© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 223/18 Aufnahmeprogramme der Länder nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/18 Seite 2 Aufnahmeprogramme der Länder nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 223/18 Abschluss der Arbeit: 27. Juni 2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Aufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG 4 2.1. Bestimmte Ausländergruppen 4 2.2. Entschließungsermessen 4 2.3. Ausgestaltungsermessen 5 2.4. Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern 6 3. Verwaltungspraxis 7 3.1. Aufnahmeprogramme zugunsten syrischer Flüchtlinge 7 3.2. Sonderkontingent für Opfer traumatisierender Gewalt aus dem Nordirak 9 4. Aufnahme im Zusammenhang mit ziviler Seenotrettung 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/18 Seite 4 1. Fragestellung Gefragt wird nach den rechtlichen Rahmenbedingungen für die humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen sog. Länderaufnahmeprogramme und nach ihrer Umsetzung in der Praxis. Dabei soll auch erläutert werden, ob eine Aufnahme von Flüchtlingen, die von zivilen Seenotrettungsschiffen gerettet wurden, in Betracht kommt. Soweit ein solches Landesaufnahmeprogramm das Einvernehmen des Bundesministeriums des Innern (BMI) erfordern würde, soll geprüft werden, ob dieses bei einer Weigerung des BMI auf andere Weise hergestellt werden könnte. 2. Aufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG Nach § 23 Abs. 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Eine weitere Rechtsgrundlage für die Aufnahme von Ausländergruppen durch die Länder besteht nicht. Die humanitäre Aufnahme nach § 22 AufenthG bezieht sich allein auf Einzelfälle und erfolgt auf Anordnung des BMI. Die Aufenthaltsgewährung durch die Länder in Härtefällen nach § 23a AufenthG betrifft ebenfalls Einzelfälle und beschränkt sich auf vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer. 2.1. Bestimmte Ausländergruppen Die Anordnung der obersten Landesbehörde zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG kommt für Ausländergruppen aus bestimmten Staaten oder für „in sonstiger Weise bestimmte Ausländergruppen“ in Betracht. Dabei kann sich die Anordnung auf Ausländergruppen beziehen, die sich im Ausland oder auch im Inland aufhalten.1 2.2. Entschließungsermessen Die oberste Landesbehörde kann eine Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland erteilen. Die hier fraglichen humanitären Gründe liegen vor, wenn der Einsatz zugunsten anderer Menschen, die sich in Not oder Bedrängnis befinden, auf moralischen oder sittlichen Überlegungen beruht.2 Nicht erforderlich ist das Vorliegen dringender humanitärer Gründe, wie sie in § 22 AufenthG vorausgesetzt werden. Die Weite des Tatbestandsmerkmals der „humanitären Gründe“ begründet ein weites Entschließungsermessen der obersten Landesbehörde, das eine 1 Vgl. Stiegeler, in: Hofmann, Ausländerrecht (2. Aufl., 2016), Rn. 4 zu § 23 AufenthG. Zur Anwendbarkeit des § 23 Abs. 1 AufenthG im Zusammenhang mit sog. Bleiberechtsregelungen gemäß § 60a Abs. 1 S. 2 AufenthG siehe auch Göbel-Zimmermann, in: Huber, Aufenthaltsgesetz (2. Aufl., 2016), Rn. 2 ff. zu § 23 AufenthG. 