Deutscher Bundestag Die Haftung für Reaktorunglücke in Deutschland Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 222/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 222/11 Seite 2 Die Haftung für Reaktorunglücke in Deutschland Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 222/11 Abschluss der Arbeit: 27. Juni 2011 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 222/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Rechtsgrundlagen im Atomhaftungsrecht 4 2.1. Nationales Recht 4 2.2. Internationale Verträge 4 2.2.1. Das Pariser Übereinkommen und die Brüsseler Zusatzprotokolle 4 2.2.2. Das Wiener Übereinkommen 6 2.2.3. Weitere Übereinkommen 6 3. Das Haftungssystem im deutschen Atomrecht 7 3.1. Haftungsansprüche 7 3.2. Haftungshöhe 8 3.3. Deckungsvorsorge 9 3.3.1. Rechtliche Entwicklung der Deckungsvorsorge 9 3.3.2. Ausgestaltung der Deckungsvorsorge 10 4. Kosten eines Nuklearunfalls 10 4.1. Untersuchungen und Szenarien zum Ausmaß der Kosten bei AKW-Unfällen 10 4.2. Die Kosten der Katastrophe von Tschernobyl 10 5. Zusammenfassung 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 222/11 Seite 4 1. Einleitung Die Ausarbeitung untersucht, wie das System der Haftung für Schäden in Folge von Unglücken in Atomkraftwerken in Deutschland ausgestaltet ist. Da für die Frage der Haftung und der Schadensersatzpflicht sowie deren Absicherung sowohl deutsches Recht als auch multilaterale Verträge eine wichtige Rolle spielen, werden zunächst in Punkt 2 kurz die Rechtsgrundlagen im Atomhaftungsrecht vorgestellt. Unter Punkt 3 wird das deutsche Haftungssystem im Atomrecht erläutert. Zuletzt wird ein Blick auf die Kosten eines möglichen Nuklearunfalles und den hierzu vorliegenden Untersuchungen geworfen. 2. Rechtsgrundlagen im Atomhaftungsrecht 2.1. Nationales Recht Das Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz – AtG)1 enthält in seinen §§ 25 bis 40 Haftungsvorschriften. §§ 13 bis 15 AtG regeln die Deckungsvorsorge der Anlagenbetreiber. Im Atomhaftungsrecht ferner einschlägig ist die Verordnung über die Deckungsvorsorge nach dem Atomgesetz (Atomrechtliche Deckungsvorsorge-Verordnung – AtDeckV)2, die die Vorgaben der §§ 13-15 AtG konkretisiert. 2.2. Internationale Verträge Mit dem Pariser Übereinkommen von 1960 und dem Wiener Übereinkommen von 1963 gibt es zwei Basiskonventionen, die beide jeweils durch Zusatzprotokolle erweitert wurden. Neben diesen beiden Konventionen gibt es noch weitere internationale Übereinkommen, die aber in ihrer Bedeutung marginal geblieben sind.3 2.2.1. Das Pariser Übereinkommen und die Brüsseler Zusatzprotokolle Das Übereinkommen vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie (Pariser Übereinkommen – PÜ)4 wurde im Rahmen der Kernenergie-Agentur (NEA) der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erarbeitet. Noch vor seinem Inkrafttreten am 1. April 1968 wurde es durch das Zusatzprotokoll vom 28. Januar 1 Atomgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juli 1985 (BGBl. I S. 1565), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 8. Dezember 2010 (BGBl. I S. 1817) geändert worden ist. 2 Atomdeckungsverordnung vom 25. Januar 1977 (BGBl. I 1977, Nr. 8, S. 220), zuletzt geändert durch Artikel 9 Absatz 12 des Gesetzes vom 23. November 2007 (BGBl. I 2007, Nr. 59, S. 2631). 