Deutscher Bundestag Zur Entstehungsgeschichte von freiwilligen Aufgaben und Pflichtaufgaben der Kommunen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2010 Deutscher Bundestag WD 3 – 3000 – 221/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 2 Zur Entstehungsgeschichte von freiwilligen Aufgaben und Pflichtaufgaben der Kommunen Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 221/100 Abschluss der Arbeit: 2. Juni 2010 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Die gemeindliche Aufgabenstruktur 4 2.1. Dualistisches Modell 5 2.2. Monistisches Modell 5 3. Formen der Aufgabenwahrnehmung 5 3.1. Selbstverwaltungsaufgaben 5 3.1.1. Freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben 5 3.1.2. Pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben (Pflichtaufgaben ohne Weisung) Fehler! Textmarke nicht definiert. 3.2. Auftragsangelegenheiten bzw. Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung 7 4. Historische Entwicklung 8 4.1. Die kommunale Aufgabenwahrnehmung vor 1945 8 4.2. Der Einfluss der Besatzungsmächte auf die kommunale Aufgabenstruktur 10 4.3. Bildung der Gemeindeordnungen nach 1945 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 4 1. Einleitung Um die Frage nach der kommunalen Aufgabenstruktur beantworten zu können, muss zunächst das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung geklärt werden. Nach Art. 28 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz (GG) haben die Gemeinden hinsichtlich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltung wird durch Art. 28 Abs. 2 GG nicht als Grundrecht verbürgt1. Die Gewährleistung des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sichert den Gemeinden allerdings einen grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassenden Aufgabenbereich (Allzuständigkeit), sowie die Befugnis zu eigenverantwortlicher Führung der Geschäfte in diesem Bereich2. „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ sind diejenigen Bedürfnisse, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder zu ihr einen spezifischen Bezug haben, die also den Gemeindebürgern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der Gemeinde betreffen3.Den Gemeindeverbänden ist zwar nicht Allzuständigkeit, wohl aber im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereichs wie den Gemeinden die Eigenverantwortlichkeit garantiert4. Zum Wesensgehalt der gemeindlichen Selbstverwaltung gehört kein gegenständlich bestimmter oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbarer Aufgabenkatalog, wohl aber die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz bereits anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen sind, ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen (Universalität des gemeindlichen Wirkungskreises)5. Das Universalprinzip wirkt als eine (gesetzlich widerlegbare) Zuständigkeitsvermutung6. Nachfolgend werden die gemeindliche Aufgabenstruktur und die einzelnen von den Kommunen zu erledigenden Aufgabentypen erläutert und ihre historische Entwicklung beleuchtet. 2. Die gemeindliche Aufgabenstruktur In der Bundesrepublik Deutschland haben sich in den einzelnen Bundesländern zwei Modelle der kommunalen Aufgabenwahrnehmung herausgebildet, namentlich die dualistische und die monistische Aufgabenstruktur, denen die Gemeindeordnungen der einzelnen Bundesländer zugeordnet werden können. 1 Tettinger, Peter in: von Mangoldt, Hermann/ Klein, Friedrich, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Auflage 2005, Art. 28, Rn. 127. 2 BVerfGE 26, 228 [237 f.]; 56, 298 [312]; 59, 216 [226]. 3 BVerfGE 79, 127 (152). 4 BVerfGE 21, 117 (130). 5 BVerfGE 79, 127 (146). 6 Dreier, Horst in: Dreier, Horst, Grundgesetz, Kommentar, Band 2, 2. Auflage, 2006, Art. 28, Rn. 112. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 5 2.1. Dualistisches Modell Nach der dualistischen Aufgabenstruktur gibt es sowohl staatsfreie und originär den Kommunen zugeordnete Aufgaben, als auch Aufgaben, die vom Staat auf die Gemeinde übertragen worden sind. Das dualistische Modell unterscheidet zwischen Aufgaben des eigenen und des übertragenen Wirkungskreises. Die garantierte Selbstverwaltung erfasst die Aufgaben des eigenen Wirkungskreises , der wiederum in freie und pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben zerfällt, wobei die Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises, die sogenannten Auftragsangelegenheiten, trotz Wahrnehmung durch die Kommunen ihrer Rechtssubstanz nach staatlich bleiben7. Der dualistischen Aufgabenstruktur folgen die Bundesländer Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen , Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen. 2.2. Monistisches Modell Demgegenüber werden im monistischen Modell alle von der Gemeinde wahrgenommenen Aufgaben auch als kommunale Aufgaben angesehen, so dass trotz teilweise umfassender staatlicher Weisungsrechte dennoch immer eine gemeindliche Aufgabenwahrnehmung angenommen wird8. Damit wird in diesem Modell materiell nicht mehr zwischen Selbstverwaltungsaufgaben und übertragenen Angelegenheiten bzw. Auftragsangelegenheiten unterschieden, sondern zwischen weisungsfreien Angelegenheiten und Weisungsaufgaben9. Man differenziert also zwischen freien und pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben. Hinsichtlich der Selbstverwaltungsangelegenheiten unterscheidet sich das monistische Modell nicht vom dualistischen. Die freiwilligen und die pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben werden in eigener Verantwortung wahrgenommen. Daneben gibt es die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung10. Die dem monistischen Modell folgenden Länder haben die Auftragsangelegenheiten durch Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung ersetzt. Diesem Modell können die Bundesländer Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Schleswig-Holstein zugeordnet werden. 3. Formen der Aufgabenwahrnehmung 3.1. Selbstverwaltungsaufgaben 3.1.1. Freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben Bei den freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben entscheidet die Gemeinde eigenständig sowohl über das „Ob“ als auch über das „Wie“ der Durchführung. Der Gemeinde steht es frei die Aufgaben wahrzunehmen. Maßgeblich hängt diese Entscheidung auch von der Möglichkeit der Finanzierung ab. Die Gemeinde hat ein Aufgabenfindungsrecht in ihrem Bereich. Es entspricht also 7 Dreier, Horst, in: Dreier, Horst, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 2. Auflage 2006, Art. 28, Rn. 90. 8 Gern, Alfons, Deutsches Kommunalrecht, 3. Auflage, 2003, S. 160. 9 Gern, Alfons, Deutsches Kommunalrecht, 3. Auflage, 2003, S. 160 f. 10 Dreier, Horst in: Dreier, Horst, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 2. Auflage, 2006, Art. 28, Rn. 90. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 6 einer gesetzlich widerlegbaren Vermutung, dass es sich bei einer Aufgabe der Gemeinde um eine freiwillige handelt11. Beispielhafte Aufzählungen von Selbstverwaltungsaufgaben enthalten Art. 83 Bayerische Verfassung , § 2 Abs. 2 Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-Vorpommern und § 2 Abs. 2 Thüringer Kommunalordnung. Diese Auflistungen sind jedoch nicht abschließend und begründen auch keine Verpflichtung der Gemeinde zur Wahrnehmung der aufgeführten Aufgabe12. Die Bestimmungen stellen keine Festlegung dar, welche Aufgaben als freiwillige Aufgaben einzustufen sind. Vielmehr wird durch die Darstellung lediglich allgemein der eigene Wirkungskreis der Gemeinden definiert. Der eigene Wirkungskreis umfasst alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, also alle Aufgaben, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln, oder auf sie einen spezifischen Bezug haben , oder von ihr eigenverantwortlich und selbstständig bewältigt werden können13. Als Beispiel für den eigenen Wirkungskreis nennt Art. 83 Abs. 1 Bayerische Verfassung die Ortsplanung, die wegen des spezifischen Bezugs auf die örtliche Gemeinschaft klarer Bestandteil der gewährleisteten Selbstverwaltung ist und dem eigenen Wirkungskreis der Gemeinde zugewiesen wird14. 