© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 226/19 Zur Verfassungsmäßigkeit der Festsetzung eines Mindestalters für das aktive Wahlrecht auf 18 Jahre gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Europawahlgesetz Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 226/19 Seite 2 Zur Verfassungsmäßigkeit der Festsetzung eines Mindestalters für das aktive Wahlrecht auf 18 Jahre gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Europawahlgesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 226/19 Abschluss der Arbeit: 02.10.2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 226/19 Seite 3 1. Fragestellung und Einleitung Es wird um Prüfung gebeten, ob anstelle der Festsetzung eines Mindestalters für die Europawahl gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Europawahlgesetz (EuWG) ein individuelles Prüfungsverfahren der Wahlmündigkeit eingeführt werden könnte. Aufgrund der Ermächtigung in Art. 8 Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments (Direktwahlakt) regeln die einzelnen Mitgliedstaaten die Einzelheiten des Wahlrechts zum Europäischen Parlament in den Grenzen der europarechtlichen Vorgaben durch nationales Recht. Unionsrechtliche Grundlagen für die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments sind Art. 14 Abs. 2 und 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), Art. 22 Abs. 2 und Art. 223 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), Art. 39 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh), die Europawahl-Richtlinie 1 und insbesondere der Direktwahlakt. Es gibt keine unionsrechtliche Vorgabe, ein (bestimmtes) Mindestalter für das aktive Wahlrecht festzulegen. Für einen Überblick über die gesetzlichen Regelungen zum Mindestalter in 26 Mitgliedsländern der Europäischen Union2 sowie eine Gegenüberstellung von Argumenten für und gegen die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre siehe die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Wahlrecht ab 16 Jahren – Regelungen und Erfahrungen, WD 3 - 3000 - 135/10, vom 11. Mai 2010. - Anlage 1 - Das Mindestalter für die Europawahl ist in Deutschland einfachgesetzlich in § 6 Abs. 1 Nr. 1 (für deutsche Staatsbürger) und Abs. 3 S. 1 Nr. 1 (für Unionsbürger, die in Deutschland eine Wohnung innehaben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten) EuWG geregelt. Danach ist die Vollendung des 18. Lebensjahres Voraussetzung für das aktive Wahlrecht. Die Bestimmung eines Mindestalters für das aktive Wahlrecht in Art. 38 Abs. 2 1. HS Grundgesetz (GG) gilt unmittelbar nur für die Wahl des Bundestages. Die nachfolgenden Ausführungen und Hinweise beschränken sich auf die verfassungsrechtliche Würdigung der Festlegung eines Mindestalters für die Wahlberechtigung. 1 Richtlinie 93/109/EG des Rates vom 6. Dezember 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, Amtsblatt Nr. L 329 vom 30/12/1993 S. 0034 – 0038, geändert durch Artikel 1 der Richtlinie 2013/1/EU des Rates vom 20. Dezember 2012, Amtsblatt Nr. L 26 vom 26. Januar 2013 S. 27 – 29. 2 Auch Malta hat zwischenzeitlich im Jahr 2018 das generelle Wahlalter von 18 auf 16 Jahre abgesenkt, siehe Chapter VI Part 1 Art. 57 Constitution of Malta. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 226/19 Seite 4 2. Verfassungsmäßigkeit der Festsetzung eines Mindestalters Eine ausführliche Darstellung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der gesetzlichen Regelungen zum aktiven und passiven Wahlrecht sowie der Grenzen für eine Absenkung des Wahlalters bietet die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Gesetzliche Regelungen zum aktiven und passiven Wahlrecht, WD 3 - 3000 - 012/13, vom 22. Februar 2013, (insbesondere Abschnitt 3.2. Bindung des Gesetzgebers an den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl). - Anlage 2 - In der Ausarbeitung wird aufgezeigt, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung die Verknüpfung der Ausübung des aktiven Wahlrechts an die Erreichung eines Mindestalters als mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verträglich angesehen hat.3 Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG dient der Gewährleistung des allgemeinen demokratischen Prinzips, wonach diejenigen, die von staatlicher Herrschaftsausübung betroffen sind, diese auch bestimmen und legitimieren müssen. Er soll den Ausschluss bestimmter Teile der Bevölkerung vom aktiven und passiven Wahlrecht verhindern.4 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterliegt der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl jedoch keinem absoluten Differenzierungsverbot. Aus seinem formalen Charakter folge allerdings, dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Wahlberechtigung nur ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen verbleibe. Begrenzungen des allgemeinen Wahlrechts hält das Bundesverfassungsgericht für verfassungsrechtlich zulässig, sofern für sie ein zwingender Grund besteht.5 Die Sicherung der Kommunikationsfunktion der Wahl zählt dabei zu den Gründen, die geeignet sind, Einschränkungen zu legitimieren. Die Festsetzung eines Mindestalters für die Ausübung des Wahlrechts verfolgt diesen Zweck, da es den erforderlichen Grad an Reife und Vernunft für die Wahl sicherstellen soll und ist von jeher vom Bundesverfassungsgericht als legitim angesehen worden. Die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich so verstehen, dass das Erfordernis eines Mindestalters für die Ausübung des aktiven Wahlrechts nicht nur zulässig, sondern sogar geboten sein kann, um die mit der Parlamentswahl verfolgten Ziele zu verwirklichen.6 3 BVerfGE 36, 139 (141); BVerfGE 42, 312 (340); BVerfGE 132, 39 (Rn. 34). 