3 Eine Übersicht der multilateralen Vereinbarungen über nukleare Sicherheit und Strahlenschutz mit nationalen Ausführungsvorschriften findet sich auf der Homepage des Bundesamtes für Strahlenschutz, http://www.bfs.de/de/bfs/recht/rsh/rechtsvorschriften_E35.html [Stand: 22. Juni 2011]. 4 BGBl. 1976 II S. 310 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 222/11 Seite 5 1964 (PÜ-ZP 1964)5 ergänzt. 1982 wurde es einer formellen Revision unterzogen und ein weiteres Zusatzprotokoll am 16. November 1982 abgeschlossen (PÜ-ZP 1982).6 In dieser konsolidierten Fassung ist das Pariser Übereinkommen seit dem 7. Oktober 1988 völkerrechtlich wirksam.7 Mitgliedstaaten sind Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien , Italien, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Slowenien, Spanien und die Türkei . Luxemburg und Österreich haben das Übereinkommen nur unterzeichnet, aber nicht ratifiziert .8 Eine erneute Überarbeitung des Pariser Übereinkommens erfolgte 2004.9 Das Zusatzprotokoll vom 12. Februar 2004 ist bisher allerdings erst von der Schweiz und Norwegen ratifiziert worden.10 Es tritt gemäß Art. 20 in Kraft, sobald zwei Drittel der Vertragsstaaten es angenommen, ratifiziert oder genehmigt haben.11 Nach Art. 15 PÜ 1982 steht es jeder Vertragspartei frei, Maßnahmen zu ergreifen, um den im Übereinkommen vorgesehenen Entschädigungsbetrag zu erhöhen. Die Vertragsparteien haben sich für ein gemeinsames Vorgehen entschieden und 1963 ein Brüsseler Zusatzprotokoll unterzeichnet .12 Es wurde ebenso wie das Pariser Übereinkommen 196413 und 198214 durch Zusatzprotokolle novelliert. Die Brüsseler Zusatzprotokolle sind unselbständige völkerrechtliche Verträge, die auf den Regelungen des Pariser Übereinkommens aufbauen.15 5 Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie, BGBl. 1975 II S. 1007. 6 Protokoll zur Änderung des Übereinkommens vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964, BGBl. 1985 II S. 691, in Kraft seit 7. Oktober 1988. 7 Kissich, Internationales Atomhaftungsrecht: Anwendungsbereich und Haftungsprinzipien, 2004, S. 37 ff.; Magnus, in: Baetge/von Hein/von Hinden, Die richtige Ordnung, FS für Jan Kropholler, 2008, S. 595 (598 ff.) 8 Der aktuelle Stand der Ratifizierung ist auf der Homepage der OECD/NEA dokumentiert: http://www.nea.fr/law/paris-convention-ratification.html [Stand: 22. Juni 2011]. 9 Protokoll zur Änderung des Übereinkommens vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Juli 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982, http://www.nea.fr/law/paris-convention-protocol.html [Stand: 22. Juni 2011]. 10 Die Schweiz hat am 9. März 2009 die Ratifikationsurkunde für das Pariser Übereinkommen von 1960 und die drei Zusatzprotokolle beim Generalsekretär der OECD eingereicht. Der Beitritt der Schweiz wird erst wirksam, wenn das Zusatzprotokoll von 2004 in Kraft tritt. 11 Blobel, Das Protokoll von 2004 zum Pariser Übereinkommen – wesentliche Verbesserungen im internationalen Atomhaftungsrecht, NuR 2005, 137 (142). 12 Zusatzübereinkommen zum Pariser Übereinkommen vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie, BGBl. 1975 II S. 992. 