© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 217/17 Neuwahlen nach einer gescheiterten Regierungsbildung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/17 Seite 2 Neuwahlen nach einer gescheiterten Regierungsbildung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 217/17 Abschluss der Arbeit: 13.11.2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/17 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand thematisiert den Ablauf des Regierungsbildungsprozesses. Dabei werden die einzelnen Schritte der Bundeskanzlerwahl dargestellt. Ferner wird auch auf den zeitlichen Rahmen für die Herbeiführung von möglichen Neuwahlen eingegangen.1 2. Verfahren der Bundeskanzlerwahl Das Verfahren einer Bundeskanzlerwahl kann sich nach Art. 63 GG auf bis zu drei Phasen erstrecken und unter bestimmten Voraussetzungen in der dritten Phase zur Auflösung des Bundestages und damit zu Neuwahlen führen. 2.1. Erste Wahlphase In der ersten Phase einer Bundeskanzlerwahl, die in Art. 63 Abs. 1 und 2 GG geregelt ist, ist der Bundespräsident verfassungsrechtlich verpflichtet, dem Bundestag einen Wahlvorschlag zu unterbreiten.2 Es bestehen dabei keine verfassungsrechtlichen Vorgaben darüber, in welchem Zeitraum der Bundespräsident von seinem Vorschlagsrecht Gebrauch machen muss. In der juristischen Literatur werden hierzu lediglich vage Vorgaben gemacht, indem etwa von einem Vorschlag „binnen angemessener Frist“3 ausgegangen wird. In der Staatspraxis wird diese Frist in aller Regel von der Dauer laufender Koalitionsverhandlungen und von der Eindeutigkeit der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag abhängen. Wann der Bundespräsident gegenüber dem Deutschen Bundestag einen Vorschlag abgibt, hängt daher von seinem Ermessen ab. Auch inhaltlich unterliegt die Entscheidung des Bundespräsidenten mangels ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Regelungen als politische Leitentscheidung seinem pflichtgemäßen Ermessen . Der Bundespräsident sollte allerdings einen Kandidaten benennen, der mehrheitsfähig ist. Mangels ausdrücklicher Wählbarkeitsvoraussetzungen für das Amt des Bundeskanzlers im Grundgesetz sind die Voraussetzungen für die Wählbarkeit zum Bundestag anzuwenden. Nicht erforderlich ist es jedoch, Mitglied des Bundestages zu sein. Gemäß Art. 63 Abs. 2 S.1 GG ist für die Wahl zum Bundeskanzler die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages – sog. absolute Mehrheit oder Kanzlermehrheit, Art. 121 GG – erforderlich. In der 19. Wahlperiode sind damit 355 Stimmen erforderlich. Bislang konnte jeder Bundeskanzler die erforderliche Kanzlermehrheit in der ersten Phase erlangen, sodass es auf die zweite und dritte Wahlphase nicht ankam. 1 Die folgenden Ausführungen stammen im Wesentlichen aus dem Sachstand zum Thema: „Neuwahlen infolge einer Bundestagsauflösung nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG“ (Az. WD 3 - 207/17) und dem Aktuellen Begriff Nr. 29/13 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages mit dem Titel „Bundeskanzlerwahl (Artikel 63 Grundgesetz )“, der unter https://www.bundestag.btg/ButagVerw/W/Ausarbeitungen/Einzelpublikationen/Ablage /2013/Bundeskanzlerwah_1380177453.pdf abgerufen werden kann (zuletzt abgerufen am 09. November 2017). 2 Herzog, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand der Kommentierung: 52. EL (Mai 2008), Art. 63 Rn. 16 ff., dort zum Folgenden. 3 Herzog, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand der Kommentierung: 52. EL (Mai 2008), Art. 63 Rn. 16; Oldiges, in: Sachs, 7. Aufl. 2014, Art. 63 GG Rn. 20 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/17 Seite 4 Bisher gestaltete sich der zeitliche Ablauf der Bundeskanzlerwahlen wie folgt: Wahlperiode Datum der Wahl des Bundestages Datum der konstituierenden Sitzung des Bundestages Datum der Wahl des Bundeskanzlers 1. 14.08.1949 07.09.1949 15.09.1949 2. 06.09.1953 06.10.1953 09.10.1953 3. 15.09.1957 15.10.1957 22.10.1957 4. 17.09.1961 17.10.1961 07.11.1961 5. 19.09.1965 19.10.1965 20.10.1965 6. 28.09.1969 20.10.1969 21.10.1969 7. 19.11.1972 13.12.1972 14.12.1972 8. 03.10.1976 14.12.1976 15.12.1976 9. 05.10.1980 04.11.1980 05.11.1980 10. 06.03.1983 29.03.1983 29.03.1983 11. 25.01.1987 18.02.1987 11.03.1987 12. 02.12.1990 20.12.1990 17.01.1991 13. 16.10.1994 10.11.1994 15.11.1994 14. 27.09.1998 26.10.1998 27.10.1998 15. 22.09.2002 17.10.2002 22.10.2002 16. 18.09.2005 18.10.2005 22.11.2005 17. 27.09.2009 27.10.2009 28.10.2009 18. 