3.1.2. Pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben (Pflichtaufgaben ohne Weisung) Die zweite Art der Selbstverwaltungsaufgaben sind die pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben (Pflichtaufgaben ohne Weisung). Anders als bei den freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben, hinsichtlich deren Wahrnehmung die Gemeinden völlig frei sind, sind die Gemeinden zur Erledigung dieser Aufgaben gesetzlich verpflichtet15. Auch die Pflichtaufgaben sind nur zum geringen Teil unmittelbar in den Gemeindeordnungen geregelt (z. B. Trinkwasserversorgung in Art. 57 Abs. 2 Bayerische Gemeindeordnung). Die meisten Pflichtaufgaben sind in anderen (Fach-)Gesetzen festgelegt, worauf die Kommunalgesetze auch hinweisen (vgl. entsprechende Verweise in Art. 57 Abs. 1 Satz 2 Bayerische Gemeindeordnung , § 2 Abs. 3 Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-Vorpommern, § 2 Abs. 3 Thüringer Kommunalordnung). In § 2 Abs. 2 der Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg- Vorpommern wird beispielweise die Bauleitplanung als Aufgabe im eigenen Wirkungskreis der Gemeinde definiert. Die Kommunalverfassung trifft keine Festlegung, ob es sich um eine freiwillige oder pflichtige Aufgabe handelt. Erst die fachgesetzliche Regelung in § 2 Abs. 1 Baugesetzbuch (BauGB) stellt aber die Erstellung von Bebauungsplänen als Pflicht dar. Erst hieraus ergibt sich, dass die Bauleitplanung pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe ist. 11 Gern, Alfons, Deutsches Kommunalrecht, 3. Auflage 2003, S. 162. 12 Schweiger, Karl in: Nawiasky,Hans/ Schweiger, Karl/ Knöpfle, Franz, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Lief. 14 2008, Art. 83, Rn. 3; Vogelsang, Klaus/Lübking, Uwe/Ulbrich, Ina-Maria, Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl. 2005, S. 51. 13 Schweiger, Karl in: Nawiasky,Hans/ Schweiger, Karl/ Knöpfle, Franz, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Lief. 14 2008, Art. 83, Rn. 3. 14 Schweiger, Karl in: Nawiasky,Hans/ Schweiger, Karl/ Knöpfle, Franz, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Lief. 14 2008, Art. 83, Rn. 4. 15 Vogelsang, Klaus/Lübking, Uwe/Ulbrich, Ina-Maria, Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl. 2005, S. 53. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 7 Grund hierfür ist, dass die örtliche Bauleitplanung eingebettet ist in überörtliche Gesamt- und Fachplanungen16. Damit hat also die Bauleitplanung einen überörtlichen Bezug, sodass eine Verpflichtung dieser Aufgabe als notwendig erachtet wurde, um überörtliche Probleme zu vermeiden . Der Gesetzgeber hat bei der Festlegung als Pflichtaufgabe folgendes zu beachten: Formal können Pflichtaufgaben der Gemeinde grundsätzlich nur durch ein Gesetz im formellen Sinne auferlegt werden17. Da die Festlegung einer Selbstverwaltungsaufgabe als pflichtig eine Beschränkung des in Art. 28 Abs. 2 GG garantierten Selbstverwaltungsrechts der Gemeinden darstellt, setzt die Übertragung inhaltlich voraus, dass die Übertragung auf rechtfertigenden Gründen des Gemeinwohls beruhen muss und diese Gründe von höherem Gewicht sind als die Gründe, die gegen die Einschränkung des Selbstverwaltungsrechts sprechen18. Die Einschränkung des Selbstverwaltungsrechts ist zu beschränken auf dasjenige, was der Gesetzgeber zur Wahrung des jeweiligen Gemeinwohlbelangs für erforderlich halten kann, wobei er angesichts der unterschiedlichen Ausdehnung, Einwohnerzahl und Struktur der Gemeinden typisieren darf und auch im Übrigen einen grundsätzlich weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum hat19. 