13 BGBl. 1975 II S. 1021. 14 BGBl. 1985 II S. 698. 15 Kissich (Fn. 7), S. 42 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 222/11 Seite 6 2.2.2. Das Wiener Übereinkommen Das Übereinkommen vom 21. Mai 1963 über die zivile Haftung für Nuklearschäden (Wiener Übereinkommen – WÜ)16 entstand unter der Schirmherrschaft der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Es ist erst am 12. Januar 1977 völkerrechtlich in Kraft getreten. Im Gegensatz zum Pariser Übereinkommen, welches sich an die Mitgliedstaaten der OECD wendet, ist das WÜ als weltweite Regelung gedacht.17 Mitgliedstaaten des WÜ sind Ägypten, Argentinien, Armenien, Bolivien, Bosnien-Herzegowina, Brasilien, Bulgarien, Chile, Estland, Kamerun, Kroatien, Kuba, Lettland, Libanon, Litauen, die ehemals jugoslawische Republik Mazedonien, Mexiko, Niger, Peru, Philippinen, Polen, Moldawien, Rumänien, Russische Föderation, Serbien und Montenegro , Slowakei, St. Vincent und die Grenadinen, Trinidad und Tobago, Tschechien, Ukraine, Ungarn, Uruguay und Weißrussland. Großbritannien, Kolumbien, Israel, Marokko und Spanien haben das WÜ nur unterzeichnet.18 Das WÜ beschränkt sich auf die Errichtung eines Mindeststandards für die finanzielle Absicherung von Schäden aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie.19 Mit Protokoll vom 12. September 199720, welches am 4. Oktober 2003 in Kraft getreten ist, soll das WÜ modernisiert werden. Bisher haben jedoch nur Argentinien, Lettland, Marokko, Polen, Rumänien und Weißrussland ihre Ratifikationsurkunden bei der IAEA hinterlegt.21 Da kein Mitgliedstaat des Pariser Übereinkommens dem Wiener Übereinkommen beigetreten ist, wurde am 21. September 1988 ein Gemeinsames Protokoll zur Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens22 angenommen. Ziel des Gemeinsamen Protokolls ist es, Haftungslücken zu schließen. Tritt ein Haftungsfall in einer Vertragspartei des WÜ ein, so haftet der WÜ-Betreiber auch für Schäden, die auf dem Hoheitsgebiet der PÜ- Vertragspartei eintreten und umgekehrt.23 2.2.3. Weitere Übereinkommen Als Reaktion auf die Katastrophe von Tschernobyl ist das Übereinkommen über ergänzende Entschädigung bei Nuklearschäden vom 29. September 1997,24 welches bei Nuklearunfällen zusätzliche Entschädigungsmittel aus den Vertragsstaaten bereitstellen soll, abgeschlossen worden.25 16 UN-Treaty Series Vol. 1063, 266. 17 Magnus (Fn. 7), S. 595 (599). 18 Der aktuelle Stand der Ratifizierung ist auf der Homepage der IAEA dokumentiert: http://www.iaea.org/Publications/Documents/Conventions/liability.html [Stand: 22. Juni 2011]. 19 Kissich (Fn. 7), S. 46. 20 Siehe http://www.iaea.org/Publications/Documents/Conventions/protamend.html [Stand: 22. Juni 2011]. 21 Siehe http://www.iaea.org/Publications/Documents/Conventions/protamend_status.pdf [Stand: 22. Juni 2011]. 22 BGBl. 2001 II S. 202 ff. 23 Kissich (Fn. 7), S. 48. 