22.09.2013 22.10.2013 17.12.2013 2.2. Zweite Wahlphase Erreicht der Vorgeschlagene nicht die erforderliche Mehrheit, so geht nach Art. 63 Abs. 3 GG die Initiative für Wahlvorschläge in der zweiten Phase auf den Bundestag über. Der Bundestag kann nun innerhalb von 14 Tagen nach dem Scheitern der ersten Wahlphase einen Bundeskanzler wählen, ohne auf einen Vorschlag oder eine Empfehlung des Bundespräsidenten angewiesen zu Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/17 Seite 5 sein.4 Wahlvorschläge aus der Mitte des Bundestages sind nach § 4 S. 2 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT) von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages oder einer Fraktion, die stärkemäßig die Voraussetzungen dieses Quorums erfüllt, zu unterzeichnen. Innerhalb der Frist von 14 Tagen sind beliebig viele Wahlgänge möglich. Denkbar ist auch, dass überhaupt kein Wahlvorschlag gemacht wird und die Frist ungenutzt verstreicht. In der zweiten Phase ist ebenfalls die absolute Mehrheit erforderlich. 2.3. Dritte Wahlphase Kommt auch in der zweiten Phase keine Kanzlerwahl zustande, so schließt sich unmittelbar die dritte Phase nach Art. 63 Abs. 4 GG an, in der nunmehr eine relative Mehrheit zur Entscheidung führen kann. In diesem Stadium hat der Bundestag unverzüglich (unter Beachtung der Einladungsund Beratungsfristen) einen neuen Wahlgang zu veranstalten. Auch in der dritten Phase gelten für Wahlvorschläge die Quoren aus § 4 S. 2 GOBT. Erreicht der Kandidat die absolute Mehrheit, muss ihn der Bundespräsident innerhalb von sieben Tagen zum Bundeskanzler ernennen, Art. 63 Abs. 4 S. 2 GG. Bei mehreren Kandidaten und Stimmengleichheit kann nach herrschender Meinung erneut gewählt werden, da zu diesem Zeitpunkt noch kein Kandidat gewählt worden und die dritte Phase damit noch nicht abgeschlossen ist.5 Erreicht der Kandidat nur die relative Mehrheit, hat der Bundespräsident nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG ein auf sieben Tage befristetes Wahlrecht zwischen der Ernennung des Gewählten als Minderheitskanzler oder Auflösung des Bundestages. In eigener Einschätzungsprärogative hat der Bundespräsident dabei zu beurteilen, ob der Minderheitskanzler in der Lage sein wird, stabile Regierungsverhältnisse zu gewährleisten. Lässt der Bundespräsident diese Frist verstreichen, verliert er nach wohl herrschender Meinung das Recht zur Auflösung des Bundestages und ist dann zur Ernennung des Minderheitskanzlers verpflichtet. Ein solcher Minderheitskanzler hat dieselben Rechte wie ein mit der Kanzlermehrheit gewählter Kanzler.6 Im Falle einer Auflösung des Bundestages ist die Auflösungsanordnung dem Bundestagspräsidenten schriftlich zuzuleiten und den Mitgliedern des Bundestages in geeigneter Weise bekannt zu geben. Die Auflösungsanordnung hat zur Folge, dass innerhalb von 60 Tagen nach der Auflösung des Bundestages Neuwahlen stattfinden müssen, Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG. 3. Zeitlicher Rahmen für die Herbeiführung von Neuwahlen Der zeitliche Rahmen für Neuwahlen ergibt sich aus einem Zusammenspiel des oben dargestellten Wahlverfahrens und den Fristvorgaben für Neuwahlen in Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG. Da für die Ausübung des Vorschlagsrechts des Bundespräsidenten wie dargestellt keine zeitlichen Vorgaben bestehen, bildet dieser Zeitraum eine nicht bestimmbare Variable. Nach Ausübung des Vorschlagsrechts besteht hingegen ein verfassungsrechtlich vorgegebener Zeitplan. Sobald der 4 Epping, in: ders./Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Stand der Kommentierung: 15. August 2017, Art. 63 Rn. 21 ff., dort zum Folgenden. 5 Schröder, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 63 Rn. 39. 6 Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 63 Rn. 34. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 217/17 Seite 6 Bundespräsident seinen Vorschlag abgegeben hat, ist der Bundestag gehalten, unverzüglich abzustimmen .7 An diese Abstimmung schließen sich ggf. die vierzehn Tage für die zweite Wahlphase an. Nach deren erfolglosen Ablauf ist ggf. wiederum unverzüglich ein Wahlgang in der dritten Wahlphase durchzuführen.8 Scheitert auch dieser, und löst der Bundespräsident innerhalb von sieben Tagen den Bundestag auf, ist nach Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG innerhalb von sechzig Tagen neu zu wählen. Der Zeitraum, in dem nach Ausübung des Vorschlagsrechts des Bundespräsidenten Neuwahlen stattfinden könnten, ergibt sich aus der Summe der verfassungsrechtlich fest vorgegebenen und der variablen Zeiträume. Fest vorgegebenen sind maximal 81 Tage, die sich aus einer Addition der Zeitvorgaben für die zweite und dritte Wahlphase und den Vorgaben in Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG ergeben. Zu diesen hinzuzurechnen sind noch die Tage, die für die unverzügliche Abhaltung der Wahlgänge erforderlich sind. Deren Anzahl lässt sich nicht abschließend bestimmen und richtet sich im Einzelfall nach den erforderlichen Einladungs- und Beratungsfristen. Da es sich bei den beschrieben Fristen, insbesondere der sechzig-Tage-Frist nach Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG, um Maximalfristen handelt, kann der Zeitraum auch entsprechend kürzer ausfallen. *** 7 Vgl. Uhle/Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, 13. Aufl. 2014, Art. 63 GG Rn. 16. 8 Vgl. Uhle/Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, 13. Aufl. 2014, Art. 63 GG Rn. 24.