© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 224/17 Ausschluss der Wählbarkeit zum Deutschen Bundestag bei doppelter Staatsangehörigkeit Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Einleitung Nach Section 44 der Verfassung von Australien ist die Wahl zum und die Mitgliedschaft im Repräsentantenhaus unvereinbar mit dem Besitz einer ausländischen Staatsangehörigkeit.1 Dementsprechend wurde dem Abgeordneten Barnaby Joyce, der die australische und die neuseeländische Staatsangehörigkeit besitzt, jüngst das Mandat aberkannt.2 Vor diesem Hintergrund wird die Frage gestellt, ob man die Unvereinbarkeit von doppelter Staatsangehörigkeit und Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag regeln könnte. Konkret soll geprüft werden, ob der Ausschluss der Wählbarkeit von deutschen Staatsangehörigen, die auch eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen, verfassungsrechtlich zulässig wäre. Der Wählbarkeitsausschluss soll allerdings – anders als das australische Vorbild – keinen Verfassungsrang haben, sondern durch Bundesgesetz geregelt werden. 2. Voraussetzungen der Wählbarkeit zum Deutschen Bundestag Gemäß § 1 Abgeordnetengesetz richten sich Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft im Bundestag nach den Vorschriften des Bundeswahlgesetzes. Die Voraussetzungen der Wählbarkeit zum Bundestag wiederum sind in § 15 Bundeswahlgesetz (BWahlG) geregelt. Neben der – auch in Art. 38 Abs. 2 GG vorgesehenen – Vollendung des achtzehnten Lebensjahres ist gemäß § 15 Abs. 1 BWahlG wählbar, wer Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG ist (positive Wählbarkeitsvoraussetzungen ). Nicht wählbar sind gemäß § 15 Abs. 2 BWahlG hingegen volljährige Deutsche, die vom Wahlrecht gemäß § 13 BWahlG ausgeschlossen sind oder die infolge Richterspruchs die Wählbarkeit oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter nicht besitzen (negative Wählbarkeitsvoraussetzungen ). Nach § 46 Abs. 1 BWahlG verliert ein Abgeordneter die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag u.a. bei ungültigem Erwerb der Mitgliedschaft (Nr. 1) oder beim Wegfall einer Voraussetzung seiner jederzeitigen Wählbarkeit (Nr. 3). Über den Mandatsverlust wird gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1, 3 BWahlG im Wahlprüfungsverfahren oder durch Beschluss des Ältestenrates des Deutschen Bundestages entschieden. Ein einfachgesetzlicher Ausschluss der Wählbarkeit bei doppelter Staatsangehörigkeit wäre als negative Wählbarkeitsvoraussetzung regelungssystematisch ebenfalls im Bundeswahlgesetz zu verorten. 1 Die Verfassung von Australien ist abrufbar unter: https://www.aph.gov.au/About_Parliament/Senate/Powers _practice_n_procedures/~/link.aspx?_id=074367F0015D42C2B005207F5642376A&_z=z#chapter-01_part- 04_41, vgl. Section 44 (i): „Any person who is under any acknowledgment of allegiance, obedience, or adherence to a foreign power, or is a subject or a citizen or entitled to the rights or privileges of a subject or a citizen of a foreign power; or (…) shall be incapable of being chosen or of sitting as a senator or a member of the House of Representatives.” Nach Wiedemann, Die Neuregelung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts unter besonderer Berücksichtigung von Rechtsfragen mehrfacher Staatsangehörigkeit (2005), 239, steht eine ausländische Staatsangehörigkeit auch in Mexiko und Bangladesh der Mitgliedschaft im Parlament entgegen. 2 Vgl. dazu nur die Berichterstattung der faz.net vom 27.10.2017 („Regierung verliert Parlamentsmehrheit“), abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/australien-regierung-verliert-parlamentsmehrheit- 15265859.