24 Abrufbar unter: http://www.iaea.org/Publications/Documents/Infcircs/1998/infcirc567.shtml [Stand: 22. Juni 2011]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 222/11 Seite 7 Das Übereinkommen über die Haftung der Inhaber von Reaktorschiffen vom 25. Mai 196226 soll die Entschädigung im Falle eines Nuklearunfalls auf einem Reaktorschiff regeln. Das Übereinkommen ist völkerrechtlich allerdings nie in Kraft getreten und wird es wohl auch nicht mehr.27 Das Brüsseler Übereinkommen über den Seetransport von Kernmaterialien vom 17. Dezember 197128 ist seit dem 15. Juli 1975 völkerrechtlich wirksam. Es zielt auf eine Haftungsbefreiung des Transporteurs von Kernmaterialien auf See ab.29 3. Das Haftungssystem im deutschen Atomrecht 3.1. Haftungsansprüche Die zivilrechtliche Haftung für einen von einer Kernanlage ausgehendem nuklearen Schaden richtet sich nach § 25 Atomgesetz (AtG). Dieser verweist auf das Pariser Übereinkommen30 und das Gemeinsame Protokoll zur Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens .31 Die Haftungsregelung in § 25 Abs. 1 AtG ist gekennzeichnet durch den Grundsatz der rechtlichen Kanalisierung. Hiernach haftet allein der Anlageninhaber und nicht der Hersteller.32 Voraussetzung für die Haftung ist ferner der Eintritt eines „nuklearen Ereignisses“. Dieser Begriff wird sehr weit definiert und umfasst grundsätzlich alle Schadensfälle, bei denen es zum Austritt radioaktiver Strahlung kommt.33 Der Begriff des Schadens in § 25 Abs. 1 AtG wird von § 3 PÜ konkretisiert : es sind sowohl Schäden an Leben oder Gesundheit von Menschen als auch Schäden an oder Verlust von Vermögenswerten von der Haftung umfasst. Damit werden grundsätzlich alle Schadensfolgen durch die Norm erfasst. Ausreichend ist der Kausalitätsnachweis zwischen Schaden und nuklearem Ereignis, es liegt somit eine Gefährdungshaftung vor, die ohne Nachweis einer persönlichen Schuld greift.34 Art. 9 PÜ sieht einen Haftungsausschluss in besonderen Fällen höherer Gewalt vor, dieser Haftungsausschluss ist im deutschen Recht gemäß Art. 25 Abs. 25 Magnus (Fn. 7), S. 595 (599). 26 BGBl. II 1975 S. 957 27 Kissich (Fn. 7), S. 49 ff. 28 BGBl. 1975 II S. 957. 29 Kissich (Fn. 7), S. 51 f. 30 Siehe oben 2.2.1. 31 Siehe oben 2.2.2. 32 Kloepfer, Umweltrecht, 2004, S. 1409, Rn. 148. 33 Vgl. Anlage 1 des AtG (BGBl. I 1985, 1583); Freymann, Hans-Peter, in: Haag, Kurt (Hrsg.), Geigel – Der Haftpflichtprozess , 26. Auflage 2011, 24. Kapitel Rn. 102. 34 Junker, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, Beck-online Kommentar, 64. Ergänzungslieferung 2009, B 18. Atomhaftungsrecht, Rn. 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 222/11 Seite 8 3 Satz 1 AtG nicht vorgesehen. Unter höherer Gewalt versteht man Unglücksursachen, die auf Handlungen innerhalb eines bewaffneten Konfliktes, von Feindseligkeiten, eines Bürgerkrieges, eines Aufstandes oder auf eine schwere Naturkatastrophe zurückzuführen sind. Dieser Kategorie sind auch terroristische Anschläge zuzuordnen.35 Weitere Haftungstatbestände bestehen für Reaktorschiffe (§ 25a AtG) und als Auffangtatbestand für sonstige Störfälle (§ 26 AtG). Das Pariser Übereinkommen, das Wiener Übereinkommen und die weiteren Atomhaftungsübereinkommen beruhen auf denselben Grundsätzen, auch wenn sie im Detail beträchtlich von einander abweichen können.36 Diese Prinzipien sind im Wesentlichen:37 – Verschuldensunabhängige Haftung – Kanalisierung der Haftung auf nur eine Person – Beschränkung der Haftungshöhe – Verpflichtung der Deckung der Haftung – Zeitliche Beschränkung der Haftung – Konzentration der internationalen Zuständigkeit auf einen einzigen Gerichtsstand – Verbot der Differenzierung nach Staatsbürgerschaft, Wohnsitz oder Aufenthalt. 