© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 215/17 Abschiebung von obdachlosen Ausländern Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Fragestellung Vor dem Hintergrund der Debatte um „wild campierende“ Ausländer in Berliner Parks1 wird nach den Möglichkeiten der Abschiebung von obdachlosen Ausländern gefragt. Konkret geht es darum, ob Straffälligkeit und/oder aggressives Verhalten die Abschiebung von Drittstaatsangehörigen oder Unionsbürgern rechtfertigen kann. 2. Ausreisepflicht und Abschiebung Die Abschiebung nach den §§ 58 ff. Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ist die zwangsweise Durchsetzung einer bestehenden Ausreisepflicht eines Ausländers durch dessen Entfernung aus dem Bundesgebiet . Ihrer Rechtsnatur nach handelt es sich um eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung in der Form der Ausübung unmittelbaren Zwangs und damit um einen Realakt.2 Vollstreckt wird dabei eine kraft Gesetzes bestehende Handlungspflicht zum Verlassen des Bundesgebietes. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Abschiebung ergeben sich aus den §§ 58 ff. AufenthG. Erforderlich ist danach insbesondere, dass – der Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig ist (§ 58 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 AufenthG), – eine gesetzte Ausreisefrist fruchtlos verstrichen ist (§ 58 Abs. 1 S. 1 AufenthG), – ein Abschiebungsgrund dergestalt vorliegt, dass entweder die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint (§ 58 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 AufenthG), – die Abschiebung nach § 59 AufenthG ordnungsgemäß angedroht worden ist und diese Abschiebungsandrohung, die einen eigenständigen Verwaltungsakt darstellt, unanfechtbar geworden ist, – keine Abschiebungsverbote und -hindernisse nach § 60 AufenthG vorliegen. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob gemäß § 60a AufenthG eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) in Betracht kommt, z.B. bei Reiseunfähigkeit oder fehlender Reisedokumente. Für obdachlose Ausländer gelten – auch bei Straffälligkeit und/oder aggressivem Verhalten – in Bezug auf die Abschiebung keine Besonderheiten. Vielmehr müssen in jedem Einzelfall die o.g. Voraussetzungen vorliegen. Die hier fraglichen Umstände der Obdachlosigkeit können aber für das Bestehen einer Ausreisepflicht von Bedeutung sein. Insoweit ist zu beachten, dass Unionsbürger in erster Linie dem Regelungsregime des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) unterfallen . Erst wenn ihnen nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU kein Recht auf Einreise und Aufenthalt 1 Vgl. dazu nur den Artikel von Eichhorn, Was lockt Obdachlose nach Berlin?, faz.net vom 17.10.2017, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/berlin-obdachlose-kampieren-seit-monaten-im-tiergarten- 15246464.html. 2 Siehe nur Masuch/Gordzielik, in: Huber (Hrsg.), Aufenthaltsgesetz (2. Aufl., 2016), Rn. 2 zu § 58. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/17 Seite 5 zusteht, kommen die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes, insbesondere die Vorschriften zur Abschiebung zur Anwendung, § 11 Abs. 2 FreizügG/EU. Im Folgenden wird daher zwischen Drittstaatsangehörigen , für die allein die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes gelten, und Unionsbürgern unterschieden. 3. Ausreisepflicht von Drittstaatsangehörigen Ausländer sind nach § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet, wenn sie nicht oder nicht mehr über den nach § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel verfügen.3 Ist der Ausländer nicht schon ausreisepflichtig, da der erforderliche Aufenthaltstitel von vornherein nicht vorlag, kommt es auf die in § 51 Abs. 1 AufenthG geregelten Erlöschensgründe an. Zu diesen Erlöschensgründen gehört u.a. die Ausweisung, § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG. 3.1. Ausweisung Bestimmte Verhaltensweisen, u.a. die Begehung von Straftaten, können nach den §§ 53 ff. AufenthG zu einer Ausweisung führen.4 Die Ausweisung beseitigt den Aufenthaltstitel und begründet nach § 11 Abs. 1, 2 AufenthG ein (befristetes) Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot. Nach dem Grundtatbestand in § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Bei der