2 Siehe nur Göbel-Zimmermann (Fn. 1), Rn. 11 zu § 23 AufenthG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/18 Seite 5 gerichtliche Überprüfung weitgehend ausschließt.3 Dementsprechend kommt auch ein Rechtsanspruch auf die Erteilung einer Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG nicht in Betracht.4 2.3. Ausgestaltungsermessen Die oberste Landesbehörde verfügt auch über ein weites Ermessen bei der Ausgestaltung der Anordnung (Ausgestaltungsermessen). Sie ist befugt, den Kreis der begünstigten Ausländergruppen nach bestimmten Kriterien abzugrenzen, Ausnahmetatbestände zu definieren5 sowie ein festes Aufnahmekontingent festzulegen.6 Ferner sind räumliche und zeitliche Beschränkungen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zulässig.7 Insbesondere kann die Anordnung gemäß § 23 Abs. 1 S. 2 AufenthG unter der Bedingung erfolgen, dass Verpflichtungserklärungen nach § 68 AufenthG abgegeben werden. Mit einer Verpflichtungserklärung gemäß § 68 AufenthG wird die Haftung für den Lebensunterhalt sichergestellt. Konkret verpflichtet sich der Verpflichtungsgeber, für einen Zeitraum von fünf Jahren sämtliche öffentliche Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum sowie der Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, § 68 Abs. 1 S. 1 AufenthG.8 Bei der Ausgestaltung einer Anordnung gemäß § 23 Abs. 1 AufenthG sind ferner die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen für Aufenthaltstitel nach § 5 AufenthG zu beachten.9 Zu unterscheiden ist dabei zwischen den Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG und den Versagungsgründen in § 5 Abs. 4 AufenthG. Die Regelerteilungsvoraussetzungen in § 5 Abs. 1 AufenthG setzten u.a. voraus, dass die Identität und die Staatsangehörigkeit des Ausländers geklärt sind, kein Ausweisungsinteresse besteht und die Passpflicht erfüllt wird. § 5 Abs. 2 AufenthG erfordert grundsätzlich die Einreise des Ausländers mit dem erforderlichen Visum. Von diesen Regelungserteilungsvoraussetzungen kann nach § 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG jedoch u.a. für den Fall einer Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden. Eine Abweichung von den Versagungsgründen des § 5 Abs. 4 AufenthG kommt jedoch nur in begründeten Ausnahmefällen in Betracht. Grundsätzlich ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu versagen, wenn ein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 2 oder 4 AufenthG besteht. Dieses Ausweisungsinteresse bezieht sich auf Ausländer, die die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik gefährden oder die sich zur Verfolgung politischer oder 3 Hailbronner, Ausländerrecht (Stand: Februar 2008), Rn. 6 zu § 23 AufenthG; Bergmann/Röcker, in: Bergmann/ Dienelt, Ausländerrecht (12. Aufl., 2018), Rn. 8 zu § 23 AufenthG. 4 Siehe nur Hailbronner (Fn. 3), Rn. 5 zu § 23 AufenthG. 5 Hailbronner (Fn. 3), Rn. 15 zu § 23 AufenthG. 6 Vgl. Hecker, in: Kluth/Heusch, Beck`scher Onlin-Kommentar Ausländerrecht (Stand: November 2016), Rn. 9 zu § 23 AufenthG 7 Hailbronner (Fn. 3), Rn. 15 zu § 23 AufenthG. 8 Ausführlich hierzu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verpflichtungserklärungen im Rahmen von Aufnahmeprogrammen der Länder nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (WD 3 - 3000 - 054/17). 9 Vgl. Bergmann/Röcker (Fn. 3), Rn. 4 zu § 23 AufenthG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/18 Seite 6 religiöser Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufrufen oder mit Gewaltanwendung drohen. Die genannten Versagungsgründe begrenzen das Ausgestaltungsermessen der obersten Landesbehörde.10 Dies soll auch für die Fälle eines nach § 11 AufenthG erteilten Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbots gelten.11 Im Übrigen wird das Ermessen der obersten Landesbehörden bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Anordnung durch das verfassungsrechtlich verankerte Willkürverbot begrenzt, dessen Grenzen erreicht sind, wenn die Nichtberücksichtigung bestimmter Personen nicht mehr verständlich ist und deshalb willkürlich erscheint.12 2.4. Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern Die Anordnung der obersten Landesbehörde bedarf zu ihrer Wirksamkeit des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern, § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG.13 Das Einvernehmen mit dem BMI ist ausdrücklich „zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit“ herzustellen. Dabei dient das Einvernehmen des BMI zum einen der Wahrung der Bundesinteressen.14 Darüber hinaus zielt es darauf ab, die Interessen der anderen Bundesländer durch eine einheitliche Behandlung bestimmter humanitärer Fälle zu gewährleisten.15 Diese Einheitlichkeit sei schon wegen der mit der Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich verbundenen Freizügigkeit der Ausländer im Bundesgebiet erforderlich.16 In der Praxis wird das Einvernehmen zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit durch Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) hergestellt.17 Dabei richtet sich das Beschlussverfahren auf die Zustimmung des BMI zur Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG.18 Die Beschlüsse der IMK zielen darauf ab, für die gruppenspezifische Aufnahme von Ausländern im Wesentlichen gleiche Grundsätze aufzustellen.19 In diesem Sinne basieren 10 Vgl. Hecker (Fn. 6), Rn. 8 zu § 23 AufenthG. 11 So Hecker (Fn. 6), Rn. 8 zu § 23 AufenthG. 12 Hailbronner (Fn. 3), Rn. 12 zu § 23 AufenthG m.w.N.; Stiegeler (Fn. 1), Rn. 5 zu § 23 AufenthG. 13 Siehe dazu nur Göbel-Zimmermann (Fn. 1), Rn. 16 zu § 23 AufenthG. 14 Siehe dazu die Begründung des Gesetzentwurfs in BT-Drs. 15/420, 77: „Die Wahrung der Bundesinteressen erfolgt in den Fällen der Gruppenaufnahme durch die Einholung des Einvernehmens des Bundesministeriums des Innern (…).“ 15 Hecker (Fn. 6), Rn. 10 zu § 23 AufenthG mit Verweis auf BT-Drs. 15/420, 77: „Die Entscheidung über die Gruppenaufnahme hat erhebliche Auswirkungen auch auf die anderen Länder, sie bedarf zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit daher des Einvernehmens des Bundesministeriums des Innern.“ 16 Hailbronner (Fn. 3), Rn. 18 zu § 23 AufenthG. 17 Vgl. Göbel-Zimmermann (Fn. 1), Rn. 17 zu § 23 AufenthG; Stiegeler (Fn. 1), Rn. 6 zu § 23 AufenthG. 18 Maaßen/Koch, in: Kluth/Hund/Maaßen, Handbuch Zuwanderungsrecht (2. Aufl., 2017), Rn. 534 zu § 4. 19 Göbel-Zimmermann (Fn. 1), Rn. 17 zu § 23 AufenthG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/18 Seite 7 auch die Länderprogramme zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge mit Verwandten in der Bundesrepublik seit 2013 auf einem entsprechenden IMK-Beschluss.20 Rechtlich notwendig sind solche IMK-Beschlüsse allerdings nicht.21 Auch folgt aus ihnen keine Verpflichtung, entsprechende Aufnahmeprogramme anzuordnen.22 Die Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG ergeht – als Verwaltungsinnenrecht – regelmäßig als Ministererlass und verpflichtet die Ausländerbehörden bei Vorliegen der in der Anordnung vorgesehenen Voraussetzungen zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis. 3. Verwaltungspraxis Zur Praxis der Länderaufnahmeprogramme nach § 23 Abs. 1 AufenthG gibt es – soweit ersichtlich – keine umfassende Zusammenstellung. Als Beispiele werden im Folgenden die von fast allen Bundesländern getragenen Aufnahmeprogramme zugunsten syrischer Flüchtlinge sowie das von Baden-Württemberg durchgeführte Aufnahmeprogramm für Opfer traumatisierender Gewalt aus dem Nordirak näher erläutert. 