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 224/17 Seite 4 3. Wählbarkeitsausschluss bei doppelter Staatsangehörigkeit Die Wählbarkeit zum Deutschen Bundestag – das passive Wahlrecht – erfordert nach Art. 38 Abs. 2 GG allein den Eintritt der Volljährigkeit. Art. 38 Abs. 2 GG legt die Wählbarkeitsvoraussetzungen damit aber nicht abschließend fest.3 Vielmehr folgt aus Art. 38 Abs. 3 GG die Befugnis des Gesetzgebers, „das Nähere“ durch Bundesgesetz zu bestimmen. Diese Ausgestaltungsbefugnis umfasst u.a. das Wahlsystem, das Wahlverfahren und die weiteren Voraussetzungen des aktiven und passiven Wahlrechts.4 Ein konkreter Regelungsvorschlag zum Wählbarkeitsausschluss bei doppelter Staatsangehörigkeit liegt nicht vor. Die verfassungsrechtliche Prüfung hat sich daher auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beschränken, die den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers beschränken. 3.1. Verfassungsrechtliche Vorgaben Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Wahlrechts folgen insbesondere aus den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 GG. In Bezug auf Einschränkungen der Wählbarkeit von Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit ist der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl zu beachten, der die aktive und passive Wahlberechtigung aller Staatsangehörigen verbürgt .5 Als besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) verdrängt der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG.6 Grundsätzlich ist auch Art. 16 Abs. 1 GG nicht einschlägig. Das Grundrecht aus Art. 16 Abs. 1 GG schützt vor dem Entzug und vor dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, regelt aber nicht selbst ihren Inhalt. Die aus der deutschen Staatsangehörigkeit folgenden Rechte und Pflichten ergeben sich vielmehr aus den anderen Grundrechten sowie aus den einfachen Gesetzen.7 Unklar ist jedoch, ob und inwieweit der Schutz aus Art. 16 Abs. 1 GG in Bezug auf inhaltliche Beschränkungen der deutschen Staatsangehörigkeit jedenfalls dann greift, wenn alle oder alle wesentlichen Rechte, die typischerweise mit der Staatsangehörigkeit einhergehen, entzogen würden.8 3 BVerfGE 132, 39, 47 f. 4 Vgl. Magiera, in: Sachs, GG (7. Aufl., 2014), Rn. 115 zu Art. 38. 5 Siehe BVerfGE 132, 39, 47 m.w.N. 6 BVerfGE 99, 1, 10 ff. 7 Siehe nur v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG (6. Aufl., 2012), Rn. 10 zu Art. 16 mit zahlreichen weiteren Nachweisen . 8 In diese Richtung Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/1 (2006), 687 f.: „Eine abwehrrechtlich relevante Beeinträchtigung der betroffenen Inhaber einer deutschen Staatsangehörigkeit würde es schließlich ebenfalls bedeuten, wenn ihre weiterhin so bezeichnete Rechtsposition um wesentliche Folgeberechtigungen verkürzt (…) würde (…).“; Giegerich, in: Maunz/Dürig, GG (Loseblatt-Slg., Stand: September 2017), Rn. 90 f. zu Art. 16; a.A.: Zimmermann/Tams, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt-Slg., Stand: April 2006), Rn. 55 zu Art. 16. Differenzierend Maaßen, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz (Stand: Juni 2017), Rn. 18 zu Art. 16, wonach keine relevante, an Art. 16 Abs. 1 GG zu messende Verkürzung der Rechtsstellung vorliegt, wenn einem deutschen Doppelstaater wegen bestehender oder möglicher Loyalitätskonflikte der Zugang zu bestimmten Ämtern verweigert wird. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 224/17 Seite 5 Darüber hinaus scheiden die in der Verfassung vorgesehenen besonderen Beschränkungen des passiven Wahlrechts, namentlich die Unvereinbarkeit des parlamentarischen Mandats mit dem Amt des Bundespräsidenten (Art. 55 Abs. 1 GG) und der Tätigkeit als Bundesverfassungsrichter (Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG) sowie die in Art. 137 Abs. 1 GG enthaltene Befugnis zu gesetzlichen Wählbarkeitseinschränkungen von Angehörigen des öffentlichen Dienstes, als verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe aus. Schließlich verbietet Art. 48 Abs. 2 GG keine Behinderungen der Mandatsübernahme oder -ausübung, die sich als verfassungsrechtlich zulässige Beschränkungen des passiven Wahlrechts erweisen.9 Entscheidend für die hier fragliche Regelung zum Wählbarkeitsausschluss sind daher die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. 