Entscheidung über die Ausweisung ist also das Interesse an der Ausreise (Ausweisungsinteresse) mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet (Bleibeinteresse) unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls abzuwägen. § 54 AufenthG differenziert das Ausweisungsinteresse in Bezug auf schwerwiegende und besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen weiter aus, regelt die Ausweisungsinteressen aber nicht abschließend.5 Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beispielsweise wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer 3 Asylbewerber besitzen zwar keinen Aufenthaltstitel nach § 4 AufenthG. Dieser ist jedoch auch nicht erforderlich, solange ihr Aufenthalt nach § 55 Asylgesetz (AsylG) gestattet ist. 4 Ausführlich dazu Wissenschaftliche Dienste, Auswirkungen begangener Straftaten auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik (WD 3 - 3000 - 255/15). 5 VGH Kassel, Beschluss vom 15.02.2016, BeckRS 2016, 44568, Rn. 13: „Neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG n. F. aufgeführten Interessen sind allerdings noch weitere, nicht ausdrücklich genannte, sonstige Bleibe- und Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG n. F. schließt mithin die Berücksichtigung weitere Umstände nicht aus. Dies folgt bereits aus dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG n. F.; (…).“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/17 Seite 6 „wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist“. Ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse liegt beispielsweise nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vor, wenn der Ausländer „wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist“.6 Neben der Begehung von Straftaten können auch andere Verhaltensweisen ein schwerwiegendes oder besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründen. Letzteres liegt nach § 54 Abs. 1 AufenthG u.a. vor, wenn der Ausländer – die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet […] (Nr. 2), – zu den Leitern eines Vereins gehörte, der unanfechtbar verboten wurde […] (Nr. 3), – sich zur Verfolgung politischer oder religiöser Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht (Nr. 4) oder – zu Hass gegen Teile der Bevölkerung aufruft […] (Nr. 5). Ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 2 AufenthG liegt u.a. vor, wenn der Ausländer – Heroin, Kokain oder ein vergleichbar gefährliches Betäubungsmittel verbraucht und nicht zu einer erforderlichen seiner Rehabilitation dienenden Behandlung bereit ist oder sich ihr entzieht (Nr. 4), – eine andere Person in verwerflicher Weise, insbesondere unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, davon abhält, am wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilzuhaben (Nr. 5), – eine andere Person zur Eingehung der Ehe nötigt oder dies versucht (Nr. 6). 6 Siehe auch die Verschärfungen des Ausweisungsrechts durch das Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11.03.2016, BGBl. I, 394 ff., wonach rechtskräftige Verurteilungen wegen der Begehung vorsätzlicher Straftaten gegen besondere Rechtsgüter und unter besonderer Begehungsweise ein besonders schwerwiegendes oder schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/17 Seite 7 3.2. Ausweisung von obdachlosen Ausländern? Soweit die Voraussetzungen einer der in § 54 AufenthG typisierten Fälle erfüllt sind, z.B. durch eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung, begründet dies auch für obdachlose Ausländer ein Ausweisungsinteresse. Die Obdachlosigkeit als solche stellt aber – im Gegensatz zur früheren Rechtslage7 – keinen ausdrücklichen normativen Anknüpfungspunkt für eine Ausweisung dar. Auch aggressives Verhalten ist nicht als Tatbestandsmerkmal in § 54 AufenthG normiert. Das Nichtvorliegen eines Ausweisungsinteresses gemäß § 54 AufenthG schließt ein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG jedoch nicht grundsätzlich aus.8 Insoweit ist zu prüfen, ob der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. In Bezug auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist auf das polizeirechtliche Verständnis dieser Begriffe abzustellen.9 Unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit sind danach Gefahren für die Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, für