© 2014 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 215/14 Verfassungsmäßigkeit der in Berufsordnungen der Ärztekammern normierten Verbote der Beihilfe zum Suizid Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/14 Seite 2 Verfassungsmäßigkeit der in Berufsordnungen der Ärztekammern normierten Verbote der Beihilfe zum Suizid Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 215/14 Abschluss der Arbeit: 11. Dezember 2014 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/14 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wird nach der Verfassungsmäßigkeit der in einigen Berufsordnungen der Ärztekammern normierten Verbote der Beihilfe zum Suizid Schwerstkranker im Hinblick auf die Freiheit der Berufsausübung der Ärzte sowie das Selbstbestimmungsrecht der Patienten. 2. Rechtsnatur der Berufsordnungen Regelungen der Berufsausübung der Ärzte zählen im Gegensatz zu Berufszulassungsregelungen, für die der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Grundgesetz (GG) zuständig ist, zur Gesetzgebungskompetenz der Länder. Die Länder haben Heilberufs- bzw. Kammergesetze erlassen, die bereits selbst allgemeine Berufspflichten aufstellen. Vor allem aber regeln sie die Errichtung von Ärztekammern, die als Träger funktionaler Selbstverwaltung der Ärzteschaft in der Rechtsform öffentlich-rechtlicher Körperschaften zur autonomen Satzungsgebung ermächtigt werden. Auf dieser Grundlage erlassen die Ärztekammern insbesondere die Berufsordnungen, die die gesetzlichen Generalpflichten konkretisieren .1 Sie unterliegen der Aufsichts- und Genehmigungspflicht des jeweils zuständigen Ministeriums.2 Nach den Kammergesetzen sollen die Berufsordnungen unter anderem Regelungen zur Ausübung des ärztlichen Berufs enthalten. Die Rechtsetzungsautonomie der Kammern ist Ausdruck der Selbstverwaltung der Ärzteschaft und als solche auf die Regelung eigener Angelegenheiten beschränkt.3 Gegenüber Nichtmitgliedern entfalten die Bestimmungen der Berufsordnungen keine Rechtswirkung. Die Rechte von Patienten am Ende des Lebens können durch die berufsrechtliche Rechtssetzung der Kammern daher nicht bestimmt werden.4 Die Berufsordnungen der Landesärztekammern orientieren sich weitgehend an der von der Bundesärztekammer, einer Arbeitsgemeinschaft der Landesärztekammern, erarbeiteten Musterberufsordnung . Hierbei handelt es sich um eine rechtlich unverbindliche Empfehlung an die Landesärztekammern mit dem Ziel einer bundeseinheitlichen Rechtslage.5 1 Vgl. Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 6. Auflage 2009, Abschnitt II Rn. 24. 2 Wollersheim, in: Terbille/Clausen/Schroeder-Printzen, Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 2. Aufl. 2013, § 6 Rn. 64. 3 Vgl. Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 6. Auflage 2009, Abschnitt II Rn. 9. 4 Vgl. Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 6. Auflage 2009, Abschnitt II Rn. 9. 5 Vgl. Scholz, in: Spickhoff, Medizinrecht, 2. Auflage 2014, Abschnitt 350, Vorbemerkung Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/14 Seite 4 3. Bestimmungen zur Beihilfe zum Suizid Die Musterberufsordnung sieht seit ihrer Änderung durch den 114. Ärztetag 2011 in Kiel zur Frage der Sterbehilfe folgende Regelung vor: „§ 16 Beistand für Sterbende Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Satz 3 untersagt die Beihilfe zum Suizid. Diese Regelung ist in die Berufsordnungen der meisten Landesärztekammern übernommen worden.6 Teilweise ist das Verb „dürfen“ in Satz 3 durch „sollen“ ersetzt worden.7 Das zwingende Verbot wird damit zu einem grundsätzlichen Verbot, das jedoch ein Abweichen in Ausnahmefällen zulässt. Die Berufsordnungen der Ärztekammern, die die Beihilfe zum Suizid grundsätzlich untersagen, gehen über das in § 216 StGB