3.2. Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verbürgt die aktive und passive Wahlberechtigung aller Staatsangehörigen.10 Die Gleichbehandlung aller Staatsangehörigen bezüglich der Fähigkeit zu wählen und gewählt zu werden, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung.11 Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl fordere, dass jeder sein staatsbürgerliches Recht zum Wählen in formal möglichst gleicher Weise ausüben könne und verbiete es dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen .12 Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl unterliegt aber keinem absoluten Differenzierungsverbot .13 Zur Zulässigkeit von Differenzierungen führt das Bundesverfassungsgericht aus: „Allerdings folgt aus dem formalen Charakter des Grundsatzes, dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der aktiven und passiven Wahlberechtigung nur ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen verbleibt. Bei der Prüfung, ob eine Beschränkung gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen […]. Differenzierungen hinsichtlich der aktiven oder passiven Wahlberechtigung bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes […]. Sie können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind […].“14 9 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (3. Aufl., 2015), Rn. 17 zu Art. 48; Trute, in: v. Münch/Kunig, GG (6. Aufl., 2012), Rn. 15 zu Art. 48; Butzer, in: Beck’scher Online-Kommentar (Stand: August 2017), Rn. 9.1 zu Art. 48. 10 Siehe BVerfGE 132, 39, 47. 11 Vgl. BVerfGE 99, 1, 13. 12 BVerfGE 36, 139, 141. 13 BVerfGE 132, 39, 47. 14 BVerfGE 132, 39, 48, Hervorhebungen nicht im Original. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 224/17 Seite 6 Zu den vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Begrenzungen der Allgemeinheit der Wahl gehört u.a. das Erfordernis der Sesshaftigkeit im Wahlgebiet.15 Das Sesshaftigkeitserfordernis gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BWahlG gilt allerdings nur für das aktive Wahlrecht. Für das passive Wahlrecht hat der Gesetzgeber das Sesshaftigkeitserfordernis 1956 abgeschafft.16 3.3. Wählbarkeitsausschluss zur Vermeidung von potentiellen Loyalitätskonflikten? Der Ausschluss der Wählbarkeit zum Bundestag bei doppelter Staatsangehörigkeit führt zu einer Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der deutschen Staatsangehörigen und beeinträchtigt den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Fraglich ist, ob die Anknüpfung des Wählbarkeitsausschlusses an die doppelte Staatsangehörigkeit eine Differenzierung darstellt, die den o.g. strengen Rechtfertigungsanforderungen genügt. Als Differenzierungsgrund könnte auf die Vermeidung von Loyalitätskonflikten abgestellt werden , denen Abgeordnete mit einer weiteren ausländischen Staatsangehörigkeit möglicherweise unterliegen. Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt wäre die Gewährleistung der freien Mandatsausübung nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG.17 Die Vermeidung potentieller Loyalitätskonflikte aufgrund doppelter Staatsangehörigkeit ist zudem nicht von vornherein verfassungsrechtlich unzulässig. Zwar lässt die Verfassung Mehrstaatigkeit zu, doch ist sie gerade nicht verfassungsrechtlich geboten.18 Fraglich ist, ob die Vermeidung potentieller Loyalitätskonflikte darüber hinaus – entsprechend den o.g. Rechtsprechungsvorgaben – einen besonderen Grund darstellt, dem mindestens das gleiche Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl zukommt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage, ob potentielle Loyalitätskonflikte Beeinträchtigungen der Allgemeinheit der Wahl rechtfertigen könnten, in seiner Entscheidung zum aktiven Wahlrecht von Auslandsdeutschen offengelassen.19 Zur spezifischen Frage nach der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen des passiven Wahlrechts wegen potentieller Loyalitätskonflikte bei doppelter Staatsangehörigkeit finden sich in der Literatur einzelne ablehnende Stimmen, allerdings ohne weitergehende Begründungen .20 15 BVerfGE 36, 139, 141 f. 16 Dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Das passive Wahlrecht von Auslandsdeutschen (WD 3 - 3000 - 004/13), 3 f. 17 Zum freien Mandat siehe nur Morlok, in: Dreier, GG (3. Aufl., 2015), Rn. 149 ff. zu Art. 38. 18 BVerfGE 37, 217, 257: „Das verbleibende, überwiegend auf Ordnungsgesichtspunkten beruhende Interesse des Staates an einer Einschränkung mehrfacher Staatsangehörigkeit ist zwar anzuerkennen; (…)“. Siehe dazu auch Kämmerer, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt-Slg., Stand: Dezember 2015), Rn. 59 zu Art. 16. 19 BVerfGE 132, 39, 52 f. 20 Uslucan, Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit (2012), 424 mit Verweis auf die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Frage der Auswirkungen von Masseneinbürgerungen auf das Wahlrecht durch die Entstehung von Minderheiten (WF III - 49/99), 16; Wiedemann (Fn. 1), 240. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 224/17 Seite 7 Für eine besondere sachliche Legitimation und eine hinreichende Gewichtigkeit könnte man anführen , dass potentielle Loyalitätskonflikte von Abgeordneten bei außenpolitischen Entscheidungen des Bundestages durchaus relevant werden können. In Betracht kommen z.B. Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr, über die Wahrnehmung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung im Zusammenhang mit der Gewährung von Finanzhilfen an ausländische Staaten oder über die Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. Loyalitätskonflikte sind zudem bei schlichten Parlamentsbeschlüssen zu außenpolitischen Themen denkbar.21 Die Abgeordneten könnten in diesen Fällen geneigt sein, sich allein von den Interessen des Staates ihrer ausländischen Staatsangehörigkeit leiten zu lassen. Denkbar wären auch Befürchtungen, persönliche Nachteile im ausländischen Heimatstaat zu erleiden, z.B. durch die Folgen der Entscheidung im Bundestag oder durch Repressalien aufgrund des Abstimmungsverhaltens. Auf der anderen Seite folgt aus dem Verständnis der freien Mandatsausübung gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht, dass Abgeordnete frei von jeglichen Loyalitätskonflikten sein müssen. Loyalitätskonflikte können sich schon aus der Einbindung der Abgeordneten in Fraktionen ergeben.22 Auch das in Art. 20 Abs. 2, Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verankerte Repräsentationsprinzip hindert die Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes nicht daran, Sonder- oder Lobbyinteressen zu verfolgen.23 Somit ist es auch deutschen Monostaatern verfassungsrechtlich nicht verwehrt, Interessen ausländischer Staaten in den parlamentarischen Diskurs einzubringen. Ob die Verfolgung von Partikularinteressen im Einzelnen so weit geht, dass die Abgeordneten bei ihren Entscheidungen die deutschen Gemeinwohlinteressen von vornherein missachten, dürfte sich in der Praxis kaum feststellen lassen.24 Geht man davon aus, dass Abgeordnete mit doppelter Staatsangehörigkeit aufgrund von Loyalitätskonflikten die deutschen Gemeinwohlinteressen außer Betracht lassen könnten, dann wäre jedoch zu berücksichtigen, dass