subjektive Rechte und Rechtsgüter Einzelner, wie insbesondere Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit, sowie für die Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates relevant. Der Schutz der öffentlichen Ordnung umfasst die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens angesehen wird. In der Regel ist im Rahmen einer Gefahrenprognose zu prüfen, ob der weitere Aufenthalt des Ausländers die genannten Schutzgüter gefährdet.10 Zu beachten ist aber, dass mit den typisierten Fällen in § 54 AufenthG eine gesetzliche Wertung für ausweisungsrelevantes Verhalten vorliegt, die eine gewisse Erheblichkeitsschwelle zum Ausdruck bringt und auch als Maßstab für die Annahme eines Ausweisungsinteresses im Rahmen des § 53 Abs. 1 AufenthG dient.11 Ob die bloße Obdachlosigkeit diese Erheblichkeitsschwelle bereits überschreitet, ist fraglich, zumal der Gesetzgeber mit seiner ab Januar 2016 geltenden Neuregelung des Ausweisungsrechts12 von einer entsprechenden normativen Anknüpfung 7 Vgl. dazu die bis Ende 2015 geltende Fassung der Ermessensausweisung in § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG: „Ein Ausländer kann nach Absatz 1 insbesondere ausgewiesen werden, wenn er durch sein Verhalten die öffentliche Gesundheit gefährdet oder längerfristig obdachlos ist.“ 8 Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht (Stand: Januar 2016), Rn. 24, 29 zu § 53 AufenthG; Beichel-Benedetti, in: Huber (Hrsg.), Aufenthaltsgesetz (2. Aufl., 2016), Rn. 1 zu § 53. 9 Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht (11. Aufl., 2016), Rn. 18 ff. zu § 53 AufenthG. 10 Zur Frage, ob Ausweisungen auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden können, siehe nur Bauer (Fn. 9), Rn. 34 ff. zu § 53 AufenthG. 11 Vgl. dazu Graßhof/Tanneberger, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht (Stand: August 2017), Rn. 59 zu § 53 AufenthG; 12 Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27.07.2015, BGBl. I, 1386 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/17 Seite 8 gerade abgerückt ist.13 Es erscheint jedoch nicht ausgeschlossen, dass das Hinzutreten weiterer Umstände, z.B. aggressives Verhalten, die Annahme eines relevanten Ausweisungsinteresses rechtfertigen kann. Insoweit kommt es jedoch auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. So können ernsthafte und wiederholte Bedrohungen anderer Personen mit dem Tod die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründen.14 Bloße Belästigungen hingegen, z.B. lautstarke Streitigkeiten , oder die Gefahr geringfügiger Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung dürften jedoch nicht ausreichen.15 Aber selbst das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses rechtfertigt eine Ausweisung noch nicht. Vielmehr ist das Ausweisungsinteresse „nur“ Teil einer umfangreichen Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteressen, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist. Ob obdachlose Ausländer bei aggressivem Verhalten ausgewiesen werden können, lässt sich daher nicht abstrakt beurteilen, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Zu berücksichtigen ist ferner, ob es sich bei den betroffenen Ausländern um Asylbewerber, Asylberechtigte oder anerkannte Flüchtlinge handelt; denn für diese Ausländergruppen gelten in Bezug auf die Ausweisung strengere Anforderungen, § 53 Abs. 3, 4 AufenthG.16 4. Ausreisepflicht von Unionsbürgern Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Im Einzelnen regelt das FreizügG/EU den Aufenthalt und den Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen . Anders als im Aufenthaltsgesetz, das das Aufenthaltsrecht an den Erhalt eines Aufenthaltstitels knüpft, bedarf es für die Freizügigkeitsberechtigung keiner behördlichen Feststellung oder Bescheinigung. Vielmehr wird die Freizügigkeitsberechtigung vermutet und erst die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung führt zur Ausreisepflicht.17 So sind 13 Ablehnend daher Bauer (Fn. 9), Rn. 25 zu § 53 AufenthG: „Auch gesetzgeberische Entscheidungen, bestimmte Verhaltensweisen von Ausländern nicht mehr als Anknüpfung für eine Ausweisung anzusehen, können nicht unter Berufung auf die Generalklauseln umgangen werden. (…) Mit der Novellierung des Ausweisungsrechts durch das AufenthGÄndG2015 sind zahlreiche Tatbestände der früheren Ermessensausweisung nicht in den Katalog des § 54 I u. II überführt worden. Zu nennen sind va (…) § 55 II Nr 5 aF (Gefährdung der öffentlichen Gesundheit durch das Verhalten des Ausl oder längerfristige Obdachlosigkeit), (…). Hierin liegt die bewusste Entscheidung des Gesetzgebers, dass diese Ereignisse u. Verhaltensweisen in Zukunft keinen Anlass mehr für eine Ausweisung geben können.