© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 223/17 Obergrenze nach dem Bundesvertriebenengesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/17 Seite 2 Obergrenze nach dem Bundesvertriebenengesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 223/17 Abschluss der Arbeit: 30.11.2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/17 Seite 3 1. Fragestellung Die Ausarbeitung thematisiert rechtliche Möglichkeiten zur Übertragung des Regelungsgedankens von § 27 Abs. 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) auf Asylverfahren. Dabei geht es nicht um eine direkte Anwendbarkeit der genannten Regelung im Asylrecht, sondern um eine Übertragung des rechtlichen Grundprinzips. 2. Obergrenze nach § 27 Abs. 4 BVFG Nach § 26 BVFG wird Personen, die die Aussiedlungsgebiete als Spätaussiedler verlassen wollen, um in Deutschland ihren ständigen Aufenthalt zu nehmen, ein Aufnahmebescheid erteilt. Voraussetzung eines solchen Aufnahmebescheides ist die Erfüllung der in § 27 BVFG niedergelegten Voraussetzungen. Zu diesen zählt nach § 27 Abs. 4 BVFG, dass für jedes Kalenderjahr nur so viele Aufnahmebescheide erteilt werden dürfen, dass die Zahl der aufzunehmenden Spätaussiedler, Ehegatten und Abkömmlinge die Zahl der vom Bundesverwaltungsamt im Jahre 1998 verteilten Personen im Sinne der §§ 4, 7 BVFG nicht überschreitet. Diese in Abs. 4 aufgenommene Quotierung bewirkt, dass in der Praxis eine Obergrenze von etwa 100.000 Personen gilt. Die Vorgängerregelung, die als Grundlage noch auf den durchschnittlichen Zuzug der Jahre 1991 und 1992 abstellte, gelangte zu einer Obergrenze von ca. 225.000 Personen. Aufgrund der zurückgegangen Anwendungsfälle wurde die Obergrenze seit dem Jahr 2000 nicht mehr erreicht.1 Ihre Begründung fand die Obergrenze in dem Gedanken einer sozialverträglichen Integration von Spätaussiedlern, deren Grenze vom Gesetzgeber bei den genannten 100.000 Personen gesehen wurde.2 3. Verfassungsrechtlicher Rahmen nach Art. 116 Abs. 1 GG Die Regelungen im Bundesvertriebenengesetz gehen auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 116 Abs. 1 GG zurück. Die Vorschrift beinhaltet neben den allgemeinen Aussagen zur deutschen Staatsangehörigkeit auch Regelungen für die sog. Statusdeutschen. Danach ist Deutscher im Sinne des Grundgesetzes, wer als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling im Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat. Welche Personen zur Gruppe der Flüchtlinge oder Vertriebenen deutscher Volkszugehörigkeit zählen, wird in den §§ 1 bis 6 BVFG einfachgesetzlich näher definiert. Allgemein zählt man zu den Flüchtlingen und Vertriebenen Personen, die ihren Wohnsitz außerhalb des heutigen Bundesgebiets hatten und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen am Ende des Zweiten Weltkriegs durch Vertreibung oder Flucht verloren haben.3 Die betroffenen Personen müssen sich bereits vor ihrer Vertreibung zum Deutschtum bekannt haben. Zur Bestimmung dieses Bekenntnisses kann 1 Vgl. zum Ganzen: Herzog/Westphal, 2. Aufl. 2014, § 27 BVFG Rn. 74. 2 Vgl. BT-Drs. 14/1636, S. 176; VGH Mannheim, Urteil vom 23.06.2001 - 13 S 2555/99 -, juris Rn. 30. 3 Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, 34. Ed. 2017, Art. 116 GG Rn. 