ausgesprochene Verbot der Tötung auf Verlangen hinaus. Suizid ist nicht strafbar, so dass aufgrund der Akzessorietät der Strafbarkeit auch eine Beihilfe zum Suizid nicht strafbar sein kann.8 Auch ein standesrechtliches Verbot der Beihilfe zum Suizid begründet wegen der unterschiedlichen Ordnungsfunktionen der Rechtsgebiete keine Strafbarkeit.9 Die Landesärztekammern haben gemäß den zugrundliegenden Kammergesetzen allerdings die Pflicht, die Einhaltung der Berufsordnungen zu überwachen und bei Verstößen durch Rügen oder Eröffnung eines berufsgerichtlichen Verfahrens zu sanktionieren.10 Ferner dürfen die Ärztekammern in einigen Ländern präventiv die Verschaffung todbringender Medikamente untersagen.11 4. Verfassungsrechtliche Würdigung Die in den Berufsordnungen der Länder geregelte Untersagung der Beihilfe zum Suizid könnte die Grundrechte der betroffenen Ärzte verletzen. In Frage kommen hier die Berufsfreiheit (Art. 12 6 Vgl. Pethke, in: Spickhoff, Medizinrecht, 2. Auflage 2014, Abschnitt 350, § 16 Rn. 7. Eine Ausnahme stellen u.a. Baden-Württemberg und Bayern dar. 7 So etwa in der Berufsordnung der Ärztekammer Westfalen-Lippe vom 22. März 2012, MBl. NRW S. 150 ff. 8 Zur strafrechtlichen Problematik insb. hinsichtlich einer Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung s. Kutzer: Strafrechtliche Rechtsprechung des BGH zur Beteiligung an einem freiverantwortlichen Suizid, ZRP 2012, 135. 9 Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, Anmerkungen zu den §§ 211 ff., Rn. 35 a m.w.N. 10 Hierzu Scholz, in: Spickhoff, Medizinrecht, 2. Auflage 2014, Abschnitt 350, Vorbemerkung Rn. 4. 11 Vgl. zu diesem Sachverhalt VG Berlin, Urt. vom 30.3.2012, MedR 2013, 58 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/14 Seite 5 Abs. 1 GG) sowie deren Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG). Ferner muss der Vorbehalt des Gesetzes gewahrt sein. 12 4.1. Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Betroffenen 4.1.1. Eingriff in den Schutzbereich der Berufsfreiheit Die Ausübung des Arztberufes ist vom Schutzbereich der Berufsfreiheit umfasst. Mit dem Erlass einer Regelung, die § 16 der Musterberufsordnung entspricht, greifen die Landesärztekammern in die Ausübung des Berufes ein. Die Berufsordnungen ergehen als Satzungen einer juristischen Person des öffentlichen Rechts – der Landesärztekammern – auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung .13 Gegen eine derartige Regelungstechnik bestehen keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken.14 4.1.2. Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit richtet sich im Falle des Art. 12 Abs. 1 GG danach, ob die Regelung die Berufswahl oder lediglich die Berufsausübung eines Grundrechtsträgers beeinträchtigt.15 Berufsausübungsregelungen – um solche handelt es sich bei dem Assistenzverbot – sind mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, „wenn sie vernünftigen Zwecken des Gemeinwohls dienen und den Berufstätigen nicht übermäßig oder unzumutbar treffen.“16 Eine Einschränkung darf nur so weit gehen, wie es zur Erreichung der angestrebten Ziele erforderlich ist. Je stärker sie die Berufstätigkeit einengt, umso gewichtiger müssen die sie rechtfertigenden Gründe sein.17 Als vernünftiger Zweck des Allgemeinwohls kommt der Schutz des Lebens der Patienten in Betracht. Art. 2 Abs. 2 GG, der das Recht des Lebens als eines der höchsten Verfassungsgüter schützt18, normiert als objektiv-rechtliches Handlungsgebot eine Pflicht des Staates, das Leben auch gegen Gefahren, die von Dritten ausgehen, zu schützen.19 Dabei geht es nicht nur um denjenigen Patienten, der sich die Beihilfe zum Suizid wünscht, sondern auch um solche todkranken 12 Grundlegend BVerfGE 33, 125 (157 ff.) (Facharzt). 