3.1. Aufnahmeprogramme zugunsten syrischer Flüchtlinge Im Herbst 2013 beschlossen die Bundesländer (außer Bayern), privat finanzierte Aufnahmeprogramme auf Grundlage des § 23 Abs. 1 AufenthG ins Leben zu rufen. Diese wurden teilweise mehrfach verlängert.23 Aufgrund des weiten Gestaltungsspielraums der Bundesländer sind die ergangenen Anordnungen der verschiedenen obersten Landesbehörden teilweise unterschiedlich ausgestaltet.24 So ist in den meisten Fällen der begünstigte Personenkreis auf syrische Staatsangehörige beschränkt, teilweise sind aber auch Staatenlose erfasst25 oder die Anordnung wurde später 20 So Hertel/Karpenstein, Humanitäre Landesaufnahme und der Bund – zur Reichweite des „Einvernehmens“ des Bundesinnenministeriums gem. § 23 I Aufenthaltsgesetzes, ZAR 2015, 373, allerdings ohne Nennung einer Fundstelle für den IMK-Beschluss. 21 Maaßen/Koch (Fn. 18), Rn. 530 zu § 4: „Allerdings werden derartige Anordnungen regelmäßig nur besondere – auf landesspezifischen Besonderheiten beruhende – Fallgestaltungen betreffen können, weil das BMI anderenfalls im Interesse einer bundeseinheitlichen Verfahrensweise und zur Vermeidung isolierter Anordnungen nach § 23 Abs. 1 AufenthG in aller Regel nicht zustimmen dürfte.“ 22 Siehe Maaßen/Koch (Fn. 18), Rn. 529 zu § 4; Hailbronner (Fn. 3), Rn. 17 zu § 23 AufenthG. 23 Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa – Jahresgutachten 2017, abrufbar unter. https://www.svr-migration .de/wp-content/uploads/2017/10/SVR_Jahresgutachten_2017.pdf, 51. 24 Eine Übersicht über die verschiedenen Anordnungen der Bundesländer von 2013 und deren Verlängerungen findet sich auf der Internetseite von Pro Asyl, abrufbar unter: https://www.proasyl.de/thema/aufnahmeprogramme /syrien-aufnahmeprogramme/. 25 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Resettlement und humanitäre Aufnahme in Deutschland. Fokusstudie der deutschen nationalen Kontaktstelle für das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN), Working Paper 68 (2016), abrufbar unter: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/EMN/Studien/wp68-emnresettlemen -humanitaere-aufnahme.pdf?__blob=publicationFile, 41. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/18 Seite 8 auf Staatsangehörige anderer Länder ausgedehnt.26 Das grundsätzliche Verfahren lässt sich jedoch wie folgt beschreiben: In Deutschland lebende Verwandte des begünstigten Personenkreises können bei der örtlichen Ausländerbehörde einen Antrag auf „Vorabzustimmung für die Visumserteilung“ stellen.27 Zu den hierfür erforderlichen Unterlagen zählt insbesondere eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG zur Übernahme der Lebenshaltungskosten der aufzunehmenden Person. Verpflichten können sich in den meisten Bundesländern neben den Verwandten auch Dritte, wie Freunde, Bekannte oder Organisationen.28 Hinzu kommen in der Regel ein Einkommensnachweis, Nachweise zum Verwandtschaftsverhältnis (soweit vorhanden), Kopien von Identitätsdokumenten der aufzunehmenden Person sowie Angaben zu deren Erreichbarkeit im Ausland für die deutsche Botschaft.29 Die Ausländerbehörde prüft sodann die Bonität der Verpflichtungsgeber und die Verwandtschaftsverhältnisse.30 In den meisten Aufnahmeprogrammen der Länder sind nur Verwandte ersten und zweiten Grades, namentlich Ehegatten, Eltern, Kinder, Großeltern, Enkel oder Geschwister sowie deren Ehegatten und minderjährige Kinder mögliche Begünstigte. Die Antragsteller selbst mussten sich seit Anfang 2013 – bzw. nach späterer Anpassung der