. Anders könnte die Beurteilung jedoch hinsichtlich der Teilnahme am Schwimm- und Sportunterricht ausfallen, wo ein Kopftuch die Schülerin an der ordnungsgemäßen Teilnahme hindern könnte. Insoweit wäre eine Kollision zwischen Religionsfreiheit und religiösem Erziehungsrecht der Eltern einerseits und dem staatlichen Bestimmungsrecht im Schulwesen andererseits denkbar, die nach dem oben unter 4.4.2 beschriebenen Grundsatz der praktischen Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden müsste. Danach ist beim Auftreten eines konkreten Konflikts zunächst auszuloten, ob eine nach allen Seiten hin annehmbare, kompromisshafte Konfliktentschärfung im Bereich des Möglichen liegt, die allen Positionen Wirksamkeit verschafft und so eine Vorrangentscheidung verzichtbar erscheinen lässt.61 Nach der Rechtsprechung könnte hier ein Ausgleich zwischen den Verfassungsgütern dahingehend erreicht werden, dass die Schülerinnen islamgerechte Sportkleidung , etwa im Schwimmunterricht einen Burkini, trügen.62 Verweigere sich ein Beteiligter einer solchen Konfliktentschärfung und schlage annehmbare Ausweichmöglichkeiten aus, müsse er es 59 So auch Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 112; Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 69; Germann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 41. Edition Stand: 15. Mai 2019, Art. 4, Rn. 51.4.; Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, 9 (10); Rohe, Muslime in der Schule, in: BayVBl. 2010, 257 (263); Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 169. 60 OVG Bremen, NVwZ-RR 2012, 842 (843). 61 BVerwG, NVwZ 2014, 81 (83). 62 Vgl. BVerfG, NVwZ 2017, 227 (228); BVerwG, NVwZ 2014, 81 (83). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 13 notfalls als Konsequenz hinnehmen, dass er sich nicht auf einen Vorrang seiner Rechtsposition berufen dürfe.63 4.4.3.1.2. Verschleierung des Gesichts Anders könnte die Möglichkeit einer Kollision mit dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag bei einer Verschleierung des Gesichts zu beurteilen sein. In einer Entscheidung zur Unterrichtsteilnahme einer Schülerin mit einem gesichtsverhüllenden Schleier hat der Bayerische VGH ausgeführt, dass der Staat im Rahmen seines Bildungs- und Erziehungsauftrags die Form offener Kommunikation zu seiner Unterrichtsmethode bestimmen dürfe. Diese gelte als effizienter als ein einseitiger Unterrichtsvortrag der Lehrkraft und biete die Möglichkeit , individuell auf einzelne Schüler oder auf die Klasse einzugehen.64 Die offene Kommunikation beruhe nicht nur auf dem gesprochenen Wort, sondern sei auch auf nonverbale Elemente wie Mimik, Gestik oder Körpersprache angewiesen, die zum großen Teil unbewusst ausgedrückt und wahrgenommen würden. Da bei einer gesichtsverhüllenden Verschleierung einer Schülerin eine nonverbale Kommunikation im Wesentlichen unterbunden werde, sei die offene Kommunikation im Rahmen der Unterrichtsgestaltung nicht möglich und laufe folglich dem fachlichen Konzept zuwider. Sofern eine Schülerin unter Berufung auf Art. 4 GG ihr Gesicht verschleiert, stehen Religionsfreiheit sowie gegebenenfalls das religiöse Erziehungsrecht der Eltern folglich in Konflikt und müssten wiederum nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz (siehe oben unter 4.4.2) in Ausgleich gebracht werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in seinen jüngsten Entscheidungen zur Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen eingehend mit dem Abwägungsprozess bei einer Kollision zwischen der Glaubensfreiheit der Schüler beziehungsweise dem religiösem Erziehungsrecht der Eltern und dem staatlichen Bestimmungsrecht im Schulwesen befasst.65 Demnach seien Beeinträchtigungen der Glaubensfreiheit zunächst regelmäßig als „typische Begleiterscheinung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags und der seiner Umsetzung dienenden Schulpflicht hinzunehmen“. Nur wenn die Beeinträchtigung den Umständen nach eine „besonders gravierende Intensität“ aufweise, sei die rechtliche Wertung plausibel, dass die grundrechtliche Belastung durch die Verfassung „in Art. 7 Abs. 1 GG nicht von vornherein mit einberechnet“ sei und dass die Belastung es „erforderlich macht, die religiöse Position in eine weitergehende Abwägung gegen das staatliche Bestimmungsrecht zu bringen“. Der Staat dürfe dabei, unbeschadet des von ihm zu respektierenden religiösen Selbstverständnisses der betroffenen Glaubensgemeinschaft beziehungsweise des individuellen Grundrechtsträgers, auf Grundlage der Angaben des Betroffenen im Rahmen seiner Darlegungspflicht aufklären, welcher „Stellenwert einem in Rede stehenden, imperativ bindenden religiösen Verhaltensgebot im Rahmen des Gesamtgerüsts seiner Glaubensüberzeugungen 63 BVerwG, NVwZ 2014, 81 (83). 64 Bayerischer VGH, NVwZ 2014, 1109 (1109). 65 BVerwG, NVwZ 2014, 81 (82 ff.); BVerwG, NJW 2014, 804 (806). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 14 zukommt, und sich […] vergewissern, ob danach im Falle eines Zuwiderhandelns tatsächlich von einer besonders gravierenden Beeinträchtigungsintensität auszugehen ist.“66 Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts führt jedoch auch das Vorliegen einer solchen besonders gravierenden Intensität der Beeinträchtigung religiöser Belange noch nicht automatisch zu einem Zurücktreten des staatlichen Bestimmungsrechts. Vielmehr komme es auf den konkret zu Tage tretenden Konflikt an.67 Dabei, so das Gericht, „lässt sich der Verfassung keine vorgefasste Antwort entnehmen“, da die rechtliche Bewertung von Faktoren abhänge, die „von Fall zu Fall stark variieren können und über die daher eine allgemeingültige verfassungsrechtliche Aussage nicht getroffen werden könnte. Hier bedarf es dann der Vornahme einer weitergehenden Abwägung.“68 Bezugnehmend auf diese Grundsätze führt nach Ansicht des Bayerischen VGH jedenfalls bei einer nicht mehr schulpflichtigen Schülerin ein Verbot der Gesichtsverschleierung nicht zu einer derart gravierenden Intensität der Beeinträchtigung ihrer Glaubensfreiheit.69 Die Schülerin müsse die in Frage stehende Schule nicht besuchen und sei folglich nicht gezwungen, sich den Einschränkungen ihrer Glaubensfreiheit auszusetzen. Auch bestünden in diesem Fall alternative Wege, den angestrebten Schulabschluss zu erreichen. Die Unterrichtsteilnahme mit Gesichtsverschleierung sei der Schülerin daher zulässigerweise verwehrt worden. Einer schulpflichtigen Schülerin stehen hingegen keine Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung. Sie könnte sich dem Eingriff nicht entziehen, indem sie auf den Schulbesuch verzichtet; ihr bliebe nur die Möglichkeit, den Gesichtsschleier abzulegen. Insofern müsste wohl letztlich zumindest die Möglichkeit bestehen, im Einzelfall zu entscheiden, ob ein Verbot der Gesichtsverschleierung außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck, die offene Kommunikation im Unterricht zu gewährleisten, stünde.70 In der juristischen Literatur wird überwiegend davon ausgegangen, dass ein generelles Verbot des gesichtsverhüllenden Schleiers unabhängig vom Alter des Mädchens und einer bestehenden Schulpflicht zulässig sei.71 Dieser begründe ein objektives Unterrichtshemmnis und verhindere die 66 BVerwG, NJW 2014, 804 (808). 67 BVerwG, NJW 2014, 804 (808). 68 BVerwG, NJW 2014, 804 (808) (Hervorhebung nur hier). 69 Bayerischer VGH, NVwZ 2014, 1109 (1109 f.). 70 So sieht etwa die bayerische Regelung in § 56 Abs. 4 S. 2 BayEUG das Zulassen von Ausnahmen zum Verhüllungsverbot vor. 71 So Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 69; Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, 9 (12); Büscher/Glasmacher, Schule und Religion, in: JuS 2015, 513 (516); Germann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 41. Edition Stand 15. Mai 2015, Art. 4 Rn. 51.4.; Rohe, Muslime in der Schule, in: BayVbl. 