© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 223/20 Drittwirkung von Grundrechten Gewährleistung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bei ungleicher Machtverteilung zwischen den Vertragspartnern im Privatrecht Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 223/20 Seite 2 Drittwirkung von Grundrechten Gewährleistung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bei ungleicher Machtverteilung zwischen den Vertragspartnern im Privatrecht Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 223/20 Abschluss der Arbeit: 5. Oktober 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 223/20 Seite 3 1. Fragestellung Mit Blick auf die Praxis von Unternehmen, auch bei Wohnungsmietverträgen vor Vertragsabschluss bei Auskunfteien Informationen über die Bonitätsbewertung von Mietinteressenten einzuholen, wird um Informationen zur Drittwirkung von Grundrechten, insbesondere des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sowie zu den Schutzpflichten, die den Staat diesbezüglich treffen, gebeten. 2. Drittwirkung von Grundrechten Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte die gesetzgebende Gewalt, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Eine unmittelbare Wirkung entfalten die Grundrechte daher grundsätzlich nur im Verhältnis zwischen dem Staat und dem Bürger. Private sind grundrechtsberechtigt, nicht grundrechtsverpflichtet,1 und können aufgrund der aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Privatautonomie ihre individuellen Rechtsbeziehungen grundsätzlich frei gestalten .2 Eine Ausnahme besteht, wenn das Grundgesetz die unmittelbare Wirkung der Grundrechte für Private ausdrücklich anordnet, so etwa in Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, der die Nichtigkeit privatrechtlicher Abreden, die die Koalitionsfreiheit einschränken, bestimmt.3 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG entfaltet in Bezug auf Privatrechtsbeziehungen nach überwiegender Auffassung nur eine abgeschwächte Wirkung, die sog. mittelbare Drittwirkung.4 Der Regelungsgehalt der Grundrechte fließt über die Auslegung des einfachen Rechts in das Privatrecht ein, insbesondere über die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln (bspw. § 134, § 138, § 242, § 823, § 1004 BGB).5 Da sich in der Sache dabei regelmäßig kollidierende Grundrechtspositionen gegenüberstehen, muss die informationelle Selbstbestimmung häufig in einem sehr komplexen Prozess mit anderen Grundrechten (hier insbesondere mit der Vertragsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG) einer Abwägung unterzogen werden.6 Die Reichweite der mittelbaren Grundrechtswirkung hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.7 1 Dreier, in: ders., Grundgesetz, 3. Auflage 2013, Art. 1 Abs. 3 Rn. 38. 2 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, 90. EL Februar 2020, Art. 2 Abs. 1 Rn. 101 f. 3 De Wall/Wagner, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, in: JA 2011, 734 (736). 4 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, 90. EL Februar 2020, Art. 1 Abs. 3 Rn. 64. 5 Vgl. BVerfG NJW 2018, 1667 (1668). 6 Vgl. Dreier, in: ders., Grundgesetz, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 1 Rn. 97. 7 BVerfG NJW 2018, 1667 (1668). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 223/20 Seite 4 Ausführlich zur Wirkung der Grundrechte im Privatrecht siehe Rüfner, Wirkung der Grundrechte im Privatrecht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Auflage, 2011, 823 - 842. Anlage 1 Bezogen auf die versicherungsvertragliche Obliegenheit zur Schweigepflichtentbindung bei Berufsunfähigkeitsversicherungsverträgen hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt entschieden, dass die aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung folgende Schutzpflicht es gebiete, diese versicherungsvertragliche Obliegenheit hinreichend eng auszulegen, um dem Versicherten die Möglichkeit zur informationellen Selbstbestimmung zu bieten. Zwar stehe es dem Individuum frei, Daten anderen gegenüber zu offenbaren oder sich vertraglich dazu zu verpflichten. Habe aber in einem Vertragsverhältnis ein Partner ein solches Gewicht, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen könne, so sei es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen der beteiligten Parteien hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehre. Mangels gesetzlicher Regelungen über den informationellen Selbstschutz obliege es den Zivilgerichten, einen wirksamen Schutz der informationellen Selbstbestimmung zu gewährleisten. Denkbar wäre insoweit die Anerkennung von Kooperationspflichten, die sicherstellten, dass Versicherte und Versicherung im Dialog ermitteln, welche Daten zur Abwicklung des Versicherungsfalls erforderlich seien. Die Anforderungen an diesen Dialog festzulegen und Vorgaben für seine Ausgestaltung zu machen, zähle zu den Aufgaben der Zivilgerichte.8 3. Schutzpflichten des Gesetzgebers zur Gewährung des informationellen Selbstbestimmungsrechts unter Privaten Einen allgemeinen Überblick zum Grundrechtsschutz im Privatrechtsverkehr und den Schutzpflichten des Gesetzgebers bietet Papier, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz in der digitalen Gesellschaft, NJW 2017, 3025 - 3031. Anlage 2 Papier führt aus, dass die Grundrechte den Staat nicht nur dazu verpflichten, sich selbst grundrechtsverletzender Eingriffe zu enthalten, sondern auch einen angemessenen Schutz vor Beeinträchtigungen durch Dritte zu begründen und durchzusetzen. Der Gesetzgeber habe einen angemessenen Ausgleich zwischen den bedrohten Freiheitsrechten auf der einen Seite und den ebenfalls grundrechtlich abgesicherten Gewährleistungen der Privatautonomie, der unternehmerischen Betätigung sowie des Privateigentums auf der anderen Seite herzustellen. Aus der Verfassung könne keine bestimmte „Handlungsvorgabe“ abgleitet werden. Bei der Ausgestaltung der Schutzpflichten komme dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Nach der 8 BVerfG, NJW 2013, 3086; vorher schon BVerfG DVBl 2007, 111. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 223/20 Seite 5 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei erst dann von einer Verletzung von grundrechtlichen Schutzpflichten auszugehen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen seien, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückblieben.9 Papier weist zudem darauf hin, dass der Gesetzgeber sich in Ansehung seiner Schutzpflichterfüllung auch zurücknehmen könne, wenn und soweit unionsrechtliche Gesetzgebung , wie etwa im Datenschutz durch die Datenschutz-Grundverordnung, sich dieser Aufgabe in hinreichendem Maße annehme. Mit der Ausgestaltung des Datenschutzes im Mietrecht beschäftigt sich der Aufsatz von Eisenschmid, Datenschutz im Miet- und Wohnungseigentumsrecht, NZM 2019, 313 - 327. Anlage 3 Darin wird auch auf die datenschutzrechtliche Bewertung der Bonitätsabfrage bei Auskunfteien eingegangen. Siehe dazu aber auch Stemmer, in: Wolff/Brink (Hrsg.), BeckOK Datenschutzrecht, 33. Edition, Stand: 01.08.2020, DSGVO Art. 7 Rn. 48 - 50, Anlage 4 Dieser betont, dass es eine Frage des Einzelfalles sei, ob sich die ungleiche Machtverteilung zwischen Vermieter und Mieter auf die Einwilligung auswirke und die Freiwilligkeit entfallen lasse. *** 9 Siehe nur BVerfGE 125, 39 (78 f.).