13 Vgl. für die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen §§ 6 Abs. 1 Nr. 6, 29, 30 Heilberufsgesetz und § 16 Berufsordnung für die nordrheinischen Ärzte; für Hessen §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 23, 24 Heilberufsgesetz und § 16 Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Hessen. 14 Ausführlich BVerfGE 33, 125 (156 f.) (Facharzt). 15 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 13. Auflage 2014, Art. 12, Rn. 45 ff. 16 BVerfGE 85, 248 (259) m.w.N. 17 BVerfGE 33, 125 (168). 18 BVerfGE 45, 187 (254 f.). 19 Hierzu Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 2 II Rn. 76 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/14 Seite 6 Patienten, die den Suizid für sich nicht als Option ansehen und nicht unter den gesellschaftlichen Druck einer vorzeitigen Beendigung ihres Lebens und damit ihres Leidens gestellt werden dürfen.20 Die Abwehr auch einer nur abstrakten Gefahr für das Leben stellt wegen dessen Rang in der Rechtsordnung bereits ein legitimes Ziel dar.21 Eine Untersagung der Beihilfe zum Suizid ist geeignet, dieses Ziel zu erreichen und könnte auch erforderlich sein. Das Verbot der ärztlichen Beihilfe zum Suizid dürfte ferner den Arzt nicht übermäßig oder unzumutbar treffen. Dies wird im Allgemeinen nicht der Fall sein, so dass die Berufsausübungsfreiheit der Ärzte im Allgemeinen nicht übermäßig eingeschränkt ist. Allerdings ist auch an die Fälle zu denken, in denen ein Arzt nach der langjährigen Begleitung eines Patienten diesen unter einer tödlichen Krankheit derart leiden sieht, dass auch die beste palliativ-medizinische Versorgung seine Leiden nicht erträglich gestalten kann22 und er sich aus diesen Gründen auf Bitten des Patienten zur Beihilfe zum Suizid entscheidet. In diesen Fällen können sich die betroffenen Ärzte wohl auf ihre Gewissensfreiheit, die durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützt ist, berufen. Die Frage, wie mit Bitten eines Sterbenskranken um Beihilfe zum Suizid umgegangen werden soll, ist in der Allgemeinheit, aber auch unter Juristen, Ethikern und Ärzten umstritten.23 Eine Entscheidung des betroffenen Arztes wird sich daher als eine „ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ orientierte Entscheidung“ einordnen lassen können, die der Arzt als für sich bindend erfährt24 und daher von Art. 4 Abs. 1 GG gedeckt wäre. Die Gewissensfreiheit erstreckt sich auch auf das von einer Gewissensentscheidung geforderte Handeln .25 Als schrankenloses Grundrecht darf es nur aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts eingeschränkt werden. In eine ähnliche Richtung führen Überlegungen, das Selbstbestimmungsrecht des sterbewilligen Patienten zu berücksichtigen. Teile der Literatur erkennen ein Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Ende des Lebens mit unterschiedlichen Begründungen an. So wird dieses Recht entweder als negativer Gehalt des Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG)26 oder als Ausprägung des allgemeinen 20 So insb. Sahm, Die Irrtümer der Suizidhelfer, FAZ vom 15.10.2014. 21 Isensee, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, 2011, § 87 Rn. 214. 22 Hierzu ausführlich Strätling, Assistierter Suizid – grundsätzlich „keine ärztliche Aufgabe?“, MedR 2012, 283 (286 f.); Ärztlich assistierter Suizid – Reflexionen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, MedR 2014, 643; und hierzu Duttge, Der assistierte Suizid: Ein Dilemma nicht nur der Ärzteschaft – Ein kritischer Kommentar zu den „Reflexionen“ der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, MedR 2014, S. 621. 