3.2. Auftragsangelegenheiten bzw. Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung Auftragsangelegenheiten sind Aufgaben, die der Staat, konkret die Länder20, den Gemeinden zur Ausführung übertragen21. Diese Aufgaben gehören zum übertragenen Wirkungskreis der Gemeinden und sind damit naturgemäß immer Pflichtaufgaben mit Weisungsrecht. Der Sinn der Auftragsangelgenheiten ist es, eigene staatliche Behörden einzusparen und staatliche Aufgaben und Selbstverwaltungsaufgaben bei den Gemeinden zu konzentrieren22. Die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisungen sind wie die Auftragsangelegenheiten staatliche Aufgaben, das staatliche Weisungsrecht im Rahmen der Fachaufsicht ist hier aber nicht mehr unbeschränkt; so ist der Umfang des Weisungsrechts in dem jeweiligen Gesetz, das der Gemeinde 16 Krautzenberger, Michael in: Battis, Ulrich/Krautzenberger, Michael/Löhr, Rolf-Peter, Baugesetzbuch, Kommentar , 11. Auflage, 2009, § 1, Rn. 3. 17 Im Einzelnen wurde dieser Gesetzesvorbehalt in den Gemeindeordnungen der einzelnen Bundesländer wie folgt festgesetzt: § 2 Abs. 2 Baden-Württembergische Gemeindeordnung; Art. 8 Abs. 1, Art. 57 Abs. 1 Satz 2 Bayrische Gemeindeordnung, § 3 Abs. 4 Brandenburgische Kommunalverfassung; § 3 Abs. 1 Hessische Gemeindeordnung; §§ 2 Abs. 3, 3 Abs. 1 Mecklenburg-Vorpommerische Kommunalverfassung; § 4 Abs. 1 Niedersächsische Gemeindeordnung ; § 3 Abs. 1 Nordrhein-Westfälische Gemeindeordnung; § 2 Abs. 3 Rheinland-Pfälzische Gemeindeordnung ; § 5 Abs. 3, § 6 Abs. 3 Saarländische Gemeindeordnung; § 2 Abs. 2 Sächsische Gemeindeordnung ; § 4 Abs. 1 Sachsen-Anhalt Gemeindeordnung; § 2 Abs. 2 Schleswig-Holsteinische Gemeindeordnung; § 2 Abs. 3 Thüringische Kommunalordnung. 18 BVerfG, NVwZ 1992, 365 (366); 19 BVerfG, NVwZ 1992, 365 (367). 20 Der Bund kann den Kommunen seit der Föderalismusreform von 2006 keine Aufgaben mehr übertragen (Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG). 21 Gern, Alfons, Deutsches Kommunalrecht, 3. Auflage, 2003, S. 168. 22 Vogelsang, Klaus/Lübking, Uwe/Ulbrich, Ina-Maria, Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl., 2005, S. 55. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 8 die Aufgaben zuweist, festzulegen23. Das die Auftragsangelegenheiten kennzeichnende unbeschränkte Weisungsrecht ist in diesem Bereich auf die Fälle beschränkt, in denen eine einheitliche Aufgabenerfüllung politisch erwünscht ist und die Aufgabe nur einen geringen Bezug zur örtlichen Gemeinschaft hat. Durch die Koppelung erspart das Land nicht nur eigene Behörden, darüber hinaus kommt so der Erledigung staatlicher Aufgaben die Ortskenntnis und die Vertrautheit mit den lokalen Besonderheiten zugute, über die die Kommunalverwaltung bei der Wahrnehmung der Selbstverwaltungsaufgaben verfügt24. 4. Historische Entwicklung 4.1. Die kommunale Aufgabenwahrnehmung vor 1945 Die Anfänge der modernen Selbstverwaltung und damit auch der modernen gemeindlichen Aufgabenstruktur gehen auf das Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Nach der im Zuge der französischen Revolution 1789 aufgeworfenen Frage nach der Legitimation des Staates und seiner Herrschaft begann die Rechtswissenschaft den Kreis der kommunalen Aufgaben zu analysieren. Es kristallisierte sich eine allgemeine Anschauung über einen Gegensatz von Staat und Gesellschaft heraus, nach der die Gemeinde auf der Seite der Gesellschaft stand. Hieraus entstand die Lehre vom eigenen und übertragenen Wirkungskreis, in dem der Gemeinde als „Analogon“ des Staates ein natürlicher, vorstaatlicher Aufgabenkreis zugesprochen wurde, in den der Staat ebenso wie in die Freiheitsrechte der Bürger nur Kraft Gesetzes eingreifen darf25. Daneben kann sich nach dieser Ansicht der Staat der Kommunen als dezentralisierte Verwaltungseinheit bedienen, indem er ihnen Aufgaben überträgt26. Diese Sichtweise spiegelte sich auch in der Steinschen preußischen Städteordnung vom 19. November 1808 wieder. In ihr wird der Beginn der modernen Selbstverwaltung gesehen27. Steins Leitgedanke war, den Bürger stärker zur Verwaltung des Gemeinwesens auf allen Ebenen heranzuziehen und damit eine Identifikation des Bürgers mit diesem Gemeinwesen herbeizuführen. Hierzu wurde den preußischen Städten durch Städteordnungen das Recht gegeben, die Angelegenheiten ihres eigenen Wirkungskreises in eigener Verantwortung und im eigenen Namen zu 23 Vogelsang, Klaus/Lübking, Uwe /Ulbrich, Ina-Maria, Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl., 2005, S. 56. 