© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 214/17 Das neue Wahlrecht Italiens („Rosatellum“) Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 214/17 Seite 2 Das neue Wahlrecht Italiens („Rosatellum“) Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 214/17 Abschluss der Arbeit: 1. November 2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 214/17 Seite 3 1. Stand des Gesetzgebungsverfahrens Das italienische Verfassungsgericht hat das 2015 verabschiedete Wahlgesetz („Italicum“) am 25. Januar 2017 für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin hat die italienische Abgeordnetenkammer am 12. Oktober 2017 ein neues Wahlgesetz verabschiedet („Rosatellum“). Der Senat hat dem Gesetzentwurf am 26. Oktober 2017 zugestimmt. Der Gesetzentwurf tritt in Kraft, sobald er durch den Staatspräsidenten unterzeichnet und anschließend im Gesetzesblatt veröffentlicht ist.1 2. Wesentlicher Inhalt 2.1. Mehrheits- und Verhältniswahl Nach dem neuen Gesetz verteilen sich die 630 Sitze der Abgeordnetenkammer wie folgt:2 – 36% der Sitze werden an die Kandidaten vergeben, die in den 232 Direktwahlkreisen jeweils die Mehrheit der Stimmen erringen („Direktkandidaten“). – 64% der Sitze werden per Verhältniswahlrecht über Wahllisten bestimmt – voraussichtlich in 65 Listenwahlkreisen („Listenkandidaten“). Die Anzahl der Wahlkreise wird ein noch zu erlassendes Dekret festlegen. 2.2. Ein-Stimmen-System Es handelt sich um ein Ein-Stimmen-System. Der Wähler kann seine Stimme entweder einem Direktkandidaten oder der Liste einer Partei/eines Wahlbündnisses geben. Diese eine Stimme wirkt sich gleichwohl immer auf Direkt- und Listenkandidaten aus:3 – Gibt der Wähler die Stimme für den Direktkandidaten ab, zählt die Stimme für diesen Kandidaten voll. Zugleich kommt diese Stimme der Partei zugute, die den Kandidaten unterstützt; sind dies mehrere Parteien (Wahlbündnis), kommt die Stimme anteilig allen Parteien zugute, die den Kandidaten unterstützen.4 – Gibt der Wähler die Stimme für die Liste einer Partei ab, zählt die Stimme für diese Liste voll. Zugleich kommt die Stimme anteilig dem Direktkandidaten zugute, den die Partei unterstützt.5 1 Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), Länderbericht Oktober 2017, Das neue Wahlgesetz in Italien, S. 1, http://www.kas.de/wf/doc/kas_50405-544-1-30.pdf?171019180546. 2 KAS (Fn. 1); für den „Wahlkreis Ausland“ gelten Sonderbestimmungen. Für den Senat gelten entsprechende Regelungen; der Vergleichbarkeit mit dem deutschen System halber wird nur die Abgeordnetenkammer dargestellt . 3 KAS (Fn. 1) S. 2. 4 Aus den deutsch- und englischsprachigen Quellen ist nicht ersichtlich, ob „anteilig“ den Proporz der auf das Wahlbündnis entfallenden Listenstimmen meint, oder eine andere Verrechnungsregel. 5 Siehe vorige Fußnote. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 214/17 Seite 4 3. Kritik In der internationalen Presse finden sich folgende Kritikpunkte:6 Der Wähler hat nur eine Stimme und kann nicht gleichzeitig einen Kandidaten und eine Partei wählen; bei den Parteilisten bestimmen oftmals faktisch Parteiobere, wer ins Parlament kommt; Parteien, die vor der Wahl keine Bündnisse eingehen wollen, werden benachteiligt. 4. Übertragbarkeit auf Deutschland Das Grundgesetz legt kein Wahlsystem ausdrücklich fest. Dieser Gestaltungsspielraum ist „vom Wahlgesetzgeber auszufüllen“.7 Dabei ist insbesondere der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit von Belang. Das Ein-Stimmen-Wahlrecht galt früher in mehreren Bundesländern8 und gilt heute noch in Baden-Württemberg und im Saarland.9 Auf Bundesebene galt es bei der Wahl von 1949.10 Es ist weiterhin Gegenstand von Reformvorschlägen.11 In der Vergangenheit führte das Ein-Stimmen-System zu Überhangmandaten. Dies führt die Literatur auf jeweilige Eigenheiten der Wahlgesetze zurück.12 Es sind Annahmen denkbar, unter denen ein an das italienische Wahlrecht angelehntes Ein-Stimmen-System in Deutschland Überhangmandate ausschließen würde, z.B.: - Es gibt ein limitiertes Kontingent an Sitzen für Direkt- und Listenkandidaten. - Es findet keine Verrechnung zwischen Direkt- und Listenmandaten statt (Trennung der Kontingente). Das für die Direktkandidaten vorgesehene Sitzkontingent würde wohl vor allem auf Kandidaten der großen Parteien entfallen. Die verfassungsrechtliche Beurteilung hängt letztlich davon ab, wie der Gesetzgeber ein neues Wahlrecht im Einzelnen ausgestaltet. *** 6 NZZ (26.10.2017), Italien hat endlich ein neues Wahlgesetz; Stol (26.10.2017), „Rosatellum” tritt in Kraft. 7 BVerfGE 95, 335 (352). 8 Holste, NVwZ 2013, 529 (533): Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. 9 Landtagswahlgesetz BW, § 1 Abs. 3 S. 1; Landtagswahlgesetz SL, § 10 Abs. 1 S. 1. 10 § 13 Wahlgesetz zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung vom 15.06.1949, BGBl S. 21. 11 Zustimmend z.B.: Meyer, Bürger im Staat 2013, 208 (210 f.); Behnke, ZParl 2012, 675 (686 f.). 12 Holste, NVwZ 2013, 529 (533).