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/17 Seite 4 auf Umstände wie Abstammung, Sprache, Erziehung oder einem Bekenntnis zur deutschen Kulturgemeinschaft abgestellt werden.4 Neben diesen Merkmalen muss eine betroffene Person auch Aufnahme gefunden haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt dies voraus, dass der Betroffene mit dem Zuzug einen ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet erstrebt und aufgrund eines Tätigwerdens oder sonstigen Verhaltens der Behörden der Schluss gerechtfertigt ist, dass ihm die Aufnahme nicht verweigert wird.5 Seit dem Jahr 1990 besteht für die Aufnahme ein förmliches Aufnahmeverfahren im Bundesvertriebenengesetz. Dieses regelt die Aufnahme im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG abschließend und stellt daher eine Tatbestandsvoraussetzung für die Anerkennung als Statusdeutscher dar.6 Nach der Rechtsprechung gewähre Art. 116 Abs. 1 GG Vertriebenen weder ein Einreise- noch ein Bleiberecht, sondern setzte für den Status als Deutscher die vorherige Aufnahme voraus.7 Das Bundesverfassungsgericht führt zum Begriff des Aufnahmefindens aus: „Der gesetzlich nicht definierte Begriff des "Aufnahmefindens" darf nicht im Sinne eines bloßen "Aufenthaltnehmens" verstanden werden (…); erforderlich ist vielmehr ein behördlicher Akt, mit dem bekundet wird, daß sich der Betreffende hier auf Dauer niederlassen dürfe; die Aufnahme setzt demnach die Begründung eines legalen Aufenthalts voraus.“8 Im Ergebnis stellt daher das positive Durchlaufen des Anerkennungsverfahrens nach § 27 BVFG die Voraussetzung dar, überhaupt die Eigenschaft als Statusdeutscher zu erlangen. Erst mit dem Durchlaufen des Verfahrens treten dann die Rechtsfolgen des Art. 116 Abs. 1 GG ein.9 Demnach kann die in § 27 Abs. 4 BVFG festgelegte Obergrenze auch nicht als Beschränkung des Art. 116 Abs. 1 GG angesehen werden. 4. Übertragbarkeit der Obergrenze in die Systematik des Art. 16a GG Nach Art. 16a Abs. 1 genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Das Asylrecht ist als subjektives Individualgrundrecht ausgestaltet.10 Auf dieses Recht kann sich ein politisch Verfolgter berufen, wenn er das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland erreicht.11 Er darf grundsätzlich nicht 4 Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, 34. Ed. 2017, Art. 116 GG Rn. 13. 5 BVerwG, Urteil vom 11.11.2003 – 1 C 35/02 –, juris Rn. 13. 6 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.05.2014 – OVG 2 M 27.12 –, juris Rn. 8. 7 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.05.2014 – OVG 2 M 27.12 –, juris Rn. 9 unter Verweis auf: BVerfG, Beschluss vom 09.08.1990 – 2 BvR 1782/88 –, juris Rn. 3. 8 BVerfG, Beschluss vom 09.08.1990 – 2 BvR 1782/88 –, juris Rn. 3. 9 Vgl. Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, 34. Ed. 2017, Art. 116 GG Rn. 17. 10 Vgl. Maaßen, in: Epping/Hillgruber, 34. Ed. 2017, Art. 16a GG Rn. 49. 11 Vgl. BVerwG, Urteil vom 26.06.1984 - 9 C 196/83 , juris Rn. 10; . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/17 Seite 5 an der Grenze zurückgewiesen werden.12 Zur Durchführung eines Asylverfahrens kommt ein Asylsuchender zudem in den Genuss aufenthaltsrechtlicher Vorwirkungen.13 Bis zum Abschluss seines Asylverfahrens ist ihm daher nach § 55 des Asylgesetzes (AsylG) der Aufenthalt zu gestatten. Von dieser Grundkonzeption bestehen aufgrund der Neukonzeptionierung des Asylgrundrechts im Jahr 1993 und der europäischen Vorgaben zahlreiche Abweichungen, insbesondere für Asylsuchende aus sicheren Drittstaaten.14 Für die Übertragbarkeit der Obergrenzenregelung in § 27 Abs. 4 BVFG soll daher von der dargestellten Grundkonzeption ausgegangen werden. Danach spricht wenig für eine Übertragbarkeit des Obergrenzenkonzepts aus § 27 Abs. 4 BVFG auf das Asylrecht. Wie dargelegt wurde, bestehen zwischen Art. 16a GG und Art. 116 Abs. 1 GG gewichtige systematische Unterschiede. Anders als Asylberechtigten nach Art. 16a GG verleiht Art. 116 Abs. 1 GG den potenziellen Statusdeutschen weder ein Einreiserecht, noch ein Recht auf Aufenthalt. Auch Vorwirkungen, wie sie dem Asylrecht immanent sind, bestehen bei