2010, 257 (263); Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 169; Deutsche Islamkonferenz, Religiös begründete schulpraktische Fragen - Handreichung für Schule und Elternhaus, 2009, 3, abrufbar unter http://www.deutsche-islam-konferenz.de/Shared- Docs/Anlagen/DIK/DE/Downloads/LenkungsausschussPlenum/2008-anhang-zwischenresumee-schulpraktische-fragen .pdf?__blob=publicationFile; a.A. Beaucamp/Beaucamp, In dubio pro libertate, in: DÖV 2015, 174 (179 ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 15 pädagogische Interaktion mit der Lehrkraft und die offene Kommunikation.72 Die Erkennbarkeit der Mimik sei vor allem in Bezug auf das Erziehungsziel, die Schüler zu sozialem Verhalten anzuleiten, zwingend erforderlich.73 Das Verbot des gesichtsverhüllenden Schleiers stehe auch nicht außer Verhältnis zur Intensität des erfolgenden Eingriffs in die Grundrechte muslimischer Schülerinnen und deren Eltern und den mit der staatlichen Maßnahme verfolgten Zwecken. Der durch den gesichtsverhüllenden Schleier beeinträchtigten Erziehung zu sozialem Verhalten hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und des Gemeinwohls komme ein überragendes Gewicht zu, da die Erziehung zu sozialem Verhalten einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Integration leiste.74 4.4.3.2. Verstoß gegen Erziehungsziele Vereinzelt wird vertreten, dass das Tragen eines Kopftuchs gegen staatliche Erziehungsziele verstoße.75 Bestimmte Erziehungsziele sind in vielen Landesverfassungen sowie in Schulgesetzen der Länder festgeschrieben.76 Das Grundgesetz enthält hingegen keine ausdrücklich genannten Erziehungsziele. Die Frage, ob Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat nicht nur einen Bildungs- und Erziehungsauftrag , sondern auch das Verfolgen bestimmter Erziehungsziele vorgibt, wird in der juristischen Literatur nicht einheitlich beantwortet. Einige Stimmen nennen Ziele wie die „Erziehung des Kindes zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit, die Erziehung zur Toleranz sowie zur Gleichberechtigung von Mann und Frau“.77 Andere betonen, dass die Erziehung den Werten des Grundgesetzes zwar nicht zuwiderlaufen dürfe, darüber hinaus seien aber keine bestimmten Ziele vorgegeben.78 Aufgabe des Staates sei, ein Schulsystem zu gewährleisten „das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet“.79 Den Ländern bleibe im Übrigen die Gestaltungsfreiheit bei der Festlegung von Erziehungs- und Unterrichtszielen. In der Rechtsprechung wurden bestimmte Erziehungsziele 72 Westermann, Das Vollverschleierungsverbot für Schülerinnen in der rechtlichen Diskussion, 2019, 9; Brosius- Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 69; Germann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 41. Edition Stand 15. Mai 2015, Art. 4 Rn. 51.4; a.A. Beaucamp/Beaucamp, In dubio pro libertate, in: DÖV 2015, 174 (179 ff.): Jedenfalls der Niqab lasse die Augen frei und Gestik und Körpersprache seien bei der Vollverschleierung ohnehin nicht beeinträchtigt. Es sei zudem nicht die Kernaufgabe der Schulen, die Schüler in nonverbaler Kommunikation auszubilden. 73 Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 169. 74 Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, 9 (12). 75 So Nettesheim, Grundgesetz und Verbot eines „Kinderkopftuchs“ – Zur Diskussion über Kopftuchverbote für Schülerinnen, 2019, 16 ff., 31 ff. 76 Vgl. etwa Art. 1 Abs. 1 BayEUG. 77 Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, 153; ähnlich auch Robbers, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 7 Rn. 83; Uhle, in: BeckOK GG, 41. Edition 15. November 2018. Art. 7 Rn. 23; Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 166. 78 Vgl. Boysen, in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 7 Rn. 59. 79 Badura, in: Maunz/Dürig, GG, 87. EL März 2019, Art. 7 Rn. 52 unter Verweis auf BVerfGE 34, 165 (182). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 16 – soweit ersichtlich – in Bezug auf die Religionsausübung durch Schüler bisher nicht als Rechtfertigungsgrund für Verbote angeführt. Nähme man an, dass bestimmte Erziehungsziele verfassungsrechtlich vorgegeben sind, so bedürfte es eines Konflikts mit diesen Zielen, der durch das Tragen eines Kopftuchs ausgelöst wird. In der Literatur wird vereinzelt vertreten, das Tragen eines Kopftuchs widerspreche dem Erziehungsziel der „Erziehung zur Freiheit“.80 Dieses Ziel bedeute unter anderem die Befreiung aus traditionellen Rollenvorstellungen, die Befähigung zur kritischen Auseinandersetzung mit vorgegebenen Lebensformen und die Förderung des Willens, sich für einen eigenständigen Lebensentwurf zu entscheiden .81 Allerdings dürfte es nicht ohne weiteres zu bejahen sein, dass das Tragen eines Kopftuchs einer freiheitlich geprägten Lebenseinstellung zuwiderläuft. Das Bundesverfassungsgericht hat im sogenannten Kopftuchurteil ausgeführt, dass „das Kopftuch [...] als Kürzel für sehr unterschiedliche Aussagen und Wertvorstellungen wahrgenommen“ werde. Forschungsergebnisse zeigten, dass „angesichts der Vielfalt der Motive die Deutung des Kopftuchs nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden“ dürfe.82 Auch in der Literatur wird angemerkt, dass das Kopftuch keinen objektiven und allgemeingültig zu bestimmenden Sinngehalt habe.83 Bei der Bewertung des Aussagegehalts eines Symbols müssten immer auch diejenigen Interpretationsmöglichkeiten berücksichtigt werden, die für den Betroffenen günstig seien.84 Eine Deutung des Symbolgehalts eines Kopftuchs könne daher nur unter Einbeziehung des individuellen Sozialverhaltens der Schülerin erfolgen: „Erst wenn die Schülerin dem Symbol einen Aussagegehalt beimisst, der bewusst [eine] patriarchalische Ungleichbehandlung unterstreichen soll, könnte an die Gefährdung der Erziehungsziele gedacht werden.“85 Zudem wird darauf hingewiesen, dass selbst wenn man dem Kopftuch einen fundamentalistischen Sinngehalt zuwiese, dies den staatlichen Erziehungszielen nicht zuwiderliefe.86 Erziehungsziele seien nur „Finalnormen“, die „nicht das Erreichen eines bestimmten Zustands verbindlich vor- 80 So Nettesheim, Grundgesetz und Verbot eines „Kinderkopftuchs“ – Zur Diskussion über Kopftuchverbote für Schülerinnen, 2019, 31 ff. 81 Vgl. Nettesheim, Grundgesetz und Verbot eines „Kinderkopftuchs“ – Zur Diskussion über Kopftuchverbote für Schülerinnen, 2019, 18. 82 BVerfGE 108, 282 (304 f.). 83 Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 167. 84 Jäschke/Müller, Kopftuchverbote gegenüber Schülerinnen an öffentlichen und privaten Schulen, in: DÖV 2018, 279 (279). 85 Jäschke/Müller, Kopftuchverbote gegenüber Schülerinnen an öffentlichen und privaten Schulen, in: DÖV 2018, 279 (279); so auch Anger, Islam in der Schule, 2003, 182. 86 Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 167; Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, 154; Anger, Islam in der Schule, 2003, 182. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 17 schreiben, sondern lediglich das Ziel bestimmen, dem sich das Ergebnis der schulischen Erziehungsarbeit bei jedem Schüler so weit wie möglich nähern soll“.87 Die Lehrkraft werde durch das Kopftuch nicht daran gehindert, auf die Schülerinnen im Sinne der Erziehungsziele einzuwirken.88 So dürfe die Schule etwa vermitteln, dass das Tragen des Kopftuchs, soweit es als Unterordnung unter ein traditionelles islamisches Frauenbild zu verstehen ist, nicht dem grundgesetzlichen Bild der Frau als mündiger Staatsbürgerin entspricht.89 Ein Kopftuchverbot könne hingegen eine Ablehnung staatlicher Erziehungsziele durch die Schülerin eher verstärken.90 Ein generelles Kopftuchverbot für Schülerinnen dürfte sich folglich nicht durch einen Verweis auf einen Konflikt mit bestimmten Erziehungszielen rechtfertigen lassen. 