23 S. im Einzelnen die zahlreichen Nachweise bei VG Berlin, Urteil vom 30.3.2012, MedR 2013, 58 (63); Hoppe/ Hübner, Der ärztlich assistierte Suizid aus medizin-ethischer und aus juristischer Perspektive, Zeitschrift für medizinische Ethik 2009, S. 303 ff. sowie die dortigen Beiträge zum Schwerpunkt, S. 219 - 271; Nachweise zu Meinungsumfragen bei Rosenau/Sorge, Gewerbsmäßige Suizidförderung als strafwürdiges Unrecht?, in: Neue Kriminalpolitik 2013, 108 (117). 24 Zur Definition der Gewissensentscheidung s. BVerfGE 12, 45 (55); 48, 127 (173). 25 Morlok, in: Dreier, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 100 m.w.N.; s. auch VG Berlin, Urteil vom 30.3.2012, 9 K 63.09, MedR 2013, 58 (64). 26 Lindner, Verfassungswidrigkeit des – kategorischen – Verbots ärztlicher Suizidassistenz, NJW 2013, 136; wohl auch Murswiek, in: Sachs, Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 212 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/14 Seite 7 Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)27 gesehen. Andere sehen das Recht eines „Sterbens in Würde“ als von der Menschenwürde umfasst an (Art. 1 GG).28 Ein anderer Teil der Literatur lehnt ein solches Recht ab.29 Wird Ärzten standesrechtlich die Beihilfe zum Suizid verboten, ist sterbewilligen Todkranken eine wesentliche oder die einzige Möglichkeit, ihren Wunsch durch entsprechende Medikamente und damit nach Auffassung des Betroffenen würdig umzusetzen, genommen. Hierin könnte eine Verletzung des Grundrechts gesehen werden. Diese in der konkreten Konstellation im Widerspruch zueinander stehenden Interessen – Schutz des Lebens als Rechtsgut über den konkreten Einzelfall hinaus, Gewissensfreiheit und ggf. auch Selbstbestimmungsrecht des Patienten auf der anderen Seite – müssen gegeneinander abgewogen werden. Hier ist ferner in die Erwägungen einzustellen, dass die als Berufsausübungsregel gedachte Vorschrift in ihrer Konsequenz zu einem Berufsverbot für einen Arzt führen kann, wenn die Kammer ihn wegen seines Verstoßes für unwürdig befindet, den Beruf des Arztes auszuüben, und ihm in der Konsequenz die Approbation entzogen werden könnte. Wie das Ergebnis der Abwägung für eine generell-abstrakte Regelung auszusehen hat, muss hier nicht im Einzelnen geprüft werden. Allerdings lässt sich wohl feststellen, dass ein starres Verbot, das ein Abweichen auch nicht im Einzelfall unter bestimmten Bedingungen zulässt, zumindest mit der Berufs- und Gewissensfreiheit des Arztes – und, soweit ein Recht auf ein „Sterben in Würde“ anerkannt wird, auch mit diesem – wohl nur schwer in Einklang zu bringen ist.30 4.2. Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes Es stellt sich ferner die Frage, ob das Verbot der Beihilfe zum Suizid im Standesrecht mit dem Vorbehalt des Gesetzes vereinbar ist oder ob der parlamentarische Gesetzgeber in diesem Raum allein regelungsbefugt ist. 4.2.1. Von Ermächtigungsgrundlage getragene Regelungen in den Berufsordnungen? Zunächst ist zu prüfen, ob die Vorschrift in den Berufsordnungen der Ärzte von der Ermächtigungsgrundlage in den Landesgesetzen getragen wird. Die den Berufsordnungen der Ärzte zugrundeliegenden Kammer- oder Heilberufsgesetze der Länder übertragen diesen nur generell die Aufgabe , die Erfüllung der Berufspflichten zu überwachen. Die Berufspflichten werden grob skizziert – insbesondere die Pflicht zur Fortbildung sowie zur Unterrichtung über gesetzliche und satzungsrechtliche Bestimmungen –, ihre Ausgestaltung im Einzelnen wird den Berufsordnungen überlassen , die der Genehmigung durch die Aufsichtsbehörde bedürfen. Zahlreiche Kammern haben 27 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl. 2014, Art. 2 Rn. 34, 50; wohl auch Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, 39. EL 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 205. 