© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 222/20 Ausgewählte Fragen zum Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (BT-Drs. 19/22504) Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 222/20 Seite 2 Ausgewählte Fragen zum Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (BT-Drs. 19/22504) Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 222/20 Abschluss der Arbeit: 6. Oktober 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 222/20 Seite 3 1. Einleitung Der Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (BT-Drs. 19/22504)1 ist durch die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD vorgelegt worden, um das weitere Anwachsen der Anzahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu verhindern und dadurch seine Handlungsfähigkeit und Akzeptanz in der Bevölkerung zu sichern. Diese Ausarbeitung behandelt ausgewählte Fragen zu den Auswirkungen des geänderten Bundeswahlgesetzes auf die Anzahl der Abgeordneten (bezogen auf die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017) (unter 2.), zu der Möglichkeit eines sog. negativen Stimmgewichts (3.) sowie zu dem Nichtausgleich von bis zu 3 Überhangmandaten (4.). Auf die im Gesetzentwurf ebenfalls enthaltene Absenkung der Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 280 sowie auf die Einsetzung der Reformkommission wird auftragsgemäß nicht eingegangen. Die für die Prüfung maßgebliche Regelung ist § 6 Bundeswahlgesetz in der neuen Fassung (BWG n.F.), die nach dem Gesetzentwurf wie folgt lauten soll (vorgeschlagene Änderungen fett durch den Verfasser hervorgehoben): § 6 Wahl nach Landeslisten (1) 1Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste abgegebenen Zweitstimmen zusammengezählt. 2Nicht berücksichtigt werden dabei die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die ihre Erststimme für einen im Wahlkreis erfolgreichen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 20 Absatz 3 oder von einer Partei vorgeschlagen ist, die nach Absatz 3 bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wird oder für die in dem betreffenden Land keine Landesliste zugelassen ist. 3Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Absatz 1) wird die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber abgezogen, die in Satz 2 genannt sind. (2) 1In einer ersten Verteilung wird zunächst die Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Absatz 1) in dem in Satz 2 bis 7 beschriebenen Berechnungsverfahren den Ländern nach deren Bevölkerungsanteil (§ 3 Absatz 1) und sodann in jedem Land die Zahl der dort nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze auf der Grundlage der zu berücksichtigenden Zweitstimmen den Landeslisten zugeordnet. 2Jede Landesliste erhält so viele Sitze, wie sich nach Teilung der Summe ihrer erhaltenen Zweitstimmen durch einen Zuteilungsdivisor ergeben. 3Zahlenbruchteile unter 0,5 werden auf die darunter liegende ganze Zahl abgerundet, solche über 0,5 werden auf die darüber liegende ganze Zahl aufgerundet. 4Zahlenbruchteile , die gleich 0,5 sind, werden so aufgerundet oder abgerundet, dass die Zahl der zu vergebenden Sitze eingehalten wird; ergeben sich dabei mehrere mögliche Sitzzuteilungen , so entscheidet das vom Bundeswahlleiter zu ziehende Los. 5Der Zuteilungsdivisor ist so zu bestimmen, dass insgesamt so viele Sitze auf die Landeslisten entfallen, wie Sitze zu vergeben sind. 6Dazu wird zunächst die Gesamtzahl der Zweitstimmen aller zu berücksichtigenden Landeslisten durch die Zahl der jeweils nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze geteilt. 7Entfallen danach mehr Sitze auf die Landeslisten, als Sitze 1 Vorabfassung vom 15. September 2020, verfügbar unter: https://dipbt.bundestag .de/doc/btd/19/225/1922504.pdf (letzter Abruf am 5. Oktober 2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 222/20 Seite 4 zu vergeben sind, ist der Zuteilungsdivisor so heraufzusetzen, dass sich bei der Berechnung die zu vergebende Sitzzahl ergibt; entfallen zu wenig Sitze auf die Landeslisten, ist der Zuteilungsdivisor entsprechend herunterzusetzen. (3) 1Bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. 