“; Bauer/Beichel-Benedetti, Das neue Ausweisungsrecht, NVwZ 2016, 416, 418. 14 VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.04.1996 – 13 S 1027/95 –, juris, Rn. 29: „Der Anlass der Ausweisung hatte erhebliches Gewicht. Denn der Kläger hatte nicht nur einmal, sondern mehrfach und eindringlich Menschen, insbesondere auch Kinder (‚Blutbad‘ in Kindergarten) mit dem Tode bedroht und dabei ein ‚raffiniertes‘ oder grausames Vorgehen angekündigt. Aus den bereits oben dargelegten Gründen bestanden auch hinreichende Anhaltspunkte für eine von ihm ausgehende Gefahr für Leben und Gesundheit Dritter.“ 15 Vgl. dazu Hailbronner, Ausländerrecht (Stand: Januar 2016), Rn. 32 zu § 53 AufenthG. 16 Siehe dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Sanktionen gegenüber „integrationsunwilligen“ Asylbewerbern und asylrechtlich Schutzberechtigten im Asyl- und Aufenthaltsgesetz (WD 3 - 3000 - 113/16), 11 f. 17 Vgl. Kurzidem, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), Beck’scher Onlinekommentar Ausländerrecht (Stand: August 2017), Rn. 1 ff. zu § 5 FreizügG/EU. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/17 Seite 9 gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU Unionsbürger ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Freizügigkeitsberechtigung) nicht besteht. Fraglich ist jedoch zunächst, unter welchen Voraussetzungen Unionsbürger überhaupt die Freizügigkeitsberechtigung genießen. 4.1. Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung Die Freizügigkeitsberechtigung ist in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU geregelt und umfasst u.a.: – Nr. 1: Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen, – Nr. 1a: Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden, – Nr. 2: Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige), – (…) – Nr. 5: nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4, – (…) Hervorzuheben ist, dass nicht erwerbstätige Unionsbürger dann freizügigkeitsberechtigt sind, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen, § 4 FreizügG/EU. Unter bestimmten Voraussetzungen, in der Regel nach fünfjährigem ständigen und rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet, wandelt sich das Aufenthaltsrecht in ein Daueraufenthaltsrecht (§ 4a FreizügG/EU), das das Vorliegen der Freizügigkeitsberechtigung (§ 2 Abs. 2 FreizügG/EU) nicht mehr voraussetzt. Die (drittstaatsangehörigen) Familienangehörigen verfügen über kein originäres Freizügigkeitsrecht , aber sie partizipieren am Aufenthaltsstatus des Unionsbürgers. Nach § 3 FreizügG/EU können Familienangehörige (u.a. Ehegatten, Lebenspartner und Kinder, § 3 Abs. 2 FreizügG/EU) den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Nach in der Regel fünfjährigem gemeinsamen Aufenthalt mit dem Unionsbürger steht ihnen – wie den Unionsbürgern – das Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 1 S. 2 FreizügG/EU zu. Unabhängig von den o.g. Voraussetzungen ist jedoch der Aufenthalt von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten möglich. Für solche Kurzaufenthalte sieht § 2 Abs. 5 FreizügG/EU vor, dass „der Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses ausreichend“ ist. Somit verfügen auch nicht erwerbstätige Unionsbürger ohne Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/17 Seite 10 ausreichende Existenzmittel für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten über eine Freizügigkeitsberechtigung .18 4.2. Feststellen des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung Festgestellt werden kann das Nichtbestehen der Freizügigkeitsberechtigung, wenn die Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung nicht vorliegen (§ 5 Abs. 4 FreizügG/EU), bei Täuschungen über die Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung (§ 2 Abs. 7 FreizügG/EU) und aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (§ 6 