3.2. Haftungshöhe Das Pariser Übereinkommen in der Fassung von 1982 sieht in Art. 7 eine Begrenzung der Inhaberhaftung für eine Nuklearanlage auf 15 Mio. Sonderziehungsrechte (SZR)38 des Internationalen Währungsfonds vor. Dies entspricht ca. 16,6 Mio. Euro. Den Vertragsstaaten ist allerdings freigestellt , in ihrem nationalen Recht die Haftungssumme niedriger oder höher anzusetzen, allerdings nicht weniger als 5 Mio. SZR. Das noch nicht in Kraft getretene Protokoll von 2004 zum Pariser Übereinkommen verpflichtet in Art. 7 (a) die Vertragsparteien für die Haftung des Inhabers einen Betrag von mindestens 700 Mio. Euro zur Verfügung zu stellen.39 Das Brüsseler Zusatzübereinkommen in der Fassung von 198240 sieht vor, dass die Vertragsstaaten zusätzlich zu den Ersatzleistungen des haftpflichtigen Inhabers der Anlage einen Betrag aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellen. Art. 3 sieht eine dreistufige Entschädigungsregelung vor:41 35 Freymann, in Haag (Fn. 33), 24. Kapitel Rn. 104; m.w.N. 36 Kissich (Fn. 7), S. 61. 37 Zitiert nach Kissich (Fn. 7), 62. 38 Wechselkurs (Stand: 22. Juni 2011) 1 SZR = 1,10932 Euro. 39 Blobel (Fn. 11), 137 (140). 40 Siehe oben 2.2.1. 41 Zitiert nach Pelzer in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 2003, S. 469. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 222/11 Seite 9 – Bis zu einem Betrag von mindestens 5 Millionen SZR muss Entschädigung sichergestellt werden aus Mitteln, die der haftpflichtige Inhaber einer Kernanlage in Übereinstimmung mit der jeweiligen Ausführungsgesetzgebung zum Pariser Übereinkommen leisten muss; – Ab dem Betrag von 5 Mio. SZR und bis zu 175 Mio. SZR ist Entschädigung aus öffentlichen Mitteln des Genehmigungsstaats der Anlage des haftpflichtigen Inhabers bereitzustellen; – Ab dem Betrag von 175 Mio. SZR bis zu einem Höchstbetrag von 300 Mio. SZR ist Entschädigung aus öffentlichen Mitteln zu leisten, die von der Gesamtheit der Vertragsparteien des Zusatzübereinkommens bereitzustellen ist. Sobald das revidierte Brüsseler Zusatzabkommen von 2004 in Kraft tritt, wird der Höchstbetrag 1,5 Mrd. Euro betragen.42 Im deutschen Atomgesetz regeln die §§ 28 ff AtG den Haftungsumfang bei Tötung, Körperverletzung und Aufhebung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit. Deutschland hat sich dafür entschieden , die Haftung gegenüber den internationalen Rahmenverträgen zu verschärfen und diese gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 AtG summenmäßig unbegrenzt auszugestalten. Eine Ausnahme bildet lediglich die Haftung für Unglücksfälle, deren Ursprung auf höhere Gewalt zurückgeht. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 AtG haften die Kraftwerksbetreiber dann nur in Höhe von 2,5 Mrd. Euro. 3.3. Deckungsvorsorge Die Deckungsvorsorge dient dem Zweck, die Erfüllbarkeit der Haftungsansprüche beim Eintritt eines Schadensfalles zumindest teilweise zu gewährleisten. Dies wird erreicht, indem die Energieversorgungsunternehmen verpflichtet werden, hierfür Finanzmittel in gesetzlich normierter Höhe zur ständigen Verfügbarkeit zu halten. 