2Satz 1 findet auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung. (4) 1Von der für jede Landesliste so ermittelten Sitzzahl wird die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des Landes errungenen Sitze (§ 5) abgerechnet. 2In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben einer Partei auch dann, wenn sie die nach den Absätzen 2 und 3 ermittelte Zahl übersteigen. (5) 1Die Zahl der nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze wird so lange erhöht, bis jede Partei bei der zweiten Verteilung der Sitze nach Absatz 6 Satz 1 mindestens die Gesamtzahl der ihren Landeslisten nach Satz 2 und 3 zugeordneten Sitze erhält. 2Dabei wird jeder Landesliste der höhere Wert aus entweder der Zahl der im Land von Wahlbewerbern der Partei in den Wahlkreisen nach § 5 errungenen Sitze oder dem auf ganze Sitze aufgerundeten Mittelwert zwischen diesen und den für die Landesliste der Partei nach der ersten Verteilung nach den Absätzen 2 und 3 ermittelten Sitzen zugeordnet. 3Jede Partei erhält mindestens die bei der ersten Verteilung nach den Absätzen 2 und 3 für ihre Landeslisten ermittelten Sitze. 4Bei der Erhöhung bleiben in den Wahlkreisen errungene Sitze, die nicht nach Absatz 4 Satz 1 von der Zahl der für die Landesliste ermittelten Sitze abgerechnet werden können, bis zu einer Zahl von drei unberücksichtigt. 5Die Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Absatz 1) erhöht sich um die Unterschiedszahl. (6) 1Die nach Absatz 5 zu vergebenden Sitze werden in jedem Fall bundesweit nach der Zahl der zu berücksichtigenden Zweitstimmen in dem in Absatz 2 Satz 2 bis 7 beschriebenen Berechnungsverfahren auf die nach Absatz 3 zu berücksichtigenden Parteien verteilt. 2In den Parteien werden die Sitze nach der Zahl der zu berücksichtigenden Zweitstimmen in dem in Absatz 2 Satz 2 bis 7 beschriebenen Berechnungsverfahren auf die Landeslisten verteilt; dabei wird jeder Landesliste mindestens die nach Absatz 5 Satz 2 für sie ermittelte Sitzzahl zugeteilt. 3In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben einer Partei auch dann, wenn sie die nach Satz 1 ermittelte Zahl übersteigen . 4In diesem Fall erhöht sich die Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Absatz 1) um die Unterschiedszahl; eine erneute Berechnung nach Satz 1 findet nicht statt. 5Von der für jede Landesliste ermittelten Sitzzahl wird die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des Landes errungenen Sitze (§ 5) abgerechnet. 6Die restlichen Sitze werden aus der Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt. 7Bewerber, die in einem Wahlkreis gewählt sind, bleiben auf der Landesliste unberücksichtigt. 8Entfallen auf eine Landesliste mehr Sitze, als Bewerber benannt sind, so bleiben diese Sitze unbesetzt . (7) 1Erhält bei der Verteilung der Sitze nach den Absätzen 2 bis 6 eine Partei, auf die mehr als die Hälfte der Gesamtzahl der Zweitstimmen aller zu berücksichtigenden Parteien entfallen ist, nicht mehr als die Hälfte der Sitze, werden ihr weitere Sitze zugeteilt, bis Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 222/20 Seite 5 auf sie ein Sitz mehr als die Hälfte der Sitze entfällt. 2Die Sitze werden in der Partei entsprechend Absatz 6 Satz 2 bis 6 verteilt. 3In einem solchen Falle erhöht sich die nach Absatz 5 ermittelte Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Absatz 1) um die Unterschiedszahl. 