24 Wahl, Rainer in: Jeserich, Kurt/ Pohl, Hans/ von Unruh, Georg-Christoph, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 5, 1987, S. 232. 25 von Mohl, Robert, Enzyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Auflage 1872, S. 670; Schmidt-Eichstaedt, Gerd, Die Rechtsqualität der Kommunalaufgaben, in: Püttner, Günter, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, 2. Auflage 1983, S. 10. 26 Schmidt-Eichstaedt, Gerd, Die Rechtsqualität der Kommunalaufgaben, in: Püttner, Günter, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, 2. Auflage 1983, S. 10. 27 Jung, Eberhard, Die demokratische Legitimation der Selbstverwaltung und der Sozialwahlen in einer sich verändernden Sozialversicherungslandschaft, SGb 2007, 64 (64); Püttner, Günter, 200 Jahre preußische Städteordnung , DÖV 2008, 973 (975). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 9 regeln28. Die Staatsaufsicht wurde stark beschränkt und erstreckte sich nur noch auf einzelne konkret aufgezählte Gegenstände. Das Polizeiwesen blieb staatliche Aufgabe, konnte jedoch vom Magistrat durch Auftrag übertragen werden. Erstmalig wird die Trennung von eigenem und übertragenem Wirkungskreis normiert29. In der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919 war das Recht der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 127 verankert. Auch hier wurde den Gemeinden und Gemeindeverbänden das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze erteilt. In Art. 72 der Preußischen Verfassung vom 30. November 1920 wurde die erste gesetzliche Ausformulierung einer Unterscheidung zwischen Selbstverwaltungsangelegenheiten und Auftragsangelegenheiten getroffen, die sich allerdings auf die Provinzen bezog30: „Abs. 1: Die Provinzen verwalten nach Maßgabe des Gesetzes durch ihre eigenen Organe: a) selbständig die ihnen gesetzlich obliegenden oder freiwillig von ihnen übernommenen eigenen Angelegenheiten (Selbstverwaltungsangelegenheiten); b) als ausführende Organe des Staates die ihnen übertragenen staatlichen Angelegenheiten (Auftragsangelegenheiten ).“ Welche Aufgabe innerhalb des Systems der Weimarer Republik gehörte, wurde vom Staat entschieden . Sofern den Selbstverwaltungskörperschaften ein Mindestbestand, also ein Kern von Aufgaben erhalten blieben, die ihrem Wesen nach als Selbstverwaltungsaufgaben geeignet waren; wenn also der Wesensgehalt der Selbstverwaltung gewahrt blieb, konnte der Staat im Übrigen nach Belieben alle Aufgaben an sich ziehen, indem er sie entweder seinen Sonderbehörden übertrug oder zu Auftragsangelegenheiten mit den Gemeinden als ausführende Einheiten machte31. Im Nationalsozialismus wurden 1935 mit der Deutschen Gemeindeordnung zur Durchsetzung des Führerprinzips die Kommunen weitgehend entmachtet und die kommunale Selbstverwaltungsgarantie beseitigt32. 28 Tettinger, Peter in: von Mangoldt, Hermann/ Klein, Friedrich/ Stark, Christian, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 2005, Art. 28, Rn. 126 a; Vogelsang/Lübking/Ulbrich, Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl. 2005, S. 28 f.. 29 Vogelsang, Klaus/Lübking, Uwe /Ulbrich, Ina-Maria, Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl. 2005, S. 29. 30 Schmidt-Eichstaedt, Gerd, Die Rechtsqualität der Kommunalaufgaben, in: Püttner, Günter, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, 2. Auflage 1983, S. 13. 