3.3.1. Rechtliche Entwicklung der Deckungsvorsorge Die Betreiber von Anlagen sind zum Abschluss einer Deckungsvorsorge verpflichtet, die gemäß § 13 Abs. 2 Nr. 1 in einem angemessenen Verhältnis zur Gefährlichkeit der Anlage oder der Tätigkeit steht. Die Deckungsvorsorge sichert Schäden im Rahmen einer Höchstgrenze von 2,5 Milliarden Euro ab (§ 13 Abs. 3 Satz 2 AtG). Die Gewährleistung der Deckungsvorsorge ist gemäß Art. 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AtG unter anderem Voraussetzung für die Erteilung der Genehmigung von kerntechnischen Anlagen. Die Erhöhung der Höchstgrenze der Deckungsvorsorge auf 2,5 Milliarden Euro erfolgte mit Gesetz vom 22. April 2002 zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität43. Bis dahin hatte Art. 13 Abs. 3 Satz 2 seit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 15. Juli 1975 nur eine Höchstgrenze von 500 Millionen DM vorgesehen . Damit übertrifft Deutschland die Regelungen des Pariser Übereinkommens bezüglich der Höhe der Deckungsvorsorge deutlich. Gemäß Art. 7, 10 PÜ ist diese dort lediglich auf 15 Mio. SZR (ca. 16,6 Mio. €) festgesetzt. 42 Blobel (Fn. 11), 137 (140). 43 BGBl. I S. 1351. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 222/11 Seite 10 3.3.2. Ausgestaltung der Deckungsvorsorge Die Deckungsvorsorge kann bei Kernkraftanlagen gemäß Art. 14 Abs. 1 AtG durch eine Haftpflichtversicherung oder gemäß Art. 14 Abs. 2 AtG durch eine sonstige finanzielle Sicherheit erbracht werden, §§ 2,3 AtDeckV. Die konkrete Ausgestaltung bleibt den Kraftwerkbetreibern überlassen und wird gegenwärtig zweigleisig umgesetzt. Die Inhaber von Kernkraftwerken erbringen die Deckung bis zum Betrag von 255,645 Millionen Euro durch eine Haftpflichtversicherung ,44 darüber hinaus bis zum Höchstbetrag von 2,5 Milliarden Euro durch gegenseitige Garantiezusagen der Muttergesellschaften. Die Energieversorgungsunternehmen haben sich hierzu zu einer „Solidargemeinschaft“ verbunden. Im Schadensfall erbringen sie die Haftungssumme gemeinschaftlich , wobei jeder in festgelegter Höhe haftet. Da die Einrichtung eines Fonds gesetzlich nicht vorgeschrieben ist, wird jährlich von Wirtschaftsprüfern bestätigt, dass die notwendigen Mittel vorhanden sind.45 Die private Deckungsvorsorge wird ergänzt durch die Freistellungsverpflichtung des Bundes und des Standortbundeslandes nach §§ 34, 36 AtG. Diese kommt zum Tragen, wenn die private Deckung des Betreibers ausfällt und es daher nicht zur Ausschüttung der gesamten 2,5 Mrd. Euro kommt.46 Der Höchstbetrag der Freistellungsverpflichtung des Bundes ist wiederum auf 2,5 Milliarden Euro begrenzt, § 34 Abs. 1 Satz 2 AtG. Das heißt, dass für einen Schaden der 2,5 Milliarden Euro übersteigt, der Betreiber des Kernkraftwerkes zwar mit seinem gesamten Vermögen haftet . Ist dieses jedoch aufgebraucht und der Betreiber folglich insolvent, können diese Ansprüche nicht mehr erfüllt werden. 4. Kosten eines Nuklearunfalls 4.1. Untersuchungen und Szenarien zum Ausmaß der Kosten bei AKW-Unfällen Zu den Kostenfolgen eines schweren Kernschmelzunfalls in Deutschland existiert eine Studie der PROGNOS AG von 1992, die im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erstellt wurde. Diese Studie beziffert die Schadenshöhe bei einem solchen Unfall für Gesundheits-, Sach-, und Vermögensschäden auf bis zu 10,7 Billionen DM (ca. 5,5 Billionen Euro). 