2. Berechnung der Absenkung der Abgeordnetenzahl bezogen auf die Bundestagswahl 2017 Die Umsetzung der Ergebnisse einer Bundestagswahl einschließlich der Berechnung der Gesamtzahl der Abgeordneten, der Gesamtzahl der Mandate einer Partei (einschließlich sog. Überhang- und Ausgleichsmandate) und der Zuweisung der Mandate zu den Landeslisten einzelner Parteien erfolgt nach dem Bundeswahlgesetz in der geltenden Fassung in einem aufwendigen mehrstufigen Berechnungsverfahren. Dieses kann in einzelnen Rechenschritten für die Bundestagswahl 2017 anhand der offiziellen Informationsbroschüre des Bundeswahlleiters nachvollzogen werden.2 Die Berechnung zu der Bundestagswahl 2017 erfolgte somit anhand der Erststimmenabgabe der Wahlkreise (Direktmandate) sowie der Zweitstimmenabgabe nach Landeslisten. Dabei konnten sog. Überhangmandate entstehen, sofern eine Partei in einem Land mehr Direktmandate erreichte als ihrer Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zustanden. Für diese Überhangmandate wurde den anderen Parteien im Rahmen einer bundesweiten Gesamtrechnung ein voller Ausgleich (sog. Ausgleichsmandate) gewährt, sodass durch die Erhöhung der Gesamtzahl der Abgeordneten das Zweitstimmenverhältnis gewahrt wurde. Dabei gab es insgesamt 36 Überhangmandate für die CDU, 7 Überhangmandate für die CSU und 3 Überhangmandate für die SPD.3 Deswegen erhielten die SPD, AfD, Grüne und Linke Ausgleichsmandate, sodass die Gesamtanzahl von Abgeordneten von der in § 1 BWG vorgesehen Regelgröße von 598 auf 709 angewachsen ist. Das BWG n.F. führt insoweit zwei Modifikationen bei der Mandatszuweisung ein: Zum einen bleiben die Überhangmandate im Rahmen einer sog. landesweiten Mindestsitzzahl weiterhin möglich, sie werden jedoch mit den Mindestsitzzahlen anderer Länder teilweise verrechnet (sog. Kompensation 4 – siehe Regelung in § 6 Abs. 5 S. 2 und 3 BWG n.F.). Zum anderen werden bis zu 3 Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate ausgeglichen (sog. Tolerierung – siehe Regelung in § 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F.). Wendet man die genannte Kompensationsregelung auf die Berechnung von 2017 an,5 so entfallen bei der Berechnung der bundesweiten Mindestsitzzahl (§ 6 Abs. 5 S. 1-3 BWG n.F.) bei der CDU 6 2 Der Bundeswahlleiter, Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24. September 2017, Heft 2 Vorläufige Ergebnisse nach Wahlkreisen, erschienen im September 2017, verfügbar unter: https://www.bundeswahlleiter .de/dam/jcr/12d53093-cd70-4645-824a-228961412aa5/btw17_heft2.pdf (letzter Abruf am 5. Oktober 2020). 3 Siehe Information des Bundeswahlleiters (Fn. 2), S. 388. 4 Siehe zu den Schlagwörtern der einzelnen Regelungsbestandteile Grotz/Pukelsheim, FAZ vom 7. September 2020, S. 6., https://www.faz.net/aktuell/politik/bundestagswahlrecht-fehlleistung-wahlrechtsreform-16940863.html (letzter Abruf am 5. Oktober 2020). 5 Siehe hierzu die detaillierte fiktive Berechnung der Neureglung auf die Bundestagswahl von 2017 Pukelsheim, Stellungnahme zum Gesetzesentwurf des Bundeswahlgesetze, vom 2. Oktober 2020, Anlage 5 S. 1 ff., https://www.bundestag.de/resource/blob/796284/d75c462a3205fea3aa41af43515f8d7a/A-Drs-19-4-584-A-neudata .pdf (letzter Abruf: 5. Oktober 2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 222/20 Seite 6 von 36 Überhangmandaten, es verbleiben also 30, und bei der SPD entfallen 3 von 3. Bei der CSU ist eine Kompensation nicht möglich, weil sie nur mit einer Landesliste in Bayern angetreten ist, sodass bei ihr alle 7 Überhangmandate im Rahmen der Mindestsitzzahl verbleiben. Bei der anschließenden Sitzerhöhung nach dem sog. Sante-Laguë/Schepers-Verfahren6 schlägt sich diese Kompensationsregelung (ohne Tolerierung, dazu siehe unten) insoweit im Vergleich zum Ergebnis von 2017 nieder, dass der CSU am Ende insgesamt 46 Mandate verbleiben, die CDU statt 200 Mandate 197 hat und der SPD statt 153 Mandate 151 verbleiben. AfD, FDP, Linke und Grüne verlieren jeweils 1 Mandat und verbleiben mit jeweils 93, 79, 68 und 66 Mandaten. Die Gesamtzahl der Abgeordneten sinkt damit von 709 auf 700.7 Eine Anwendung der neuen Tolerierungsregelung für bis zu 3 Überhangmandate (§ 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F.) auf die Bundestagswahl 2017 erweist sich dagegen als schwierig. Der Nichtausgleich von bis zu 3 Überhangmandaten soll – soweit ersichtlich – im Rahmen der Erhöhung der Gesamtsitzzahl der Abgeordneten nach dem Sante-Laguë/Schepers-Verfahren erfolgen. Dieses Verfahren bedeutet vereinfacht: Die Gesamtsitzzahl der Abgeordneten wird soweit und nur soweit erhöht, bis jede Partei die zuvor für sie errechnete Mindestsitzzahl auf Bundesebene erreicht. Hierfür