© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 220/17 Reichweite des parlamentarischen Fragerechts Zum Urteil des BVerfG vom 7. November 2017, Az. 2 BvE 2/11 Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Gegenstand des Verfahrens waren mehrere Kleine Anfragen und Schriftliche Fragen der Antragsteller aus dem Jahr 2010, die teils die Deutsche Bahn AG, teils die Finanzmarktaufsicht betrafen. Die Antragsgegnerin hatte diese Fragen nicht öffentlich oder überhaupt nicht beantwortet. Die Anträge erwiesen sich im Wesentlichen als begründet: Das Bundesverfassungsgericht stellte insoweit eine Verletzung der Antragsteller in ihren verfassungsmäßigen Rechten fest. 2. Grundlagen und Grenzen des Fragerechts nach dem Urteil Die im Wesentlichen zulässigen Anträge sind – bis auf eine Ausnahme – auch begründet. Der Senat rekapituliert zunächst seine bisherige Rechtsprechung zum Fragerecht. Er bezieht sich dabei wiederholt auf seinen grundlegenden Beschluss zu Kleinen Anfragen von 2009, vgl. dazu Anlage 1. Bereits nach der bisherigen Rechtsprechung wurde das Frage- und Informationsrecht des Bundestages (Interpellationsrecht) aus dem freien Mandat des Art. 38 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) und dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG hergeleitet und in den §§ 100 ff. der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages konkretisiert. Dem Fragerecht des Bundestages entspricht eine Antwortpflicht der Bundesregierung. Die Abgeordneten und die Fraktionen haben am Fragerecht des Bundestages teil. Informationsanspruch und Antwortpflicht haben Grenzen. Entsprechend der verfassungsrechtlichen Grundlage im Demokratieprinzip und in der daraus folgenden Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament dürfen sich Fragen nur auf Gegenstände aus dem Verantwortungsbereich der Regierung beziehen. Dabei bleibt jedoch der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung vor Ausforschung geschützt; er umfasst insbesondere die regierungsinterne Willensbildung. Innerhalb dieses Rahmens hat die Bundesregierung grundsätzlich alle Informationen mitzuteilen, über die sie bereits verfügt oder die sie mit zumutbarem Aufwand erlangen kann. Sie darf die Antwort ausnahmsweise unter Berufung auf den Grundrechtsschutz (Art. 1 Abs. 3 GG) oder das Staatswohl verweigern. Liegen berechtigte Geheimhaltungsinteressen vor, kommt anstelle der Nichtbeantwortung als milderes Mittel die nicht öffentliche Beantwortung einer Frage unter Anwendung der Geheimschutzordnung infrage. Verweigert die Bundesregierung eine Antwort oder antwortet sie nicht öffentlich, so hat sie diese Entscheidung zu begründen. Die Begründung muss so beschaffen sein, dass der Fragesteller entscheiden kann, ob er das Verhalten der Bundesregierung akzeptieren oder ob er dagegen vorgehen möchte. Der Senat betont nun die Bedeutung des Fragewesens für die demokratische Legitimation des Handelns der Exekutive. Ein hinreichendes Legitimationsniveau werde regelmäßig durch eine Kombination aus personeller und sachlich-inhaltlicher Legitimation erreicht. Letztere folge aus der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der Volksvertretung. Im Zusammenhang mit der Herleitung des Fragerechts aus dem Demokratieprinzip betont das Gericht auch die Bedeutung der Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 220/17 Seite 4 Öffentlichkeit: „Der parlamentarische Informationsanspruch ist auf Beantwortung gestellter Fragen in der Öffentlichkeit angelegt (…). Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion sind wesentliche Elemente des demokratischen Parlamentarismus (…).“ Das Gericht formuliert daher strenge Anforderungen an die Anwendung der anerkannten Grenzen des Fragerechts: Vertragliche Verschwiegenheitsregelungen könnten keine Beschränkung des Fragerechts rechtfertigen. Auch das einfache Recht und das Geschäftsordnungsrecht für parlamentarische Anfragen kämen nur insoweit in Betracht, als sie innerhalb des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums den Ausgleich zwischen dem verfassungsrechtlichen Informationsanspruch und anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang konkretisierten. 