© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 217/20 Fragen zum Parlament und zur Verfassung sowie zur Verfassungsgerichtsbarkeit Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/20 Seite 2 Fragen zum Parlament und zur Verfassung sowie zur Verfassungsgerichtsbarkeit Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 217/20 Abschluss der Arbeit: 1. Oktober 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/20 Seite 3 1. Grundlagen des Verfassungsrechts 1.1. Besteht die Verfassung aus einem Dokument/Gesetz oder aus mehreren? Die Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland besteht aus einem Gesetz, dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Grundgesetz). Die Bundesrepublik Deutschland ist föderal als Bundesstaat aufgebaut. Die Bundesländer haben eigene Verfassungen und jeweils eine eigene Landesgesetzgebung. Nach dem in Art. 28 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) geregelten Homogenitätsprinzip müssen die Landesverfassungen „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates“ entsprechen. 1.2. Aus welchem Jahr ist die Stammfassung der Verfassung? Das Grundgesetz wurde am 23. Mai 1949 verkündet. 1.3. Wie kann die Verfassung geändert werden? Änderungen des Grundgesetzes bestimmten sich nach den Vorgaben des Art. 79 GG. Danach kann das Grundgesetz durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Das Änderungsgesetz bedarf einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag (Gesetzgebungsorgan) und zwei Drittel der Stimmen des Bundesrates (verfassungsmäßiges Mitwirkungsorgan der Länder). Wegen der Ewigkeitsklausel des Art. 79 GG darf ein solches Gesetz weder die Gliederung des Bundes in Länder noch die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung noch einen der in den Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berühren. 1.4. Wie oft kommt es zu Verfassungsänderungen? Das Grundgesetz wurde seit seinem Inkrafttreten im Jahr 1949 64 Mal geändert. Die erste Änderung hat das Grundgesetz 1951 erfahren. Der Bundestag hat zuletzt am 17. September 2020 eine Änderung des Grundgesetzes beschlossen; diese 65. Änderung ist noch nicht in Kraft. 2. Verfassungsgericht 2.1. Gibt es ein eigenes Verfassungsgericht? Ja, es gibt das Bundesverfassungsgericht. 2.2. Nimmt ein anderes Gericht Funktionen wahr, die üblicherweise ein Verfassungsgericht innehat? In den Bundesländern gibt es eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit, die u.a. die Vereinbarkeit von Landesgesetzen mit der Landesverfassung überprüfen kann. 2.3. Seit wann gibt es das Verfassungsgericht (oder das Gericht, das die entsprechenden Funktionen wahrnimmt)? Das Bundesverfassungsgericht besteht seit 1951. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/20 Seite 4 2.4. Wie viele Mitglieder hat das Gericht? Das Bundesverfassungsgericht besteht aus 16 Richterinnen und Richtern. Es besteht aus zwei Senaten mit jeweils acht Richterinnen und Richtern. Vorsitzende der Senate sind der Präsident bzw. die Vizepräsidentin. 2.5. Wer bestellt die Mitglieder? Die eine Hälfte der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts wählt der Deutsche Bundestag, die andere der Bundesrat – jeweils mit Zweidrittelmehrheit. Bundestag und Bundesrat bestimmen abwechselnd auch den Präsidenten und den Vizepräsidenten des Gerichts. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz erstellt eine unverbindliche Liste mit möglichen Kandidaten, die es an die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat weiterleitet. Die vom Bundestag zu berufenden Richter werden auf Vorschlag des Wahlausschusses der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts durch das Plenum gewählt. Der Wahlausschuss wird zu Beginn jeder Wahlperiode eingesetzt. Seine 12 Mitglieder sind Abgeordnete der im Bundestag vertretenen Fraktionen und werden nach den Regeln der Verhältniswahl in den Wahlausschuss gewählt, § 6 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). Auch der Bundesrat setzt einen Auswahlausschuss ein, der Kandidaten vorschlägt, die dann vom Bundesrat direkt gewählt werden. 