31 Schmidt-Eichstaedt, Gerd, Die Rechtsqualität der Kommunalaufgaben, in: Püttner, Günter, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, 2. Auflage 1983, S. 15. 32 Vogelsang, Klaus/Lübking, Uwe/Ulbrich, Ina-Maria, Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl. 2005, S. 31. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 10 4.2. Der Einfluss der Besatzungsmächte auf die kommunale Aufgabenstruktur Nach Ende des zweiten Weltkrieges entwickelte sich wieder ein regional unterschiedliches Gemeindeverfassungsrecht , welches wesentlich geprägt war durch die jeweiligen Besatzungsmächte und die Tradition des deutschen Gemeinderechts bis 1933. Zu den vorrangigen Aufgaben der Kommunen nach Ende des Krieges gehörten die Organisation der Trümmerbeseitigung, das Wiederherstellen einer verkehrs- und nachrichtentechnischen Infrastruktur , die Arbeitsvermittlung, die Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung, die soziale und gesundheitliche Fürsorge, das Verteilen von Wohnraum sowie die Versorgung jeglicher Art (Wärme, Energie etc.)33. Bereits auf ihrer Konferenz in Potsdam im Juli 1945 hatten die alliierten Siegermächte daher ein Wiedererstarken der kommunalen Selbstverwaltung beschlossen34. In der sowjetischen Besatzungszone erfolgte die verfassungsrechtliche Verankerung und zugleich Aufwertung kommunaler Strukturprinzipien im Jahre 1949 in Art. 139 der Verfassung der DDR: „ Gemeinden und Gemeindeverbände haben das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Gesetze der Republik und der Länder. Zu den Selbstverwaltungsaufgaben gehören die Entscheidung und Durchführung aller öffentlichen Angelegenheiten, die das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der Gemeinde oder des Gemeindeverbands betreffen. Jede Aufgabe ist vom untersten dazu geeigneten Verband zu erfüllen“. Entgegen dieser Bestimmung wurde die politische und wirtschaftliche Selbstständigkeit der Gemeinden im Zuge des Aufbaus der zonalen und später der Staatsverwaltung nach den Grundsätzen des demokratischen Zentralismus systematisch abgebaut35. Damit wurde auch die Aufgabenwahrnehmung der Gemeinden beschränkt und ihre Selbstverwaltung ausgehöhlt. Auch die weitere Entwicklung war von dem Bestreben gekennzeichnet, die verwaltungsorganisatorische Trennung von Staats- und Selbstverwaltung aufzuheben und die kommunalen Körperschaften in eine einheitliche Gesamtverwaltung einzubauen36, so dass von einer gemeindlichen Aufgabenstruktur in der sowjetischen Besatzungszone nicht gesprochen werden kann. Vielmehr handelte es sich nur um eine scheinbare Selbstverwaltung mit ausgehöhlten Aufgabenbereichen unter starker staatlicher Kontrolle. Dahingegen war es erklärtes Ziel der amerikanischen Besatzungsmacht, föderale Strukturen zu schaffen und die kommunale Selbstverwaltung zu stärken, um auf diese Weise zentralistische Machtstrukturen zu zerschlagen und Deutschland durch einen Wiederaufbau von „unten nach oben“ nachhaltig zu demokratisieren37. Weitgehend überließen die Amerikaner dabei den deut- 33 Groh, Christian, Neuanfänge der kommunalen Selbstverwaltung nach 1945, in: Mann, Thomas/Püttner, Günter, Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1, 3. Aufl., 2007, S. 135. 34 Groh, Christian, Neuanfänge der kommunalen Selbstverwaltung nach 1945, in: Mann, Thomas/Püttner, Günter, Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1, 3. Aufl., 2007, S. 136. 35 von Mutius, Albert, in: Jeserich, Kurt/ Pohl, Hans/ von Unruh, Georg-Christoph, Deutsche Verwaltungsgeschichte , Band 5, 1987, S. 325. 36 von Mutius, Albert, in: Jeserich, Kurt/ Pohl, Hans/ von Unruh, Georg-Christoph, Deutsche Verwaltungsgeschichte , Band 5, 1987, S. 325. 37 Dreier, Horst in: Dreier, Horst, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 2. Aufl. 2006, Art. 28, Rn. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 11 schen Behörden die Neufassung der kommunalrechtlichen Grundlagen38. Den Gemeinden wurden wieder Aufgaben zuteil, die schon früher zur kommunalen Kompetenz gehört hatten, ihnen aber im nationalsozialistischen Zentralstaat genommen wurden39. Auch die britische Besatzungsmacht befürwortete eine Dezentralisierung der Verwaltung und setzte sich für eine Erstarkung des kommunalen Aufgabenbereichs ein40. Um dieses Ziel zu erreichen führten sie zunächst für die gesamte britische Zone die sog. Council-Verfassung ein. Sie überließen den Deutschen in ihrer Besatzungszone nicht die Verantwortung für eine Neuformulierung des Kommunalrechts. In der französisch besetzten Zone wurde zunächst die auf französischer Tradition wurzelnde dualistisch strukturierte Bürgermeisterverfassung eingeführt41, die auch eine Dezentralisierung der Verwaltung und damit auch eine Erstarkung der kommunalen Aufgaben fördern sollte. 4.3. Bildung der Gemeindeordnungen nach 1945 Nach dem allmählichem Rückzug der westlichen Besatzungsmächte aus der Verwaltung wurden wieder die vor 1935 bewährten Gemeindordnungsmodelle in den einzelnen Ländern eingeführt42, in denen die Aufgabenstruktur der Kommunen mit freiwilligen und pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben sowie Auftragsangelegenheiten angelegt war. Die Aufgabenstruktur, also die generelle Gliederung der Aufgaben in Selbstverwaltungsaufgaben (pflichtige und freiwillige) und übertragene Aufgaben wurde nicht in Frage gestellt. Problematisiert wurden generell die Zugehörigkeit zum monistischen oder dualistischen Modell und mitunter auch die Zuweisung der einzelnen Aufgaben. Festlegungen hinsichtlich einer Einteilung in freiwillige oder pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben waren allerdings nicht zu ermitteln . Als Beispiel für Vorgaben in Bezug auf die Einordnung bestimmter Aufgaben ist zu nennen, dass das bayerische Staatsministerium des Inneren während der Gesetzesverhandlungen über die Bayerische Gemeindeordnung am 29. August 1951 dem Landtag einen umfassenden Katalog der Pflichtaufgaben aus dem übertragenen Wirkungskreis vorgelegt hatte43. In diesem Zusammenhang 38 Vogelsang, Klaus/Lübking, Uwe/Ulbrich, Ina-Maria, Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl. 2005, S. 32. 39 Groh, Christian, Neuanfänge der kommunalen Selbstverwaltung nach 1945, in: Mann, Thomas/Püttner, Günter, Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1, 3. Aufl., 2007, S. 135. 40 Bacmeister, Friedrich, Die Reform des deutschen Kommunalverfassungsrechts durch die britische Besatzungsmacht , 1988, S. 59. 41 Vogelsang, Klaus/Lübking, Uwe/Ulbrich, Ina-Maria, Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl. 2005, S. 32. 42 Groh, Christian, Neuanfänge der kommunalen Selbstverwaltung nach 1945, in: Mann, Thomas/Püttner, Günter, Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1, 3. Aufl., 2007, S. 135. 43 Abgedruckt in: Helmreich, Karl/ Widtmann, Julius, Bayerische Gemeindeordnung Kommentar, 3. Aufl., 1966, S. 443-450. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 221/10 Seite 12 wurde vom bayerischen Staatsministerium auch ein Versuch der Abgrenzung zwischen Aufgaben aus dem eigenem und dem übertragenem Wirkungskreis gemacht, indem die Aufgaben aus dem übertragenen Wirkungskreis als örtliche Vollzugsaufgaben im Bereich der staatlichen Verwaltung bezeichnet wurden, bei denen die Gemeinden als Selbstverwaltungskörper unter Vorbehalt eines Weisungsrechts höheren Stellen zugewiesen sein sollen44. Vor dem Hintergrund dieser Definition des übertragenen Wirkungskreises fasste das bayerische Staatsministerium unter die Pflichtaufgaben aus dem übertragenen Wirkungskreis unter anderem die Flüchtlingsbetreuung und die Jugendfürsorge45. 44 Helmreich, Karl/ Widtmann, Julius, Bayerische Gemeindeordnung Kommentar, 3. Aufl., 1966, S. 444. 45 Helmreich, Karl/ Widtmann, Julius, Bayerische Gemeindeordnung Kommentar, 3. Aufl., 1966, S. 447.