Art. 116 Abs. 1 GG nicht. Erst das vollständige Durchlaufen des Aufnahmeverfahrens führt dazu, dass jemand als Statusdeutscher angesehen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen grundsätzlichen Unterschied ausdrücklich betont. In einer Entscheidung zur Auslegung des Art. 116 Abs. 1 GG führt es aus: „Die Gerichte sind davon ausgegangen, daß dem Beschwerdeführer ein "vorläufiges Bleiberecht" im Bundesgebiet nicht zustehe, nachdem sein Antrag auf Erteilung eines Vertriebenenausweises von der zuständigen Behörde bereits abgelehnt worden sei. Diese Auffassung ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Ein solches Bleiberecht besteht für Ausländer, die in der Bundesrepublik Deutschland einen Antrag auf Ausstellung eines Vertriebenenausweises gestellt haben, im allgemeinen nicht (…). Anders als im Asylverfahren geht es in einem Verfahren, in dem der Betroffene die Ausstellung eines Vertriebenenausweises begehrt, weil er Abkömmling eines Vertriebenen deutscher Volkszugehörigkeit sei, nicht um den Schutz des Betreffenden vor - möglicherweise - drohenden Maßnahmen eines anderen Staates. Ein vorläufiger Schutz vor derartigen Maßnahmen, wie ihn das vorläufige Bleiberecht des Asylbewerbers vorrangig vermitteln soll, scheidet in diesem Zusammenhang gleichfalls aus.“15 Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht in seinen Ausführungen, dass das Asylrecht eine Entscheidung vor der Einreise über eine Aufnahme grundsätzlich nicht kennt. Da es erst ab Erreichen der deutschen Grenze überhaupt greift, wäre ein solcher Ansatz auch von vorherein systemfremd. 12 BVerfG, Kammerbeschluss vom 25.08.1992 – 2 BvR 1433/92 –, juris Rn. 17 ff.; Maaßen, in: Epping/Hillgruber, 34. Ed. 2017, Art. 16a GG Rn. 50; siehe hierzu jedoch die Regelung des § 18 Abs. 2 AsylG, der insbesondere eine Zurückweisung bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat vorsieht. 13 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.01.2010 – 1 B 1/09 –, juris Rn. 12; Maaßen, in: Epping/Hillgruber, 34. Ed. 2017, Art. 16a GG Rn. 51 14 Vgl. hierzu: Gnatzy, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, 13. Aufl. 2014, Art. 16a GG Rn. 11 ff. 15 BVerfG, Kammerbeschluss vom 09.08.1990 – 2 BvR 1782/88 –, juris Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 223/17 Seite 6 Aufgrund dieser Regelungsunterschiede ist es damit schwer zu begründen, die Obergrenzenregelung des § 27 Abs. 4 BVFG auf Asylverfahren zu übertragen. 5. Übertragbarkeit auf europäische Vorgaben In der Rechtspraxis beruht die weit überwiegende Zahl der Asylverfahren auf europarechtlichen Vorgaben.16 Eine Übertragbarkeit der Obergrenzenregelung in § 27 Abs. 4 BVFG auf diese Regelungen scheidet bereits aufgrund der Autonomie des Europarechts aus. Die Einführung einer Obergrenze, die Verbindlichkeit auch für die europarechtlichen Vorgaben beansprucht, müsste sich daher unmittelbar in diese einfügen. Eine solche Regelung müsste folglich auf der europäischen Rechtsebene erfolgen.17 6. Ergebnis Einer Übertragbarkeit der Obergrenzenregelung in § 27 Abs. 4 BVFG auf Asylverfahren stehen die strukturellen Regelungsunterschiede der Art. 16a und 116 Abs. 1 GG entgegen. *** 16 Maaßen, in: Epping/Hillgruber, 34. Ed. 2017, Art. 16a GG Rn. 10; Dörig/Langenfeld: Vollharmonisierung des Flüchtlingsrechts in Europa, NJW 2016,1 (2). 17 Vgl. zu möglichen Obergrenzenregelungen auf der europäischen Ebene: Ausarbeitung des Fachbereichs Europa der Unterabteilung Europa zum Thema: Obergrenzen für Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge im Lichte des EU-Rechts vom 16.12.2015 - Az. PE 6 - 3000 - 153/15); Dörig/Langenfeld: Vollharmonisierung des Flüchtlingsrechts in Europa, NJW 2016,1.