© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 224/16 Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages im Rahmen der sog. Brexit-Verhandlungen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 224/16 Seite 2 Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages im Rahmen der sog. Brexit-Verhandlungen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 224/16 Abschluss der Arbeit: 6. Oktober 2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 224/16 Seite 3 1. Fragestellung Es wird die Frage gestellt, welche Mitwirkungsrechte der Bundestag im Rahmen der sog. Brexit- Verhandlungen besitzt. 2. Prozess des Austritts eines Mitgliedstaates aus der Europäischen Union Erst seit dem Vertrag von Lissabon von 2009 ist der Austritt eines Mitgliedstaates aus der Europäischen Union auf der Ebene des Unionsrechts, nämlich in Art. 50 Vertrag über die Europäische Union (EUV), geregelt. Dieser Austrittsartikel ist bislang noch nicht zur Anwendung gekommen, so dass sich auch die rechtswissenschaftliche Literatur noch nicht mit der Frage der Beteiligung des Bundestages am Austrittsprozess befasst hat. Die Regelungen des Art. 50 EUV lassen viel politischen Spielraum bei der Gestaltung des Austrittsprozesses .1 Grundsätzlich setzt sich der Austrittsprozess aus drei Elementen zusammen: dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, der Neuregelung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich sowie der Anpassung des Primärrechts der Europäischen Union nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs. Da die Mitwirkungsrechte des Bundestages stets von den konkreten Regelungsgegenständen abhängen und die einzelnen Regelungsgegenstände sich angesichts des angesprochenen weiten politischen Spielraums bei der Ausgestaltung des Austrittsprozesses bislang kaum oder nur in ihren Grundzügen skizzieren lassen, können im Folgenden die Mitwirkungsrechte ebenfalls nur überblicksartig dargestellt werden.2 3. Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union In Art. 50 Abs. 2 S. 2 EUV ist für den Austritt eines Mitgliedstaates der Abschluss eines Austrittsabkommens zwischen der Europäischen Union und dem betroffenen Mitgliedstaat vorgesehen. Der Abschluss eines solchen Abkommens ist jedoch keine zwingende Voraussetzung für den Austritt eines Mitgliedstaates. Art. 50 Abs. 3 EUV bestimmt, dass die Verträge ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder – sofern kein Abkommen zustande kommt – grundsätzlich zwei Jahre nach der Mitteilung der Austrittsabsicht an den Europäischen Rat keine Anwendung mehr auf den betroffenen Mitgliedstaat finden. An dieser Bestimmung wird deutlich, dass Art. 50 1 Siehe Lippert/von Ondarza, Der Brexit als Neuland, SWP-Aktuell 42 (Juli 2016), S. 1, abrufbar unter http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2016A42_lpt_orz.pdf (zuletzt abgerufen am 4. Oktober 2016). 2 Die folgenden Ausführungen basieren auf dem EU-Sachstand, Der Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union – Nächste Schritte im Verfahren nach Artikel 50 EU-Vertrag (Aktualisierung), PE-Dok 261/2016 vom 26. September 2016. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 224/16 Seite 4 EUV ein einseitiges Austrittsrecht beinhaltet, das weder von der Zustimmung der übrigen Mitgliedstaaten noch vom Abschluss eines Austrittsabkommens abhängig ist.3 Die Regelung des Verfahrens des Austritts eines Mitgliedstaats aus der Europäischen Union nach Art. 50 EUV stellt kein actus contrarius zum Beitritt nach Art. 49 EUV dar.4 So werden die Vereinbarungen zum Austritt durch bilaterale Vereinbarungen zwischen dem austretenden Mitgliedstaat und der Europäischen Union getroffen, während der Beitritt durch multilaterale Vereinbarung zwischen dem eintretenden Staat und den EU-Mitgliedstaaten erfolgt. Dementsprechend bedarf das Austrittsabkommen nicht der Ratifikation in den in der Europäischen Union verbleibenden Mitgliedstaaten.5 Diese sind als solche also nicht unmittelbar am Austrittsabkommen beteiligt.6 Das Verfahren zur Verhandlung des Austrittsabkommens richtet sich nach Art. 50 Abs. 2 EUV.7 Es beginnt mit einer entsprechenden Mitteilung des austrittswilligen Mitgliedstaates an den Europäischen Rat, der daraufhin einstimmig Leitlinien für die Verhandlungen beschließt, Art. 50 Abs. 2 S. 2 EUV i.V.m. Art. 15 Abs. 4 EUV. Auf dieser Grundlage erarbeitet die Kommission Empfehlungen für die Verhandlungen und legt diese dem Europäischen Rat vor. Der Europäische Rat erlässt danach einen Beschluss über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen und über die Benennung des Verhandlungsführers der Union (wohl die Kommission), Art. 50 Abs. 2 S. 3 EUV i.V.m. Art. 218 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Das Austrittsabkommen wird nach Zustimmung des Europäischen Parlaments vom Europäischen Rat im Namen der Union mit dem Vereinigten Königreich geschlossen, Art. 50 Abs. 2 S. 4 EUV. Dabei ist eine qualifizierte Mehrheit im Europäischen Rat erforderlich, im Europäischen Parlament genügt insoweit eine einfache Mehrheit. Hinsichtlich der Beteiligung des Bundestages an dem Verfahren zur Verhandlung des Austrittsabkommens gelten die allgemeinen Grundsätze über die Beteiligung des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union aus Art. 23 Abs. 2 Grundgesetz (GG) und dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG). 3 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 10. Aufl. 2016, Rn. 109. 