4.4.3.3. Erhaltung des Schulfriedens Das Tragen des Kopftuchs durch Schülerinnen könnte den Schulfrieden gefährden. Die Erfüllung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags aus Art. 7 Abs. 1 GG setzt voraus, dass der Schulfrieden gewahrt ist.91 Darunter ist ein Zustand der Konfliktfreiheit und -bewältigung zu verstehen, der den ordnungsgemäßen Unterrichtsablauf ermöglicht.92 Die Vermeidung religiös-weltanschaulicher Konflikte in öffentlichen Schulen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein gewichtiges Gemeinschaftsgut und ein Schutzzweck von herausragender Bedeutung.93 Auch religiös motiviertes Verhalten kann grundsätzlich den Schulfrieden beeinträchtigen.94 Allerdings ist allein die abstrakte Gefährdung des Schulfriedens nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts nicht ausreichend, um das religiös geprägte Verhalten eines Schülers generell zu unterbinden.95 Vielmehr müssten solche Störungen zunächst Anlass geben, sich damit etwa im Unterricht mit dem Ziel, wechselseitiges Verständnis zu wecken, auseinanderzusetzen.96 In einem Urteil von 2011 hielt das Bundesverwaltungsgericht ein an einen muslimischen Schüler gerichtetes Verbot, während der Pausen in der Schule ein rituelles Gebet zu 87 Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 168; so auch Anger, Islam in der Schule, 2003, 182. 88 Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, 9 (11); Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, 154. 89 Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten, 2001, 537. 90 Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, 155; Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten, 2001, 537. 91 BVerwG, NVwZ 2012, 162 (166). 92 BVerwG, NVwZ 2012, 162 (166). 93 BVerwG, NJW 2004, 3581 (3584); BVerwG, NVwZ 2012, 162 (166). 94 Vgl. BVerfGE 138, 296 (336 f.); 108, 282 (307). 95 BVerfGE 138, 296 (340 f.); BVerwG, NVwZ 2012, 162 (166). 96 BVerfGE 138, 296 (340 ff.); BVerwG, NVwZ 2012, 162 (167). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 18 verrichten, für verfassungsrechtlich gerechtfertigt.97 In dem konkret entschiedenen Fall ging das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der bestehenden teilweise sehr heftigen religiösen Konflikte innerhalb der Schülerschaft an der betroffenen Schule davon aus, dass der Schulfrieden nicht anders gewahrt werden könne und das Verbot in dieser Situation nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck stehe.98 Ein generelles Kopftuchverbot für Schülerinnen dürfte sich folglich nicht mit einer abstrakten Gefährdung des Schulfriedens rechtfertigen lassen.99 4.4.4. Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität des Staates Das Grundgesetz begründet durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV) in Verbindung mit Art. 140 GG für den Staat die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Dies gilt auch für den Bereich der Schule.100 Bei der Ausgestaltung des Unterrichts sind Neutralität und Toleranz vor allem in religiöser und weltanschaulicher Sicht zu wahren und insbesondere jede Beeinflussung im Dienste einer bestimmten religiös-weltanschaulichen Sicht zu unterlassen.101 Die dem Staat gebotene Neutralität ist jedoch nicht im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende Haltung, die die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördert.102 Für die Spannungen, die bei der gemeinsamen Erziehung von Kindern unterschiedlicher Weltanschauungs- und Glaubensrichtungen unvermeidbar sind, muss unter Berücksichtigung des Toleranzgebots als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) nach einem Ausgleich gesucht werden.103 Das Neutralitätsgebot richtet sich jedoch nicht an die Schülerinnen und Schüler, sondern an die Schule.104 Auch verstößt der Staat allein dadurch, dass er es hinnimmt, dass eine Schülerin ein Kopftuch trägt, nicht gegen das Neutralitätsgebot, da ihm das Kopftuch als religiöses Symbol erkennbar nicht zuzurechnen ist. Zudem macht er sich weder das darin zum Ausdruck kommende 97 BVerwG, NVwZ 2012, 162. 98 BVerwG, NVwZ 2012, 162 (168). 99 So auch Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 172 (176); Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, 9 (11); vgl. auch Westermann, Das Vollverschleierungsverbot für Schülerinnen in der rechtlichen Diskussion, 2019, 10; Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten, 2001, 538. 