2.6. Sind die Mitglieder auf Lebenszeit, befristet auf ein bestimmtes Alter oder auf begrenzte Zeit bestellt und dürfen sie ein weiteres Amt oder einen weiteren Beruf ausüben? Die Amtszeit eines Richters endet nach zwölf Jahren oder bei Erreichen eines Alters von 68 Jahren. Um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten, können die Richter nicht wiedergewählt werden. Gemäß Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG dürfen Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch einen entsprechenden Organ eines Bundeslandes angehören. Mit ihrer Ernennung scheiden sie aus solchen Organen aus, § 3 Abs. 3 S. 2 BVerfGG. § 3 Abs. 4 BVerfGG verbietet jede andere berufliche Tätigkeit außer der des Hochschullehrers. 3. Verständnis und Anwendung des Verfassungsrechts in Parlamenten 3.1. Muss eine Gesetzesvorlage, die im Parlament behandelt werden soll, Ausführungen zu ihrer Verfassungsmäßigkeit enthalten? Die Frage, ob Gesetzesvorlagen zu begründen sind, wird in der Rechtswissenschaft unterschiedlich beantwortet. Einige Stimmen in der Rechtswissenschaft leiten aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ab, dass Gesetzesvorlagen zumindest insoweit zu begründen seien, als dies notwendig wäre, um sich, den anderen Gesetzgebungsorganen und den späteren Adressaten des Gesetzes Rechenschaft über die Verfassungsmäßigkeit abzulegen sowie eine verfassungsrechtliche Kontrolle zu ermöglichen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich aus Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/20 Seite 5 den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Gesetzesvorlage zumindest keine allgemeine Begründungspflicht von Gesetzesinitiativen ableiten. In der parlamentarischen Praxis ist eine Begründung indes üblich; die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sieht bspw. vor, dass Gesetzentwürfe zu begründen sind. 3.2. Gibt es innerhalb des Parlaments eine institutionalisierte Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Gesetzesvorlage? Wenn ja, wird sie immer oder nur in Einzelfällen durchgeführt? In welchem Umfang? Wird das Ergebnis der Prüfung im parlamentarischen Verfahren miteinbezogen und behandelt? Wird es veröffentlicht? Im Gesetzgebungsverfahren im Bundestag gibt es keine institutionalisierte Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Gesetzesvorlage. Gesetzesvorlagen werden nach der ersten Lesung im Bundestag dem jeweiligen Bundestagsausschuss zur Beratung zugeleitet. Bei der Beratung über die Gesetzesvorlage wird auch ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft. 3.3. Ist es üblich, im parlamentarischen Verfahren externe Experten und Expertinnen einzuladen und zur Verfassungsmäßigkeit von Gesetzesvorlagen bzw. zu Änderungen der Verfassung zu befragen? Gerade bei Themen mit großer gesellschaftspolitischer Relevanz ist es üblich, Sachverständige zur Verfassungsmäßigkeit zu befragen. 3.3.1. Werden dazu Experten und Expertinnen aus der Verwaltung, der Wissenschaft, den Gerichten oder Interessenvertretungen eingeladen? Bei Anhörungen ist es üblich, Sachverständige aus der Wissenschaft sowie Interessensvertreter einzuladen. Soweit es sich um ein Thema mit Bezug zur Gerichtsbarkeit handelt, ist es üblich, Sachverständige aus den Gerichten anzuhören. Sachverständige aus der Verwaltung werden eher selten eingeladen. 3.3.2. Wer wählt diese aus? Für die Auswahl sind nach der Geschäftsordnung des Bundestages die Mitglieder des jeweiligen Bundestagsausschusses berufen. 3.3.3. Erbringen die Experten und Expertinnen die Leistung entgeltlich oder unentgeltlich? Die Geschäftsordnung des Bundestages regelt, dass der Ersatz von Auslagen an Sachverständige und Auskunftspersonen nur auf Grund von Ladungen durch Beschluss des Ausschusses mit vorheriger Zustimmung des Präsidenten erfolgt. 3.3.4. Ist es üblich, auch Experten und Expertinnen der Parlamentsverwaltung in einem solchen Rahmen zu befragen? Nein. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/20 Seite 6 3.3.5. Gibt es die Möglichkeit oder die Verpflichtung, Gesetzentwürfe oder Gesetzesbeschlüsse vor ihrem Inkrafttreten durch ein Gericht oder eine andere Einrichtung auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen zu lassen? (So wie das etwa in Frankreich durch den Conseil Constitutionnel erfolgt). Erfolgt die Prüfung von Amts wegen oder auf Antrag? Wie wird eine allfällige Stellungnahme eines Gerichts/einer anderen Einrichtung weiter im Parlament behandelt? Es gibt keine Möglichkeit oder Verpflichtung, Gesetzentwürfe oder Gesetzesbeschlüsse vor ihrem Inkrafttreten durch ein Gericht auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen zu lassen. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages unterstützen die Abgeordneten durch Analysen, Fachinformationen und gutachterliche Stellungnahmen. Abgeordnete können Fragen zur Verfassungsmäßigkeit durch die Wissenschaftlichen Dienste prüfen lassen. Daneben steht es den Abgeordneten , Fraktionen und Parteien frei, auf eigene Kosten externe Gutachter zu beauftragen. 4. Parlament und verfassungsgerichtliche Kontrolle von Gesetzen 4.1. Haben Mitglieder des Parlaments das Recht, Gesetzesprüfungsverfahren beim Verfassungsgericht (oder einer vergleichbaren Einrichtung) zu initiieren? Wie viele Entscheidungen wurden aufgrund von Gesetzesprüfungsanträgen der Parlamente in den Jahren 2000 bis 2019 getroffen? Ein Viertel der Mitglieder des Bundestages können ein abstraktes Normenkontrollverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG vor dem Bundesverfassungsgericht beantragen und auf diese Weise bereits verkündete Gesetze überprüfen lassen. Daneben haben die einzelnen Abgeordneten als Privatperson die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht zu erheben, sofern sie geltend machen können, durch das Gesetz selbst unmittelbar und gegenwärtig in ihren Grundrechten verletzt zu sein, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG. Aus den Jahresstatistiken des Bundesverfassungsgerichts lassen sich nur die Zahlen für abstrakte Normenkontrollanträge aller Verfassungsorgane ermitteln. In Zeitraum von 2000 bis 2019 wurden insgesamt 44 abstrakte Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beantragt. Davon wurden 10 auf sonstige Weise erledigt und 34 durch Entscheidung des Gerichts. 4.2. Wer (außer dem Parlament bzw. seiner Mitglieder) kann ein Gesetzesprüfungsverfahren beim Verfassungsgericht oder einem anderen Gericht (direkt oder indirekt) initiieren? Die abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG kann auch von der Bundesregierung oder einer Landesregierung beantragt werden. Mit der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG besteht für jedermann eine Kontrollmöglichkeit , sofern er geltend machen kann, durch das Gesetz selbst unmittelbar und gegenwärtig in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/20 Seite 7 Zudem sieht das Grundgesetz noch eine konkrete Normenkontrolle vor, Art. 100 Abs. 1 GG. Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig , so hat es das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Handelt es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes, ist die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichts des Landes einzuholen. Bei Meinungsverschiedenheiten, ob der Bundesgesetzgeber das Gesetzgebungsrecht im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 72 Abs. 2 GG hat, können der Bundesrat, eine Landesregierung oder eine Volksvertretung eines Landes eine abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG beantragen. Gemeinen und Gemeindeverbände haben die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Art. 28 GG durch ein Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht zu erheben (kommunale Verfassungsbeschwerde), Art. 93 Abs. 4b GG. Der Weg zum Bundesverfassungsgericht ist den Gemeinden versperrt, wenn sie wegen der Verletzung der Selbstverwaltungsgarantie eine Beschwerde zum Landesverfassungsgericht erheben können. 4.3. Nimmt das Parlament in Gesetzesprüfungsverfahren, die andere Institutionen oder Personen initiiert haben, Stellung? Das Bundeverfassungsgerichtsgesetz räumt dem Bundestag sowohl in abstrakten und konkreten Normenkontrollverfahren als auch bei Verfassungsbeschwerden die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme ein. Darüber hinaus kann der Bundestag den Verfahren beitreten. Für die Beteiligung des Bundestages bedarf es eines Beschlusses des Plenums. 4.3.1. Wer bereitet diese Stellungnahmen vor (Parlamentsverwaltung, extern etc.)? Es ist üblich, dass die Stellungnahmen für die Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht zunächst von einem externen Prozessbevollmächtigten entworfen und dann im Rechtsausschuss durch die Berichterstatter in Streitsachen des Rechtsausschusses beraten werden. Das Ausschusssekretariat unterstützt die Ausschussmitglieder bei ihrer Beratung. 