2.1. Fragen zur Deutschen Bahn Der Senat wendet sich zunächst den Fragen zur Deutschen Bahn AG zu. In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung war bisher nicht geklärt, ob zum Verantwortungsbereich der Bundesregierung im fragerechtlichen Sinn neben deren eigenem Handeln und dem Handeln nachgeordneter Behörden auch das Handeln in privatrechtlichen Rechtsformen zählt. Der Senat bejaht diese Frage: Er begründet dies mit dem bereits in anderem Zusammenhang festgestellten demokratischen Legitimationsbedarf allen amtlichen Handelns mit Entscheidungscharakter. Dies gelte auch für die erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand. Bei der Beteiligung an privatwirtschaftlichen Unternehmen könne die Verantwortlichkeit der Regierung nicht auf die ihr gesellschaftsrechtlich eingeräumten Einwirkungs- und Kontrollrechte beschränkt werden. Der Staat müsse sich ausreichende Einwirkungsrechte vorbehalten. Reichten diese Rechte nicht aus, folge daraus keine Beschränkung des Fragerechts. Die Regierung könne sich ihrer Verantwortung nicht begeben. Das Fragerecht erstrecke sich daher auch auf alle „mehrheitlich oder vollständig in der Hand des Bundes befindlichen Unternehmen in Privatrechtsform“. Im Fall der Deutschen Bahn erstrecke es sich nicht nur auf die Ausübung der Beteiligungsverwaltung durch die Regierung, die Regulierungstätigkeit der Bundesbehörden und die Erfüllung des Gewährleistungsauftrags aus Art. 87e Abs. 4 GG, sondern auch auf die unternehmerische Tätigkeit der Bahn. An der Legitimationsbedürftigkeit der unternehmerischen Tätigkeit ändere auch Art. 87e GG nichts. Solange der Bund die Gewährleistungsverantwortung für Schienenwege und Verkehrsangebote trage und Alleineigentümer der Deutschen Bahn AG sei, könne er „bei dem derzeitigen Stand der Verflechtung von Staat und Unternehmen“ nicht von der Verantwortung für die Unternehmensführung freigestellt werden. Auch der Grundrechtsschutz beschränkt das Fragerecht nach Auffassung des Gerichts hier nicht. Zwar könnten sich nach Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 3 GG grundsätzlich auch inländische juristische Personen des Privatrechts auf den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen berufen. Das gelte aber nicht für juristische Personen, deren Anteile sich ausschließlich – wie im Fall der Deutschen Bahn – oder überwiegend in den Händen des Staates befänden. Sie seien nicht grundrechtsberechtigt, sondern grundrechtsverpflichtet. Eine abwehrrechtliche Position der Bahn gegenüber dem Staat folge auch nicht aus Art. 87e Abs. 3 S. 1 GG (Führung von Eisenbahnen in privatrechtlicher Form). Das Gericht prüft die streitgegenständlichen Fragen und stellt in allen Fällen eine Rechtsverletzung der Antragsteller fest. Die Antragsgegnerin habe die Antworten jeweils „zu Unrecht verweigert“ oder habe sie jedenfalls „nicht mit der Begründung verweigern“ dürfen, die angegeben wurde. In einem Fall habe die Bundesregierung widersprüchliche Angaben zum Vorliegen der angefragten Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 220/17 Seite 5 Informationen gemacht; sie sei ggf. verpflichtet, eine Teilantwort zu geben. In einem weiteren Fall sei die Berufung auf die Unzumutbarkeit des für eine Antwort erforderlichen hohen Arbeitsaufwands „dem Rang des parlamentarischen Auskunftsrechts nicht gerecht“ geworden. Auch in den übrigen Fällen, in denen sich die Bundesregierung auf Verschwiegenheitspflichten berufen habe, habe eine hinreichende Begründung gefehlt. Die Bundesregierung sei „verpflichtet, die ihr zur Verfügung stehenden rechtlichen und faktischen Einwirkungsrechte auf das privatrechtlich organisierte öffentliche Unternehmen zu nutzen, um die erfragten Informationen zu beschaffen“. 2.2. Fragen zur Finanzmarktaufsicht Im Bereich des Finanzmarktes erstreckt sich der Verantwortungsbereich der Bundesregierung nach Auffassung des Senats nicht nur auf die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), sondern auch auf staatlich beherrschte Banken. Hier seien „(d)ie Funktionsfähigkeit staatlicher Aufsicht über Finanzinstitute, die Stabilität des Finanzmarktes und der Erfolg staatlicher Stützungsmaßnahmen in der Finanzkrise“ Belange des Staatswohls, die dem Fragerecht Grenzen setzen könnten. Schutzgut sei das Interesse der Allgemeinheit an einer funktionsfähigen Gesamtwirtschaft. Charakteristisch für den Finanzmarkt sei, dass Fehlentwicklungen nicht nur einzelne Institute, sondern den gesamten Markt erfassen könnten. Das System sei vom Vertrauen der Marktteilnehmer in funktionierende Kontrollmechanismen abhängig. Das Gericht räumt der Bundesregierung deshalb einen Einschätzungs- und Prognosespielraum ein. Für die Beschränkung des Fragerechts sei keine im Einzelfall belegbare Gefährdung