Anordnungen seit mindestens einem Jahr – in Deutschland aufhalten.31 Wird der Antrag von der Ausländerbehörde genehmigt, schickt sie eine Vorabzustimmung an die deutsche Botschaft im Ausland.32 Die zuständige Auslandsvertretung kontaktiert sodann die einreisewillige Person, um die Erteilung eines Visums zu ermöglichen.33 Im Visumverfahren findet eine Überprüfung der einreisewilligen Person durch die Sicherheitsbehörden statt und die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen müssen 26 In Berlin wurde die Aufnahmeregelung bspw. am 30.01.2017 auch auf irakische Flüchtlinge ausgeweitet, vgl. hierzu die Informationen auf der Internetseite des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, Aufnahmeregelung für syrische und irakische Flüchtlinge mit Verwandten in Berlin, abrufbar unter: https://www.berlin .de/labo/willkommen-in-berlin/einreise/syrische-fluechtlinge/artikel.376315.php. 27 IQ Fachstelle Einwanderung, Humanitäre Aufnahmeprogramme der Länder als Steuerungsinstrumente der Fluchtmigration, Kompakt 03/2018, abrufbar unter: https://www.netzwerk-iq.de/fileadmin/Redaktion/Downloads /Fachstelle_Einwanderung/Publikationen_2018/FE_Kompakt-Resettlement-2.0_18-03-17_01.pdf, 2. 28 Vgl. die Verlängerung der Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG des Thüringer Ministeriums für Migration, Justiz und Verbraucherschutz vom 27. 12. 2016, abrufbar unter: https://resettlement.de/wp-content/uploads /2016-12-27-Th%C3%BCr.-Aufnahmeanordnung-Syrien-Merkblatt.pdf. 29 Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin (Fn. 26). 30 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Fn. 25), 43. 31 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Fn. 25), 41. 32 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Fn. 25), 42. 33 Merkblatt der deutschen Auslandsvertretungen für in Deutschland lebende Angehörige syrischer Flüchtlinge zu den Aufnahmeprogrammen der Bundesländer vom 24. September 2013, abrufbar unter: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2013/10/Merkblatt_fuer_Buergeranfragen-Laenderprogramme.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/18 Seite 9 ebenfalls vollständig vorliegen.34 Soweit dem Ausländer aufgrund der Anordnung eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, ist die Auslandsvertretung daran gebunden und kann keine abweichende Ermessensentscheidung treffen.35 Kann die einreisewillige Person keinen Reisepass vorlegen, aber die Identität anders nachweisen, kann die zuständige deutsche Auslandsvertretung ihr gemäß den §§ 5 und 7 Aufenthaltsverordnung einen Reiseausweis ausstellen.36 Die anschließende Einreise muss selbständig finanziert und organisiert werden.37 Alle Anordnungen enthalten darüber hinaus ausdrückliche Ausschlussklauseln für verurteilte Straftäter bzw. Menschen mit mutmaßlichen Verbindungen zu kriminellen Organisationen oder terroristischen Vereinigungen.38 3.2. Sonderkontingent für Opfer traumatisierender Gewalt aus dem Nordirak Im Herbst 2014 verkündete der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, ein Kontingent von 1000 traumatisierten Opfern der Terrormiliz „Islamischer Staat“, vorwiegend Frauen und Kinder jesidischer Glaubensrichtung, aus dem Nordirak aufnehmen zu wollen.39 Durchgeführt wurde diese Aufnahme auf Basis von § 23 Abs. 1 AufenthG.40 Die Vorbereitung erfolgte durch eine Projektgruppe vor Ort im Irak. Für die konkrete Auswahl der begünstigten Personen konnten zunächst kurdische Regierungsstellen, Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen mittels eines Formulars