wird für jede Partei ein sog. Divisor aus der absoluten Zahl der für sie abgegebenen Zweitstimmen auf Bundesebene geteilt durch die ermittelte bundesweite Mindestsitzzahl errechnet. Ausschlaggebend ist danach allein der kleinste errechnete Divisor einer der Parteien. Dividiert man die absolute Anzahl der Zweitstimmen auf Bundesebene für jede einzelne Partei nunmehr durch diesen kleinsten Divisor, so erhält man für jede Partei – ggf. nach Aufrundung – ihre endgültige Sitzzahl im Bundestag. Der Nichtausgleich von bis zu 3 Überhangmandaten kann im Rahmen dieses Verfahrens nur durch Verringerung der bundesweiten Mindestsitzzahl einer der Parteien erfolgen, die – nach der erfolgten Kompensation (siehe oben) – immer noch über Überhangmandate verfügt. Bei der Bundestagswahl 2017 wären dies die CDU (30 Überhangmandate) und CSU (7 Überhangmandate), während 3 Überhangmandate der SPD bereits durch andere SPD-Landeslisten kompensiert wurden (siehe oben). Es wäre also möglich, bis zu 3 Überhangmandate entweder bei der CDU oder bei der CSU oder bei beiden gleichzeitig oder verteilt auf beide 2-1 bzw. 1-2 abzuziehen. In allen diesen Varianten wäre der im Ergebnis kleinste Divisor auch unterschiedlich, was auch zu der unterschiedlichen Berechnung der Gesamtzahl der Sitze führen würde. Eine Regelung der Frage, bei welcher Partei die 3 Überhangmandate wie abzuziehen sind, sofern es mehrere Parteien mit Überhangmandaten gibt, ist dem Gesetzentwurf jedoch nicht zu entnehmen. Auch der Begründung des Gesetzentwurfs8 ist hierzu wenig zu entnehmen. Diese spricht zwar dafür, dass insgesamt nur 3 Überhangmandate abzuziehen sind: „Der Entwurf nimmt zur Reduzierung der Bundestagsgröße drei Überhangmandate 6 Siehe Information des Bundeswahlleiters (Fn. 2), S. 391, 415. 7 Zum gleichen rechnerischen Ergebnis kommen Grotz/Pukelsheim (Fn. 4) bei der Anwendung der Neuregelung auf die Bundestagswahl 2017: „ohne Überhänge endet die Unionsmodifikation bei 700 […], die SPD-Regelung bei 700 […]“. 8 Siehe BT-Drs. 19/22504 (Fn. 1), S. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 222/20 Seite 7 in Kauf“, jedoch lässt sie offen, wie und bei welcher der Parteien unter mehreren diese abzuziehen sind.9 Insofern kann hier lediglich zu Verdeutlichung einzelner Größenordnungen auf verschiedene mögliche Varianten verwiesen werden. Lässt man 3 Überhangmandate von der CDU unausgeglichen, so führt das zu einer Gesamtgröße von 697 Abgeordneten (dann ist der kleinste Divisor 63.071 bei der CSU).10 Lässt man 3 Überhangmandate von der CSU unausgeglichen, so führt das zu einer Gesamtgröße von 689 Abgeordneten (dann ist der kleinste Divisor 64.320 bei der CDU). Lässt man sowohl 3 Überhangmandate bei der CDU als auch 3 Überhangmandate bei der CSU ohne Ausgleich, so ergibt sich daraus eine Gesamtgröße von 682 Abgeordneten (dann ist der kleinste Divisor 65.332 bei der CDU). Bei der weiten Anwendung der Tolerierungsregelung nach § 6 Abs. 5 Satz 4 BWG n.F. wäre bei der Bundestagswahl 2017 also eine Absenkung der Gesamtsitze von 700 aufgrund der Kompensationsregelung weiter auf bis zu 682 Abgeordnete möglich.11 Beide Regelungen zusammen hätten also eine Ersparnis von bis zu 27 Abgeordneten gebracht. 3. Möglichkeit eines negativen Stimmgewichts Unter einem negativen Stimmgewicht versteht man eine Situation, in der weniger Zweitstimmen einer Partei mehr Sitze im Bundestag einbringen können, sodass einzelne für sie abgegebene Zweitstimmen ihr nicht nützen, sondern schaden würden.12 Diese Situation konnte z.B. bei der Bundestagswahl 2005 und insbesondere der dazugehörigen Nachwahl in Dresden entstehen. Die damals geltenden Regelungen des Bundeswahlgesetzes, die unter anderem ebenfalls unausgeglichene Überhangmandate vorsahen, wurden vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt.13 Da die Regelungen des § 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F. nun grundsätzlich mindestens bis zu 3 Überhangmandate ohne Ausgleich vorsehen und deren ggf. erforderliche Verteilung zwischen verschiedenen Parteien unklar ist (siehe oben unter 2.), kann das Entstehen eines negativen Stimmgewichts nicht 9 Die Regelung zu 3 Überhangmandaten ohne Ausgleich wird für missverständlich gehalten von Behnke, Stellungnahme zum Gesetzesentwurf des Bundeswahlgesetzes vom 2. Oktober 2020, S. 8 f., https://www.bundestag .de/resource/blob/796296/da18ff5cd124b47e4e6ba590b2626c55/A-Drs-19-4-584-D-data.pdf (letzter Abruf: 5. Oktober 2020). 