der Bankenaufsicht erforderlich. „Es genügt die durch Tatsachen belegte konkrete Möglichkeit, dass durch eine Informationsweitergabe an den Deutschen Bundestag generell die Ausübung der Kontroll- und Aufsichtsaufgaben der Behörde nachteilig beeinflusst wird“. Nicht ausreichend sei wiederum die Gefahr, dass die freiwillige Unterstützung der BaFin durch beaufsichtigte Banken leiden könne. Hier wäre ggf. „gesetzgeberisch nachzusteuern“. Die Auslegung der Staatswohlbelange dürfe nicht dazu führen, dass eine faktische Bereichsausnahme entstehe, die Finanzmarktaufsicht also umfassend und dauerhaft – auch nach einer Krise – von parlamentarischer Kontrolle ausgenommen werde. Das Gericht zieht rechtsvergleichend die Kontrollmechanismen der Finanzmarktaufsicht in den Vereinigten Staaten und Großbritannien heran und leitet daraus ab, dass weitgehende Intransparenz nicht erforderlich sei. Zwar könnten sich verstaatlichte Banken nicht auf Grundrechte berufen (vgl. oben 3.1). Dennoch sei im Rahmen der Staatswohlbelange ein öffentliches Interesse am Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen anzuerkennen. Der Senat hebt auch hier die Begründungspflicht der Bundesregierung im Fall der Nichtbeantwortung oder der nicht öffentlichen Beantwortung von Fragen hervor. Die Begründung müsse die angewandte Grenze des Fragerechts benennen und eine konkrete und hinreichend ausführliche Abwägung der betroffenen Belange enthalten. Die pauschale Nennung einer der anerkannten verfassungsrechtlichen Grenzen reiche keinesfalls aus. Die Begründung dürfe nicht nur formelhaft sein. Eine substantiierte Begründung sei auch Voraussetzung für eine spätere verfassungsgerichtliche Kontrolle. Bei der Prüfung der einzelnen streitgegenständlichen Fragen stellt das Gericht auch hier – mit einer Ausnahme – die Rechtsverletzung der Antragsteller fest. Die Antragsgegnerin habe die begehrten Antworten zu Unrecht verweigert oder die Verweigerung nicht hinreichend begründet. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 220/17 Seite 6 Der Verweis auf vertraglich vereinbarte Vertraulichkeit reiche nicht aus. Ebenso wenig genüge der pauschale Verweis auf einfachgesetzliche Vorschriften des Kreditwesengesetzes. Diese seien im Lichte von Art. 38 GG verfassungskonform auszulegen. Die Bundesregierung müsse die widerstreitenden Interessen jeweils abwägen, im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich bringen und ggf. ihre Auskunftsverweigerung begründen. Auch in weiteren Fällen seien Begründungen zu pauschal und nicht nachvollziehbar gewesen. Insbesondere sei zu beachten, dass sich Fragen auf länger zurückliegende und allgemein bekannte Vorfälle bezogen hätten. Nicht vorhandene Aufzeichnungen hätten evtl. rekonstruiert werden müssen. Die Frage nach hohen Gehalts- und Bonuszahlungen bei verstaatlichten Banken sei zu Unrecht nur eingestuft, also nicht öffentlich beantwortet worden. Obwohl hier Grundrechte von Mitarbeitern und grundsätzlich schützenswerte Geschäftsgeheimnisse betroffen seien, überwiege das parlamentarische Interesse an einer öffentlichen Antwort. Nur in einem Fall antwortete die Bundesregierung nach Auffassung des Gerichts zu Recht nicht öffentlich: Die Risikobewertungen der SoFFin-gestützten Banken seien zu Recht nicht offengelegt worden. Die Gefahr negativer Marktreaktionen oder gar einer neuen Finanzkrise sei hier nicht auszuschließen gewesen. 3. Analyse des Urteils Mit dem spät ergangenen Urteil, das Vorgänge aus der 17. Wahlperiode betrifft, schreibt das Bundesverfassungsgericht in wesentlichen Teilen seine bisherige Rechtsprechung fort. Klärung bringt das Urteil insbesondere bei der bisher umstrittenen Reichweite des Fragerechts im Bereich der Deutschen Bahn. Hier werden die einschlägige Auslegungsentscheidung des Geschäftsordnungsausschusses und die entsprechende Handhabung des Fragerechts in der Praxis anzupassen sein. In einigen Punkten bringt das Urteil keine vollständige Klarheit: So wird lediglich angedeutet, dass zwar nicht das reine Fiskalinteresse an der Werthaltigkeit staatlicher Unternehmensanteile, wohl aber das „(fiskalische) Interesse des Staates am Schutz vertraulicher Informationen seiner (Beteiligungs-)Unternehmen“ und an deren funktionierender Marktteilnahme als Staatswohlbelang das Fragerecht beschränken könne. Ebenfalls unklar bleibt, ob und wie Normen des Gesellschaftsrechts im Lichte des verfassungsrechtlich verbürgten Fragerechts verfassungskonform auszulegen sind. ***