Personen vorschlagen, die dann medizinisch untersucht und von einem Traumatologen begutachtet wurden. Die Auswahl erfolgte durch eine gemeinsame Beschlussfassung des 34 Vgl. dazu die Anordnung des Innenministeriums Baden-Württemberg nach § 23 Abs. 1 AufenthG vom 28.08.2013 (Az.: 4-13-SYR/10), https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2013/09/2013-08-28_Ergaenzende_Aufnahmeanordnung _BW_fuer_syrische_Fluechtlinge.pdf; Erlass der Senatsverwaltung für Inneres und Sport des Landes Berlin vom 25.09.2013, http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/Berlin_Aufnahmeanordnung_Fam_Syrien _Sept2013.pdf; Anordnung des Ministeriums des Innern des Landes Brandenburg nach § 23 Abs. 1 AufenthG vom 20.09.2013, http://bravors.brandenburg.de/verwaltungsvorschriften/nr_09_2013; Erlass des Ministeriums für Inneres und Sport Mecklenburg-Vorpommern vom 26.09.2013 (Az.: II 217-35310-2013/022-002), https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2013/10/Aufnahmeanordnung_nach____23_Abs_1_Aufenth G_mit_Zeichnung.pdf. 35 Bundesministerium des Innern, Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009, abrufbar unter: http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/pdf/BMI-MI3-20091026-SF-A001.pdf, Nr. 23.1.1.2. 36 Vgl. z.B. den Erlass der Senatsverwaltung für Inneres und Sport des Landes Berlin vom 25.09.2013, http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/Berlin_Aufnahmeanordnung_Fam_Syrien_Sept2013.pdf. 37 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Fn. 25), 42. 38 Vgl. dazu nur die Anordnung des Innenministeriums Baden-Württemberg nach § 23 Abs. 1 des AufenthG vom 28.08.2013 (Az.: 4-13-SYR/10), abrufbar unter: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2013/09/2013-08- 28_Ergaenzende_Aufnahmeanordnung_BW_fuer_syrische_Fluechtlinge.pdf. 39 Siehe dazu die Berichterstattung der Badischen Zeitung vom 30.12.2016, abrufbar unter: http://www.badischezeitung .de/suedwest-1/vor-zwei-jahren-entschloss-sich-das-land-traumatisierte-jesidinnen-aufzunehmen-- 131861096.html. 40 LT-Drs. 16/861 (Baden-Württemberg), abrufbar unter: https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files /dokumente/WP16/Drucksachen/0000/16_0861_D.pdf, 3 ff., auch zum Folgenden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/18 Seite 10 Projektleiters, des begutachtenden Psychologen und einer Kollegin der Visastelle. Auch im Rahmen dieses Programms wurde für die einreisewilligen Personen sodann ein Visumverfahren, unter Beteiligung des Generalkonsulats Erbil, durchgeführt. Dabei fand eine Überprüfung der Personen durch die deutschen Sicherheitsbehörden statt. 4. Aufnahme im Zusammenhang mit ziviler Seenotrettung Fraglich ist, ob nach § 23 Abs. 1 AufenthG auch eine Aufnahme von Flüchtlingen in Betracht kommt, die von zivilen Seenotrettungsschiffen gerettet wurden. Da ein konkreter Vorschlag für eine solche Anordnung nicht vorliegt, beschränken sich die folgenden Ausführungen darauf, die grundsätzlich zu beachtenden rechtlichen Rahmenbedingungen zu erläutern. Eine humanitär begründete Anordnung, den von zivilen Rettungsschiffen geretteten Flüchtlingen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, dürfte grundsätzlich im Rahmen des den obersten Landesbehörden nach § 23 Abs. 1 AufenthG eingeräumten Entschließungsermessens liegen. Zum einen stellt die so eingegrenzte Personengruppe eine „auf andere Weise bestimmte Ausländergruppe“ im Sinne des § 23 Abs. 1 AufenthG dar. Darüber hinaus erscheint es naheliegend, dass gerade die besonderen Umstände der zivilen