100 BVerfGE 108, 282 (338 f.). 101 BVerwG, NVwZ 2014, 81 (81). 102 BVerfGE 108, 282 (300); BVerwG, NVwZ 2012, 162 (165). 103 BVerfGE 138, 296 (338 f.); 108, 282 (300); BVerwG, NVwZ 2012, 162 (165). 104 Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, 9 (10) m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 19 Bekenntnis zum islamischen Glauben zu eigen, noch muss er sich dieses Bekenntnis als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.105 Das Bundesverwaltungsgericht hat aber in seiner Entscheidung zur Verrichtung von Gebeten eines Schülers 2011 unter Bezugnahme auf das sogenannte Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2003106 ausgeführt, dass der gesellschaftliche Wandel, der mit einer zunehmenden religiösen Pluralität verbunden sei, für den Landesgesetzgeber Anlass sein könnte, das Ausmaß, in dem religiöse Bezüge in der Schule zulässig sein sollen, abweichend zu bestimmen. Demnach sprächen einerseits Gründe dafür, die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten. Andererseits sei die zunehmende religiöse Vielfalt mit einem größeren Potenzial möglicher Konflikte in der Schule verbunden. Daher könne es auch gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß religiöse Bezüge, die von Schülern in die Schule hineingetragen werden, aus der Schule grundsätzlich fernzuhalten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder Lehrkräften von vornherein zu vermeiden. Der Gesetzgeber müsse letztlich entscheiden, ob von der Verwendung religiöser Symbole bereits eine abstrakte Gefährdung des Schulfriedens ausgehe.107 Demgegenüber hat jedoch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen 2015108 einschränkend ausgeführt, dass ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität unverhältnismäßig sei. Erst wenn in bestimmten Schulen oder Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht sei, könne ein verfassungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen, religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild nicht erst im Einzelfall, sondern etwa für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme einer hinreichend konkretisierten Verordnungsermächtigung.109 105 Vgl. BVerfGE 138, 296 (336 f.); BVerwG, NVwZ 2012, 162 (165). 106 BVerfGE 108, 282. 107 BVerwG, NVwZ 2012, 162 (166). 108 BVerfGE 138, 296. 109 BVerfGE 138, 296 (340 ff.); zur nicht ausreichenden abstrakten Gefährdung bei Kindertagesstätten siehe BVerfG, NJW 2017, 381. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 20 Das Neutralitätsgebot dürfte somit jedenfalls kein generelles landesweites Kopftuchverbot für Schülerinnen tragen.110 4.4.5. Negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Mitschüler und Elternrecht Das Tragen eines Kopftuchs könnte die negative Glaubensfreiheit der anderen Schüler beziehungsweise das religiöse Erziehungsrecht ihrer Eltern verletzen. Die in Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Glaubensfreiheit umfasst auch die Freiheit, keine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu haben oder eine solche abzulehnen.111 Die negative Glaubensfreiheit gewährleistet das Recht, kultischen Handlungen, Riten und Symbolen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben.112 Allerdings haben die Einzelnen in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen gänzlich verschont zu werden. Allein der Anblick einer Schülerin, die ein Kopftuch trägt, führt nicht dazu, dass die negative Glaubensund Bekenntnisfreiheit der anderen Schülerinnen und Schüler beeinträchtigt wird.113 Das religiöse Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 GG umfasst auch das Recht, die eigenen Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern als falsch oder schädlich erscheinen.114 In Bezug auf die Begegnung von Kindern mit religiösen Handlungen Dritter reicht jedoch das Elterngrundrecht nicht weiter als die negative Glaubensund Bekenntnisfreiheit der Kinder. Dementsprechend verleiht das religiöse Erziehungsrecht