4 Meng, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 50 EUV Rn. 7; Hofmeister, ‚Should I Stay or Should I Go?‘ – A Critical Analysis of the Right to Withdraw from the EU, European Law Journal 2010, S. 589 (593). 5 Thiele, Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, S. 281 (301). 6 Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 2. Aufl. 2012, Art. 50 EUV Rn. 6. 7 Siehe hierzu und zum Folgenden den EU-Sachstand, Der Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union – Nächste Schritte im Verfahren nach Artikel 50 EU-Vertrag (Aktualisierung), PE-Dok 261/2016 vom 26. September 2016, sowie Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand der Kommentierung: 45. EL (August 2011), Art. 50 EUV Rn. 24 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 224/16 Seite 5 Konkret bedeutet dies, dass die Bundesregierung den Bundestag über das Austrittsverfahren umfassend, zum frühestmöglichen Zeitpunkt und fortlaufend informiert, Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG, § 3 EUZBBG. Die Bundesregierung stellt dabei gemäß § 3 Abs. 1 S. 4 EUZBBG sicher, dass diese Unterrichtung die Befassung des Bundestages ermöglicht. Die Unterrichtung erstreckt sich unter anderem auf die Willensbildung der Bundesregierung, die Vorbereitung und den Verlauf der Beratungen innerhalb der Organe der Europäischen Union, § 3 Abs. 2 S. 1 EUZBBG. Ferner gibt gemäß § 8 EUZBBG die Bundesregierung vor ihrer Mitwirkung an dem Verfahren zur Verhandlung des Austrittsabkommens dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme. Gibt der Bundestag eine Stellungnahme ab, legt die Bundesregierung diese ihren Verhandlungen zugrunde, § 8 Abs. 2 EUZBBG. 4. Regelung der künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich Es ist weiter davon auszugehen, dass für die Regelung der künftigen Beziehungen – insbesondere der Handelsbeziehungen – zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich ein weiteres Abkommen geschlossen wird. Denkbar ist dabei eine Form der Assoziierung nach Art. 217 AEUV oder ein Abkommen nach Art. 218 AEUV.8 Ein solches Abkommen wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch mitgliedstaatliche Kompetenzbereiche berühren und somit als sog. gemischtes Abkommen geschlossen, das in Deutschland der Ratifikation in Form eines Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 GG bedarf.9 Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Bundestages hat sich im Rahmen einer Sachverständigenanhörung mit den Beteiligungsrechten des Bundestages bei derartigen Abkommen befasst.10 Ob während der Verhandlung eines gemischten Abkommens hinsichtlich des Vertragsteils, bei dem Deutschland Vertragspartner ist, Informationspflichten der Bundesregierung nach Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG bestehen, wurde von den Sachverständigen nicht einheitlich beurteilt. Teilweise wurde die Anwendung von Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG als möglich angesehen, teilweise wurden Informationspflichten durch eine erweiterte Auslegung von Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG bzw. aus dem Grundsatz des Interorganrespekts hergeleitet. 8 Siehe Lippert/von Ondarza, Der Brexit als Neuland, SWP-Aktuell 42 (Juli 2016), S. 2, abrufbar unter http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2016A42_lpt_orz.pdf (zuletzt abgerufen am 4. Oktober 2016). 9 Siehe den EU-Sachstand, Der Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union – Nächste Schritte im Verfahren nach Artikel 50 EU-Vertrag (Aktualisierung), PE-Dok 261/2016 vom 26. September 2016, S. 7. 10 Siehe zum Folgenden den zusammenfassenden Aktenvermerk des Ausschusses unter https://www.bundestag .de/blob/427828/e2fb6a9f57ebf8bcecea5b95ade6a23c/antwortschreiben-data.pdf (zuletzt abgerufen am 5. Oktober 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 224/16 Seite 6 5. Anpassungen des Primärrechts der Europäischen Union Schließlich ist davon auszugehen, dass ein Austritt des Vereinigten Königreichs auch (redaktionelle ) Anpassungen des Primärrechts erforderlich macht.11 Diese können nicht im Rahmen des bilateralen Austrittsabkommens geregelt werden, sondern bedürfen eines Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 EUV.12 Nach der Literatur kommt hierfür ausschließlich das ordentliche Änderungsverfahren gemäß Art. 48 Abs. 2-5 EUV in Betracht.13 Derartige Änderungen bedürfen der Ratifikation durch die Mitgliedstaaten.14 In Deutschland erfolgt die Zustimmung durch Bundestag und Bundesrat in Form eines Gesetzes auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG.15 Ende der Bearbeitung 11 Siehe Lippert/von Ondarza, Der Brexit als Neuland, SWP-Aktuell 42 (Juli 2016), S. 2, abrufbar unter http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2016A42_lpt_orz.pdf (zuletzt abgerufen am 4. Oktober 2016); EU-Sachstand, Der Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union – Nächste Schritte im Verfahren nach Artikel 50 EU-Vertrag (Aktualisierung), PE-Dok 261/2016 vom 26. September 2016, S. 9. 12 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 5. Aufl. 2016, Art. 50 EUV Rn. 7. 13 Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand der Kommentierung: 45. EL (August 2011), Art. 50 EUV Rn. 10. 14 Vgl. Heintschel von Heinegg, in: Vedder/ Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 2012, Art. 50 EUV Rn. 7. 15 Ohler, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand der Kommentierung: 45. EL (August 2011), Art. 48 EUV Rn. 39; Meng, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 48 EUV Rn. 35.