relevante Konfliktfälle mit entsprechenden ausländischen Bezügen wohl eher in begrenztem Ausmaß auftreten würden. Auch dürften die Stimmen der jeweils betroffenen Abgeordneten mit doppelter Staatsangehörigkeit nur einen eher geringen Anteil im Bundestag ausmachen. Schließlich kann man daran zweifeln, dass die Gefahr von Loyalitätskonflikten, die zu Lasten deutscher Gemeinwohlinteressen aufgelöst werden, besonders groß ist. Zwar wird man dem Band der Staatsangehörigkeit insbesondere dann eine starke Wirkung einräumen müssen, wenn persönliche Interessen im ausländischen Heimatstaat berührt sind. Andererseits haben die Abgeordneten mit doppelter Staatsangehörigkeit ihr besonderes Interesse am Gemeinwohl Deutschlands, ggf. auch gerade aus der Perspektive von Mehrstaatern, im Prozess der Kandidatenaufstellung und der Wahl unter Beweis gestellt. Letztlich können die Parteien und die Wähler darüber entscheiden, ob die Abgeordneten das in sie gesetzte Vertrauen erfüllt haben. 21 Vgl. dazu die Ausführungen vom damaligen Bundestagspräsidenten Lammert zur Beratung über die sog. Armenienresolution , BT-Plenarprotokoll 18/173, 17028. 22 Magiera (Fn. 4), Rn. 49 ff. zu Art. 38. 23 Siehe nur Magiera (Fn. 4), Rn. 45 zu Art. 38 mit Verweis auf BVerfGE 5, 85, 233 f. 24 Allgemein zur Missachtung von Gemeinwohlinteressen zugunsten von Partikularinteresse Butzer, in: Epping/ Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz (Stand: August 2017), Rn. 93 zu Art. 38. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 224/17 Seite 8 Im Rahmen einer verfassungsgerichtlichen Prüfung dürfte es darauf ankommen, welchen Spielraum das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Einschätzung zugesteht, wie schwer die Gefahren von potentiellen Loyalitätskonflikten wiegen. Grundsätzlich gilt bei Beschränkungen des Wahlrechts – wie oben ausgeführt – ein strenger Maßstab. Es erscheint nicht abwegig, dass darüber hinaus der Gedanke der Folgerichtigkeit zur Anwendung kommen könnte. Der Gedanke der Folgerichtigkeit führt zu einer gewissen Einschränkung des gesetzgeberischen Spielraums bei der Gefahreneinschätzung. Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus: „Gefahreinschätzungen sind nicht schlüssig, wenn identischen Gefährdungen in denselben oder in anderen, aber dieselbe Materie betreffenden Gesetzen unterschiedliches Gewicht beigemessen wird.“25 In diesem Zusammenhang könnte man darauf abstellen, dass der Gesetzgeber mit den Regelungen, die die Mehrstaatigkeit zulassen, bereits eine Gefahreneinschätzung zum Ausdruck gebracht hat, zu der er sich nicht in Widerspruch stellen dürfe. Dass die Mehrstaatigkeit insbesondere durch die Einschränkungen der Optionspflicht gemäß § 29 Abs. 1a Staatsangehörigkeitsgesetz nicht nur in einzelnen Ausnahmekonstellationen zugelassen wird, spricht dafür, dass der Gesetzgeber den Gefahren durch Loyalitätskonflikte kein entscheidendes Gewicht beimisst. Zwar bezieht sich diese Gefahreneinschätzung nicht auf den spezifischen Loyalitätskonflikt von Abgeordneten mit doppelter Staatsangehörigkeit. Doch stehen potentielle Loyalitätskonflikte gerade im Zentrum der Diskussion um die Hinnahme von Mehrstaatigkeit.26 Die Abweichung von der grundsätzlichen Gefahreneinschätzung im Rahmen des Staatsangehörigkeitsgesetzes für den Bereich der passiven Wahlberechtigung von doppelten Staatsangehörigen dürfte daher einer besonders strengen verfassungsgerichtlichen Nachprüfung unterliegen. *** 25 BVerfGE 107, 186, 197; E 121, 317, 363 f. 26 Vgl. dazu BT-Plenarprotokoll 18/46, 4184, 4192 zur Einschränkung der Optionspflicht gemäß § 29 Abs. 1a StAG; vertiefend zu Loyalitätseinwänden gegen die Zulassung der Mehrstaatigkeit Deinhard, Das Recht der Staatsangehörigkeit unter dem Einfluss globaler Migrationserscheinungen (2015), 397 ff.