4.3.2. Wer kann so eine parlamentarische Stellungnahme beantragen? Die Möglichkeit zur Stellungnahme wird von Amts wegen vom Bundesverfassungsgericht gewährt. Die Abgabe einer Stellungnahme ist durch das Plenum des Bundestages zu beschließen. Der Rechtsausschuss beschließt dazu eine entsprechende Beschlussempfehlung, über die das Plenum zu entscheiden hat. Die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses wird durch die Berichterstatter in Streitsachen des Rechtsausschusses vorbereitet und erfolgt per Mehrheitsbeschluss. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/20 Seite 8 4.4. Zu wie vielen Aufhebungen von Gesetzen (Gesetzesbestimmungen) kam es seit 2000 (bitte Angabe pro Jahr)? Jahr Anzahl betroffener Gesetze/Verordnungen bzw. Einzelnormen 2000 9 2001 3 2002 7 2003 13 2004 15 2005 9 2006 6 2007 5 2008 8 2009 6 2010 11 2011 5 2012 11 2013 4 2014 8 2015 2 2016 6 2017 5 2018 5 2019 4 Quelle: für das Jahr 2000: Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, Kapitel 10.6; für die Jahre 2001 bis 2019 Jahresstatistiken des Bundeverfassungsgerichts. 4.5. Wird im Rahmen eines Gesetzesprüfungsverfahrens auch das parlamentarische Verfahren der Gesetzgebung (anhand der Verfassung bzw. der Geschäftsordnung u.a.) überprüft? Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich sowohl auf die formelle Verfassungsmäßigkeit (Gesetzgebungskompetenzen, -verfahren und Form) als auch auf die materielle Verfassungsmäßigkeit. Das Gericht prüft somit auch die Einhaltung der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen und gegebenenfalls in der Geschäftsordnung ausgeformten Vorgaben des ordentlichen Verfahrens (Art. 76, Art. 77 und Art. 82 GG). 4.6. Gibt das Verfassungsgericht oder ein anderes Gericht bei einer Gesetzesaufhebung eine Empfehlung an den Gesetzgeber ab? Gerade bei komplexen verfassungsrechtlichen Thematiken kommt es vor, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber verfassungskonforme Regelungsmöglichkeiten aufzeigt. Dies wird Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/20 Seite 9 in der Rechtswissenschaft zum Teil kritisch bewertet; andere Stimmen halten dagegen Anregungen bzw. Empfehlungen des Bundesverfassungsgerichts an die Adresse des Gesetzgebers für zulässig, solange die Gestaltungsmacht des Gesetzgebers im Kern unberührt bleibt. 4.7. Hebt das Verfassungsgericht Gesetze mit sofortiger Wirkung auf oder gibt es auch die Möglichkeit der rückwirkenden Aufhebung bzw. der Aufhebung pro futuro? Ein verfassungswidriges Gesetz erklärt das Bundesverfassungsgericht im Regelfall für nichtig. Die Nichtigkeit wirkt auch in die Vergangenheit und führt rechtlich gesehen zu einem Zustand, als ob das Gesetz niemals erlassen worden wäre. In bestimmten Fällen erklärt das Bundesverfassungsgericht eine Rechtsnorm lediglich für unvereinbar mit dem Grundgesetz und legt fest, ab wann sie nicht mehr angewendet werden darf. Dies geschieht insbesondere dann, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes hat oder wenn die Nachteile des sofortigen Außerkrafttretens der Rechtsnorm größer sind als die Nachteile einer übergangsweisen Weitergeltung. Letzteres ist häufig bei Steuergesetzen der Fall, weil die Rechtsgrundlage für die Steuererhebung sonst ganz oder teilweise wegfiele. In der Übergangszeit kann der Gesetzgeber eine verfassungsgemäße Norm erlassen. In seltenen Fällen legt das Bundesverfassungsgericht selbst Übergangsbestimmungen fest. Über das konkrete Verfahren hinaus führt die Nichtigkeit einer Rechtsnorm nicht dazu, dass alle anderen auf ihrer Grundlage ergangenen Entscheidungen ungültig werden, § 79 Abs. 2 BVerfGG. Nicht mehr anfechtbare Entscheidungen bleiben wirksam, können aber nicht mehr vollstreckt werden. Eine weitergehende Regelung gilt für das Strafverfahren wegen seiner einschneidenden Wirkungen: Wenn ein Strafurteil auf einer nichtigen oder mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtsnorm beruht, kann das Verfahren auch nach seinem rechtskräftigen Abschluss wieder aufgenommen werden. 4.8. Wird die Meinungsbildung im Verfassungsgericht öffentlich gemacht? Werden abweichende Meinungen von Richterinnen und Richtern veröffentlicht? § 30 Abs. 2 BVerfGG enthält das Recht eines Verfassungsrichters, seine abweichende Meinung in einem Sondervotum zur Entscheidung darzulegen. Das Sondervotum wird zusammen mit der Entscheidung in einem Dokument veröffentlicht und folgt der eigentlichen Entscheidung nach. § 30 Abs. 2 S. 2 BVerfGG enthält die Möglichkeit der Senate, ihr Stimmverhältnis ihrer Entscheidungen mitzuteilen. ***