FreizügG/EU). In Bezug auf die hier fraglichen obdachlosen Unionsbürger bedarf es der Prüfung im Einzelfall, ob eine Freizügigkeitsberechtigung z.B. zur Arbeitssuche oder im Rahmen eines Kurzaufenthalts besteht. Hier stellt sich jedoch insbesondere die Frage, ob die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung bei Straffälligkeit oder aggressivem Verhalten in Betracht kommt. Abzustellen ist insoweit auf den Verlust der Freizügigkeitsberechtigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit nach § 6 FreizügG/EU (Verlustfeststellung). Die Begriffe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit sind im Gegensatz zum Aufenthaltsgesetz nicht polizeirechtlich, sondern nach den Vorgaben des Unionsrechts zu bestimmen und unterliegen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs einer engen Auslegung.19 Dabei wird der Schutz der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung, insbesondere der Strafrechtsordnung, vom Begriff der öffentlichen Ordnung umfasst. Allein eine strafrechtliche Verurteilung begründet nach § 6 Abs. 2 S. 1 FreizügG/EU jedoch noch nicht die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Ordnung. Nach § 6 Abs. 2 S. 3 FreizügG/EU muss vielmehr eine „tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“. Die im Rahmen einer Gefahrenprognose vorzunehmende Einschätzung muss dabei an das persönliche Verhalten des Unionsbürgers anknüpfen, und zwar bezogen auf die Neigung des Betroffenen, das Verhalten in Zukunft beizubehalten.20 Mit dem Verweis auf die Betroffenheit von Grundinteressen der Gesellschaft wird zudem eine besondere Erheblichkeitsschwelle des strafrechtlich relevanten Verhaltens normiert. Dementsprechend wurden in der ausländerrechtlichen Praxis Verlustfeststellungen „nahezu ausschließlich auf strafrechtliche Verurteilungen wegen Straftaten, die der mittelschweren und schweren Kriminalität zuzurechnen sind, gestützt“.21 Freizügigkeitsbeschränkungen gegenüber Unionsbürgern unterliegen damit regelmäßig strengeren Anforderungen als die Ausweisung 18 Siehe Hailbronner, Ausländerrecht (Stand: April 2013), Rn. 7 zu § 2 FreizügG/EU; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht (11. Aufl., 2016), Rn. 131 ff. zu § 2 FreizügG/EU. Zur weitergehenden Frage nach existenzsichernden Ansprüchen von Unionsbürgern siehe Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aktueller Begriff, Existenzsicherende Leistungen für EU-Ausländer (Nr. 10/16); Thym, Sozialhilfe für erwerbsfähige Unionsbürger: Das Bundessozialgericht auf Umwegen, NZS 2016, 441 ff.; Schneider, NZS-Jahresrevue 2016 – Sozialhilfe, NZS 2017, 813 ff. mit Hinweis auf die gesetzlichen Änderungen durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom 22.12.2016, BGBl. I, 3155 ff. 19 Kurzidem (Fn. 17), Rn. 3 ff. zu § 6 FreizügG/EU. 20 Vgl. dazu nur EuGH, Rs. C-348/09, 2. Leitsatz. 21 Hailbronner, Ausländerrecht (Stand: März 2017), Rn. 28 zu § 6 FreizügG/EU. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/17 Seite 11 von Drittstaatsangehörigen.22 Ohne vorherige Straffälligkeit dürfte die Annahme einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch obdachlose Unionsbürger daher besonders hohen Begründungsanforderungen unterliegen. Einschläge Rechtsprechung zu diesem Aspekt gibt es jedoch – soweit ersichtlich – nicht. Aber auch die Annahme einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung rechtfertigt für sich noch nicht die Verlustfeststellung. Die im Rahmen einer Ermessensentscheidung vorzunehmende Verlustfeststellung erfordert nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU vielmehr die Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Betroffenen, u.a. die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet. Verfügt der Unionsbürger über ein Daueraufenthaltsrecht, kommt eine Verlustfeststellung zudem nur aus schwerwiegenden Gründen in Betracht, § 6 Abs. 4 FreizügG/EU. Nach einem zehnjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet dürfen Verlustfeststellungen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden, § 6 Abs. 5 S. 1 FreizügG/EU, wobei der Begriff der öffentlichen Sicherheit den Schutz der inneren und äußeren Sicherheit eines Mitgliedstaates umfasst.23 *** 22 Siehe dazu auch BVerwG NVwZ 2017, 879. 23 Kurzidem (Fn. 17), Rn. 14 zu § 6 FreizügG/EU.