der Eltern nicht die Befugnis, ihre Kinder vor jeglicher Konfrontation mit religiösen Handlungen Anderer zu verschonen.115 Mit der negativen Glaubensfreiheit der Mitschüler oder dem religiösen Erziehungsrecht der Eltern der Mitschüler ließe sich ein Kopftuchverbot für Schülerinnen folglich nicht rechtfertigen.116 110 So auch Westermann, Das Vollverschleierungsverbot für Schülerinnen in der rechtlichen Diskussion, 2019, 7; Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 69; Beaucamp/Beaucamp, In dubio pro libertate, in: DÖV 2015, 174 (181); Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 166; Anger, Islam in der Schule, 2003, 179. 111 Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 23 m.w.N. 112 BVerfGE 138, 296 (336). 113 BVerfGE 138, 296 (336 f.). 114 BVerfGE 138, 296 (337). 115 BVerfGE 138, 296 (337 f.); BVerwG, NVwZ 2012, 162 (165). 116 So auch Nettesheim, Grundgesetz und Verbot eines „Kinderkopftuchs“ – Zur Diskussion über Kopftuchverbote für Schülerinnen, 2019, 29 ff.; Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 69; Jäschke/Müller, Kopftuchverbote gegenüber Schülerinnen an öffentlichen und privaten Schulen, in: DÖV 2018, 279 (280); Beaucamp/Beaucamp, In dubio pro libertate, in: DÖV 2015, 174 (179); Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, 153. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/19 Seite 21 5. Fazit Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass ein generelles landesweites Verbot für Schülerinnen, ein Kopftuch zu tragen, das das Gesicht frei lässt, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts verfassungsrechtlich wohl nicht zulässig wäre. Dies entspricht auch der ganz herrschenden Ansicht in der juristischen Literatur.117 Ein Verbot, während des Unterrichts das Gesicht zu verschleiern, wäre hingegen wohl verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.118 Dies gilt zumindest, sofern ausreichend Raum für eine Abwägung im Einzelfall bliebe. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann zudem ein „verfassungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis“ bestehen, „äußere religiöse Bekundungen nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden“, wenn es aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten bereichsspezifisch zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen komme. Dies könne gegebenenfalls auch unter Zuhilfenahme einer hinreichend konkretisierten Verordnungsermächtigung erfolgen.119 Ein solches Verbot wäre allerdings nur zulässig, wenn es sich allgemein auf das Tragen religiöser Symbole bezöge, ohne bestimmte Religionen herauszugreifen. *** 117 So etwa Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 65; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 112; Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 69; Beaucamp/Beaucamp, In dubio pro libertate, in: DÖV 2015, 174 (183); Jäschke/Müller, Kopftuchverbote gegenüber Schülerinnen an öffentlichen und privaten Schulen, in: DÖV 2018, 279 (284); Thormann, Kreuz, Kopftuch und Bekenntnisschule, in: DÖV 2011, 945 (948); Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 179; Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, 157; Anger, Islam in der Schule, 2003, 401; Hecker, Renaissance der Kopftuchdebatte – Kopftuch bei Kindern, in: ZRP 2019, 151 (151); a.A. Nettesheim, Grundgesetz und Verbot eines „Kinderkopftuchs“ – Zur Diskussion über Kopftuchverbote für Schülerinnen, 2019, 31 ff. 118 So auch Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 69; Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, 9 (12); Büscher/Glasmacher, Schule und Religion, in: JuS 2015, 513 (516); Germann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 41. Edition Stand 15. Mai 2015, Art. 4 Rn. 51.4.; Rohe, Muslime in der Schule, in: BayVbl. 2010, 257 (263); Pottmeyer, Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England, 2011, 169; a.A.: Beaucamp/Beaucamp, In dubio pro libertate, in: DÖV 2015, 174 (183). 119 BVerfGE 138, 296 (340 ff.).