28 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, 55. EL 2009, Art. 1 Rn. 89 m.w.N. 29 Isensee, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, 2011, § 87 Rn. 214; Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 7, 3. Aufl. 2009, § 147 Rn. 104 je m.w.N. 30 So im Ergebnis mit ausführlicher Begründung auch VG Berlin, Urteil vom 30.3.2012, MedR 2013, 58. Kritische Anmerkungen zum Urteil Hübner, MedR 2013, 65 f.; Büchner, ZfL 2012, 90 f. Vgl. ferner den Beschluss Nr. IV. 5 der strafrechtlichen Abteilung des 66. Deutschen Juristentages 2006, Beschlüsse, S. 12, im Internet abrufbar unter www.djt.de. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/14 Seite 8 den § 16 Musterberufsordnung in ihre Berufsordnung als Berufspflicht übernommen.31 Auch wenn es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) der Natur allen Standesrechts entspricht, „dass die Berufspflichten der Standesangehörigen nicht in einzelnen Tatbeständen erschöpfend umschrieben werden können, sondern in einer Generalklausel zusammengefasst sind, welche die Berufsangehörigen zu gewissenhafter Berufsausübung und zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten innerhalb und außerhalb des Berufs anhält, die nähere Bestimmung der sich hieraus ergebenden einzelnen Pflichten aber der Aufsichtspraxis der Standesorgane und der Rechtsprechung der Berufsgerichte überlässt“32, begegnet diese Praxis im konkreten Fall erheblichen Bedenken. Es ist nämlich fraglich, ob der Ausschluss einer bestimmten Tätigkeit durch die Berufsordnung von der allgemein gehaltenen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zum Satzungserlass durch die Kammern gedeckt wird.33 Ferner ist durch das standesrechtliche Verbot des ärztlich assistierten Suizids jedenfalls das unmittelbare Verhältnis zwischen Arzt und Patient betroffen. Die Regelung geht damit über den Kreis der Mitglieder der Kammer hinaus. Wie bereits eingangs erwähnt, ist die Satzungsautonomie der Landesärztekammern auf Bereiche der Selbstverwaltung ohne Außenwirkung beschränkt.34 Damit überschreitet die ausnahmslose Untersagung der Beihilfe zum Suizid im Standesrecht wohl den Bereich der Satzungsautonomie. 4.2.2. Wesentlichkeitsgrundsatz Weitere Bedenken ergeben sich aus Folgendem: Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebieten Demokratie und Rechtsstaatsgebot dem parlamentarischen Gesetzgeber, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlichen Regelungen zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst“ zu treffen.35 Er darf diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive überlassen.36 Das Entscheidungsmonopol des Gesetzgebers in diesen Fragen verpflichtet ihn zu einer Regelung – soweit er einen Sachverhalt überhaupt regeln soll und will. 37 31 Vgl. für die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen §§ 6 Abs. 1 Nr. 6, 29, 30 Heilberufsgesetz und § 16 Berufsordnung für die nordrheinischen Ärzte; für Hessen §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 23, 24 Heilberufsgesetz und § 16 Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Hessen. 32 BVerfGE 33, 125 (164). 33 In einem anders gelagerten Fall sah das VG Gera in der Unterstützung des Sterbewunsches einer gesunden Person einen Verstoß gegen Berufspflichten des Arztes, die sich aus dem gesetzlich normierten Aufgabenbereich der Kammer ergebe, VG Gera, 3 K 538/08, Urteil vom 7.10.2008, Juris Rn. 85 f. 34 Vgl. BVerfGE 33, 125 (160) (Facharzt). 35 BVerfGE 95, 267 (307 f.) m.w.N.; st. Rspr. 36 BVerfGE 83, 130 (142). 37 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 5, 3. Aufl. § 101 Rn. 53. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/14 Seite 9 Die Abgrenzung des vom Gesetzgeber zu regelnden „Wesentlichen“ vom „Unwesentlichen“ stößt auf Schwierigkeiten und lässt sich nicht generell-abstrakt vornehmen.38 Für die Abgrenzung kommt es unter anderem auf die Intensität des Grundrechtseingriffs an.39 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Je schwerwiegender die Auswirkungen einer Regelung und je wesentlicher eine Angelegenheit für die Allgemeinheit bzw. den einzelnen Bürger ist, desto genauer müssen die Vorgaben des parlamentarischen Gesetzgebers sein.40 Die Untersagung der Beihilfe zum Suizid betrifft die Ausübung der Berufs- und Gewissensfreiheit des Arztes und berührt dessen Grundrechte im Einzelfall intensiv. Bereits aus diesem Grund wäre wohl nur der Gesetzgeber im Sinne der Wesentlichkeitsrechtsprechung zu einer Regelung berechtigt. Darüber hinaus könnte auch – je nach Rechtsansicht – das Selbstbestimmungsrecht des Patienten am Ende des Lebens betroffen sein. Ferner ist zu beachten, dass sich der parlamentarische Gesetzgeber bereits zu Fragen des Suizids geäußert hat. Zwar gibt es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung zum ärztlich assistierten Suizid. So steht der Suizid nach gefestigter Rechtsprechung anders als in anderen europäischen Ländern41 nicht unter Strafe, eine Beihilfe ist daher nicht strafbar. Dies hat der Gesetzgeber zur Kenntnis genommen, ohne gesetzliche Änderungen vorzunehmen. Hingegen gab es zahlreiche Gesetzesinitiativen zum Verbot der gewerblichen Beihilfe zum Suizid, die allerdings aus verschiedenen Gründen bislang nicht in Gesetzeskraft erwachsen sind.42 Diese Gesetzentwürfe sahen in ihren Begründungen für Fälle ärztlicher Behandlungen im Rahmen der Palliativmedizin Ausnahmen von der Strafbarkeit vor und wollten ausdrücklich keine allgemeine Strafbarkeit des Suizids sowie der Beihilfe hierzu einführen. Diese Debatte hält an.43 Wenn der Gesetzgeber bislang nicht ausdrücklich eine Sonderreglung für Ärzte geschaffen hat, spricht dies dafür, dass er keine Regelung treffen wollte. Diese „Lücke“ dürften nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes jedoch wohl auch keine anderen Normgeber wie die Ärztekammern füllen. 5. Ergebnis Die Normierung des ausnahmslosen Verbots der Beihilfe zum Suizid durch Ärzte in den Berufsordnungen für Ärzte der Länderkammern stößt auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. So ist ein entsprechendes Verbot, das auch für besonders gelagerte Einzelfälle keine Ausnahme 38 Zu diesem Problem Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 5, 3. Aufl. § 101 Rn. 56 ff. 39 BVerfGE 49, 89 (127). 40 BVerfGE 33, 125 (158 ff.); 96, 189 (193). 41 Vgl. hierzu Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung, BT-Drs. 17/11126, insb. S. 8. Eine rechtsvergleichende Studie findet sich bei Taupitz, Selbstbestimmtes Sterben: Die Macht der Gesetze ist beschränkt, Dt Ärztebl 2001 (98: A) S. 2937-2942. 42 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung, BT-Drs. 17/11126, insb. S. 8; Antrag der Länder Saarland, Hessen, Thüringen, Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung (... StrRÄndG), BR-Drs. 436/08, S. 8. 43 S. hierzu nur Gajevic, Sterbehilfe entzweit Abgeordnete, FR v. 15.10.2014. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 215/14 Seite 10 vorsieht und die Möglichkeit zum Entzug der Approbation eröffnet, mit der Berufs- und Gewissensfreiheit der Ärzte nur schwer in Einklang zu bringen. Insbesondere verstößt aber eine standesärztliche Regelung in den Berufsordnungen der Ärzte wohl gegen den Vorbehalt des Gesetzes: Es ist bereits fraglich, ob sich diese Regelungen auf die landesrechtlichen Ermächtigungen zum Erlass von Berufsordnungen stützen können. Da es sich aber um eine Frage handelt, die die Grundrechte der Ärzte, aber wohl auch der Patienten, intensiv berührt, ist deren Lösung wohl dem Gesetzgeber vorbehalten. Wenn er eine Regelung bislang unterlassen hat, ist eine „Ersatzvornahme“ durch den Satzungsgeber nicht zulässig.