Seenotrettung von Flüchtlingen – z.B. aufgrund der Verweigerung ihrer Aufnahme von nächstgelegenen Staaten41 – eine Lage begründen, die eine humanitäre Maßnahme im Sinne moralischer oder sittlicher Überlegungen (siehe oben Ziff. 2.2.) tragen. Diese besonderen Umstände könnten auch in Bezug auf die Ausübung des Ausgestaltungsermessens eine Begrenzung der begünstigten Ausländergruppen willkürfrei rechtfertigen. Im Rahmen des Ausgestaltungsermessens wäre zu erwägen, ob und inwieweit vom Vorliegen der Regelerteilungsvoraussetzungen aus § 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG abgewichen werden soll. Angesichts der Umstände, in denen sich die aus Seenot geretteten Flüchtlinge befinden, dürften einige Regelerteilungsvoraussetzungen, z.B. die Erfüllung der Passpflicht, von den Betroffenen kaum zu erfüllen sein. Auf welche Weise sich das nach § 23 Abs. 1 S. 2 AufenthG mögliche Erfordernis von Verpflichtungserklärungen für die aus Seenot geretteten Flüchtlinge praktisch umsetzen ließe, kann von hier aus nicht abschließend beurteilt werden. In diesem Zusammenhang ist aber darauf hinzuweisen, dass nicht nur Verpflichtungserklärungen von Privatpersonen in Betracht kommen, sondern auch solche von internationalen Organisationen, Kirchen oder karitativen Organisationen.42 Unabhängig davon wären jedenfalls die Versagungsgründe nach § 5 Abs. 4 und § 11 AufenthG bei der Ausgestaltung der Länderanordnung zu berücksichtigen. 41 Vgl. hierzu die Berichterstattung über das ausländische Rettungsschiffe betreffende Hafenverbot Italiens in der FAZ vom 24.06.2018, Gefangen auf offener See, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/seenotretter -im-mittelmeer-gefangen-auf-offener-see-15657098.html. Zu den völker- und europarechtlichen Fragen eines solchen Hafenverbots siehe auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Der italienische Verhaltenskodex für private Seenotretter im Mittelmeer (WD 2 - 3000 - 068/17). 42 Vgl. Göbel-Zimmermann (Fn. 1), Rn. 6 zu § 23 AufenthG. Siehe dazu auch die Begründung des Gesetzentwurfs in BT-Drs. 15/420, 77: „In Satz 2 wurde die Möglichkeit aufgenommen, die Anordnung von der Übernahme der mit der Aufnahme verbundenen Kosten abhängig zu machen. Hiermit soll insbesondere den humanitären Interessen international tätiger Körperschaften, beispielsweise der Kirchen, Rechnung getragen werden können.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/18 Seite 11 Das Einvernehmen des BMI schließlich kann als zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung nicht durch eine andere Maßnahme ersetzt werden. Auch besteht kein Anspruch auf die Erteilung des Einvernehmens durch das BMI. Bei Unstimmigkeiten könnte das BMI sein Einvernehmen mit bestimmten Maßgaben (z.B. Befristung) erteilen.43 Gerügt werden könnte die Versagung des Einvernehmens allenfalls dann, wenn sich das BMI hierfür nicht auf die „Wahrung der Bundeseinheitlichkeit“ beruft.44 In der Praxis dürfte es für die Erteilung des Einvernehmens mit dem BMI insbesondere darauf ankommen, ob im Rahmen des üblichen IMK-Beschlussverfahrens eine Einigung über die wesentlichen Grundsätze der fraglichen Länderaufnahmeprogramme erzielt werden kann. *** 43 Maaßen/Koch (Fn. 18), Rn. 534 zu § 4 sehen im Einvernehmen ein „Korrektur- und Letztentscheidungsrecht“ des BMI. 44 Kritisch in Bezug auf die „Wahrung der Bundeseinheitlichkeit“ bei einer Verknüpfung des Einvernehmens mit einer Verpflichtung der Länder, den Bund von etwaigen Folgekosten der Landesaufnahmeprogramme freizustellen, Hertel/Karpenstein (Fn. 21).