4 Trute, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 38 Rn. 19. 5 BVerfGE 28, 220 (225); BVerfGE 36, 139 (141). 6 Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Gesetzliche Regelungen zum aktiven und passiven Wahlrecht, WD 3 - 3000 - 012/13, vom 22. Februar 2013, 16 f. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 226/19 Seite 5 Für eine Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses von 17-jährigen von der Europawahl argumentieren : Heußner/Pautsch, Die Verfassungswidrigkeit des Wahlrechtsausschlusses von 17-Jährigen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, NVwZ 2019, 993 ff. - Anlage 3 - Ihre Forderung nach einem Wahlrecht für 17-jährige bleibt allerdings eine Begründung schuldig, warum der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum auf die Festsetzung genau dieses Mindestalters reduziert sein sollte. 3. Verfahren zur Prüfung der Wahlmündigkeit In seinem Beschluss zur Unvereinbarkeit des Wahlrechtsausschluss von dauerhaft vollbetreuten Personen gemäß § 13 Nr. 2 und Nr. 3 Bundeswahlgesetz (BWG) hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Wahlberechtigung unter Berücksichtigung der Grenzen, die die Bedeutung des Wahlrechts und die Strenge demokratischer Egalität seinem Bewertungsspielraum setzen, grundsätzlich befugt sei, Vereinfachungen und Typisierungen vorzunehmen. Die Befugnis zur Typisierung bedeute, dass Lebenssachverhalte im Hinblick auf wesentliche Gemeinsamkeiten normativ zusammengefasst und dabei Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt oder absehbar seien, generalisierend vernachlässigt werden dürften.7 Siehe dazu auch die Kurzinformation der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Fragen zu den Wahlrechtsausschlüssen nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 Bundeswahlgesetz, WD 3 - 3000 - 050/19, vom 21. Februar 2019 - Anlage 4 - sowie den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Wahlrechtsausschlüsse nach dem Europawahlgesetz – Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. April 2019 (2 BvQ 22/19) zum Wahlrechtsausschluss dauerhaft vollbetreuter Personen, WD 3 - 3000 - 118/19 vom 24. Mai 2019, - Anlage 5 - der die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts zum Gegenstand hat, mit der der Ausschluss des aktiven Wahlrechts von dauerhaft vollbetreuten Personen von der Europawahl nach § 6a Abs. 1 Nr. 2 Europawahlgesetz (EuWG) für unanwendbar erklärt wurde. 7 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 29. Januar 2019 - 2 BvC 62/14 -, Rn. 1-142 (Rn. 47 f.). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 226/19 Seite 6 Eine individuelle Feststellung der Wahlmündigkeit erscheint dagegen weder praktikabel noch geeignet den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl zu genügen.8 Ein solches Verfahren dürfte wohl kaum durchführbar sein. Dies zeigt sich schon an den vielen offenen Fragen, sie sich im Hinblick auf eine solches Beurteilungsverfahren aufdrängen: Welcher Kreis von Personen sollte einbezogen werden? Aus Gründen der Gleichbehandlung liegt es nahe, zunächst alle deutschen Staatsbürger einzubeziehen. Letztlich muss aber auch die Wahlberechtigung der Unionsbürger, die eine Wohnung innehaben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten, sichergestellt werden. Wie kann gewährleistet werden, dass die Beurteilung zwar zeitnah aber auch noch rechtzeitig zum Wahltermin vorgenommen und abgeschlossen werden kann? Die Ausübung des Wahlrechts als tragende Säule der Demokratie darf nicht an bürokratischen Hürden scheitern. Vor allem aber stellt sich die Frage nach dem Maßstab für die Beurteilung der Wahlmündigkeit. Der Gesetzgeber müsste dazu Rahmenbedingungen aufstellen, die unabhängig von rein objektiven Kriterien wie dem Alter die Konstituierung des Wahlvolks beeinflussen würde.9 Bei der Feststellung der Wahlmündigkeit handelt es sich gerade um kein formales Kriterium wie beispielsweise die Eintragung ins Wählerverzeichnis oder der Besitz eines Wahlscheines.10 Es ist kaum vorstellbar, dass sich Beurteilungsmaßstäbe und -verfahren finden lassen, die den Wahlrechtsgrundsätzen genügen und gewährleisten, dass grundsätzlich jeder sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben kann und bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts ausgeschlossen werden.11 *** 8 So auch Schroeder, JZ 2003, 917 (921). 9 Siehe auch Stumpf, Anfängerklausur – Öffentliches Recht: Wahlrechtsgrundsätze auf Abwegen?, JuS 2010, 35 (41). 10 Dazu Morlok, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 38 Rn. 72. 11 Siehe hierzu auch die Redebeiträge in der Beratung des Deutschen Bundestages zum Antrag „Für die Einführung eines inklusiven Wahlrechts“ BT-Drs. 19/8261, BT-PlPr. 19/87, 10346 (C), 10350 (D), 10351 (D), die sich geschlossen gegen die Möglichkeit einer individuellen Wahlfähigkeitsprüfung aussprechen.