10 Siehe zu Berechnung des Divisors die Tabelle in: Information des Bundeswahlleiters (Fn. 2), S. 415. 11 Grotz/Pukelsheim (Fn. 4) kommen hinsichtlich der Bundestagswahl 2017 auf das Ergebnis von 686 bzw. 675 Abgeordneten und unterscheiden noch nach verschiedenen Vorschlägen von der CDU bzw. der SPD, ohne jedoch die Berechnung offen zu legen, sodass die abweichende Berechnung nicht nachvollzogen werden kann. 12 Siehe hierzu Lübbert, Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Infobrief WD 8 - 3000 - 020/09 vom 18. März 2009, Negative Stimmgewichte und die Reform des Bundestags-Wahlrechts, abrufbar unter: https://www.bundestag .de/resource/blob/190518/f16d723fc637f4161196fe42d1a2bdc5/negative_stimmgewichte-data.pdf (letzter Abruf: 5. Oktober 2020). 13 BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 – 2 BvC 1/07 und 2 BVC 7/07, BVerfGE 121, 266; siehe auch BVerfG, Urteil vom 25. Juli 2012 - 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11 und 2 BvE 9/11, BVerfGE 131, 316. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 222/20 Seite 8 ausgeschlossen werden.14 Zwar werden durch die Kompensationsregelung in § 6 Abs. 5 S. 1-3 BWG n.F. voraussichtlich weniger Überhangmandate entstehen, jedoch werden sie dadurch nicht gänzlich vermieden. Bis zu 3 Überhangmandate ohne Ausgleich wären nach dem Gesetzentwurf sogar auf Dauer gesetzlich verankert, was möglicherweise aus verfassungsrechtlicher Sicht problematisch ist.15 Eine Konstellation mit Entstehung eines negativen Stimmgewichts erscheint nach der Neuregelung bei einer der nachfolgenden Bundestagswahlen damit nicht unwahrscheinlich. 4. Gesamtzahl der möglichen Überhangmandate ohne Ausgleich Wie oben unter 2. bereits dargelegt, ist die Regelung des § 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F. nicht eindeutig hinsichtlich der Frage, ob der Abzug von bis zu 3 Überhangmandaten bei der Berechnung der bundesweiten Mindestsitzzahl entweder bei einer oder bei mehreren Parteien vorzunehmen ist. Legt man diese Regelung mit dem Wortlaut aus § 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F.: „jede Partei“ weit aus, sodass bei jeder Partei bis zu 3 Überhangmandate ohne Ausgleich abgezogen werden können, so könnte dies dazu führen, dass insgesamt mehr als 3 Überhangmandate bei verschiedenen Parteien ohne Ausgleich bleiben. Inwieweit sich Überhangmandate auf die Fraktionsgrößen auswirken, ist nicht sicher zu prognostizieren. Es ist die freie Entscheidung jedes Abgeordneten, ob er sich einer Fraktion anschließt, und wenn ja, welcher. Schließen sich Abgeordnete, die unterschiedlichen Parteien angehören, zulässigerweise zu einer Fraktion zusammen, kann diese Fraktion von Überhangmandaten beider Parteien profitieren (so sie vorhanden sind). Eine Berechnung, wie viele Überhangmandate insgesamt maximal bei dieser weiten Auslegung der Tolerierungsregelung des § 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F. möglich wären, kann nicht sicher vorgenommen werden, da dies eine mathematische Beurteilung zu vieler verschiedener Faktoren erfordern würde. *** 14 Grotz/Pukelsheim (Fn. 4) gehen davon aus, dass ein negatives Stimmgewicht entstehen kann und führen dafür als Beispiel eine fiktive Konstellation für die CSU in Bayern auf; so ebenfalls Schönberger, Änderung des Bundeswahlgesetzes Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 5. Oktober 2020. S. 5 ff., https://www.bundestag.de/resource /blob/796286/9d448a45923aafee2b2fc97294c301cf/A-Drs-19-4-584-B-data.pdf (letzter Abruf: 5. Oktober 2020). 15 So Behnke, Bundestag: Ende des Wachstums?, Vorschläge und Perspektiven für die Wahlrechtsreform, APuZ 38/2020, S. 24, 28; Schönberger (Fn. 14), S. 6 f.