47 4.2. Die Kosten der Katastrophe von Tschernobyl Nach einer Studie der International Atomic Energy Agency (IAEA) kann die Kalkulation der Kosten des Nuklearunfalls von Tschernobyl aufgrund der 1986 und in den Folgejahren herrschenden 44 Die Erstversicherer haben sich zu der Deutschen Kernreaktor-Versicherungsgemeinschaft zusammengeschlossen, die die Funktion eines Rückversicherers hat. 45 Kloepfer (Fn. 32), S. 1409 Rn. 150. 46 Pelzer (Fn. 41), S. 461. 47 Masuhr/Wolff/Keppler, Identifizierung und Internalisierung externer Kosten der Energieversorgung, Studie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministerium der PROGNOS AG, Juni 1992, S. 119. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 222/11 Seite 11 wirtschaftlichen Situation in der Sowjetunion und den Nachfolgestaaten nur mit einem hohen Maß an Schätzung vorgenommen werden. 48 Nach dieser Studie belaufen sich die Folgekosten der Katastrophe schätzungsweise auf hunderte Milliarden Dollar. Die Umweltorganisation Greenpeace hat ein Gutachten zu den Folgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl erstellen lassen.49 Nach Schätzungen von Greenpeace werden die wirtschaftlichen Schäden bis zum Jahr 2015 auf insgesamt 201 Milliarden US-Dollar (ca. 154 Milliarden Euro) anwachsen.50 Auch aus weiteren Studien ergeben sich ähnliche Zahlen.51 5. Zusammenfassung Die Betreiber von Atomkraftwerken haften von Rechts wegen für alle potentiellen Reaktorschäden im Falle eines Unglücks. Auf Grund der immensen Schadenshöhe, den ein solches Unglück verursachen würde, ist diese Haftung jedoch faktisch auf den Betrag der Deckungsvorsorge in Höhe von 2,5 Mrd. Euro beschränkt. Eine Verschärfung der Haftungsregeln im Wege der Anhebung der Deckungsvorsorge könnte auf zwei Wegen erfolgen. Entweder gestaltet der Gesetzgeber die nationalen Vorschriften im Atomgesetz dahingehend um. Der wohl schwierigere Weg wäre eine Änderung der Bestimmungen der einschlägigen internationalen Verträge. 48 Das Erbe von Tschernobyl: Einflüsse auf Gesundheit, Umwelt sowie die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, Das Tschernobyl Forum: 2003–2005, zweite überarbeitete Ausgabe, S. 30, abrufbar unter: http://www.iaea.org/Publications/Booklets/German/chernobyl_ger.pdf [Stand: 23. Juni 2011]. 49 Large & Associates, Chernobyl - a nuclear catastrophe 20 years on, Studie v. 26. April 2006, abrufbar unter: http://www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/atomkraft/chernobyl-a-nuclear-catastro.pdf [Stand: 23. Juni 2011]. 50 Totz, „Die Folgen des Super-Gaus“, Artikel vom 26. März 2006, abrufbar unter: http://www.greenpeace.de/themen/atomkraft/atomunfaelle/artikel/die_folgen_des_super_gaus/ [Stand: 23. Juni 2011]. 51 Vgl. Fairlie/Sumner, The other report on Chernobyl (TORCH), http://www.chernobylreport.org/torch.pdf [Stand: 23. Juni 2011]; Hirsch/Becker, 17 Jahre nach Tschernobyl, April 2003, S. 4, abrufbar unter: http://www.windenergie .de/fileadmin/dokumente/Themen_A-Z/Externe%20Kosten/Studie_Greenpeace_17_Jahre_Tschernobyl.pdf [Stand: 23. Juni 2011].