© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 212/20 Der Begriff des Geschlechts des Art. 3 Abs. 3 S. 1 Grundgesetz Zum Diskriminierungsschutz transgeschlechtlicher, intergeschlechtlicher und nicht-binärer Menschen im Grundgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Indes wird das von der Verfassung vorausgesetzte Verständnis des Geschlechtsbegriffs im Verfassungstext selbst nicht näher erläutert. Gefragt wird, ob über ein binäres Geschlechtsmuster hinaus auch transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen erfasst und geschützt sind. Von Transgeschlechtlichkeit spricht man, wenn „einem Menschen ein Geschlecht zugewiesen wurde, welches nicht oder nicht mehr seinem empfundenen Geschlecht entspricht“1. Intergeschlechtlichkeit bezeichnet hingegen „Menschen mit körperlich-biologischen Eigenschaften, chromosomal oder in der physischen Ausprägung, die nicht als männlich oder weiblich eingeordnet werden“2. Die Gruppe der nicht-binären Personen erfasst schließlich Menschen, die sich selbst in ihrer geschlechtlichen Identität nicht auf eine der zwei Kategorien männlich oder weiblich festlegen wollen oder können.3 2. Der Geschlechtsbegriff in Judikatur und Rechtswissenschaft Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahre 2017 über die Verfassungsmäßigkeit einer Fragestellung aus dem Personenstandsrecht zu entscheiden, in der es um die fehlende Möglichkeit einer dritten Eintragungsalternative jenseits von „männlich“ und „weiblich“ ging. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die entsprechenden Vorschriften des Personenstandsrechts mit dem speziellen Gleichheitssatz unvereinbar seien. Die Beschwerdeführerin, welche sich selbst als intergeschlechtlich verstand, werde daher in verfassungswidriger Weise beeinträchtigt. Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG schütze auch diejenigen Menschen, die sich den binären Geschlechtskategorien in ihrer geschlechtlichen Identität nicht zuordnen können, vor Diskriminierung wegen dieses nicht eindeutigen Geschlechts.4 Das Bundesverfassungsgericht hält diese weite Interpretation des Geschlechtsmerkmals in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG für möglich und geboten.5 Der Wortlaut lasse eine Einbeziehung dieser Personen ohne Probleme zu. Eine weite Interpretation entspräche dem Sinn und Zweck des Gleichheitssatzes, denn die Vulnerabilität von Menschen mit weder männlicher noch weiblicher Geschlechtsidentität sei in einer überwiegend nach binären Geschlechtsmustern agierenden Gesellschaft besonders gegeben.6 Auch eine historische Betrachtung verschließe diese Auslegungsmöglichkeit nicht. Der Umstand, dass der Verfassungsgeber im Jahr 1949 von einem 1 Baer/Markard, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 452. 2 Baer/Markard, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 454. 3 Kockott, in: Pschyrembel online, abrufbar unter: https://www.pschyrembel.de/Genderqueer/A067X (letzter Abruf am 18. September 2020). 4 BVerfGE 147, 1 (Rn. 58). 5 BVerfGE 147, 1 (Rn. 58 ff.). 6 BVerfGE 147, 1 (Rn. 59). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 212/20 Seite 4 binären Geschlechtsverständnis ausgegangen sei, verhindere eine gewandelte Verfassungsinterpretation angesichts moderner Erkenntnisse um weitere geschlechtliche Identitäten nicht.7 Konkrete Feststellungen zu einzelnen Geschlechtsgruppen (transgeschlechtlich, intergeschlechtlich und nicht-binär) äußerte das Bundesverfassungsgericht nicht. Allerdings stellte es in seinem Beschluss fest, dass der Gerichtshof der Europäischen Union bereits im Jahr 1996 transgeschlechtliche Personen in den Diskriminierungsschutz einbezogen habe.8 Vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017 wurde die Frage, ob über den Geschlechtsbegriff des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG auch transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen erfasst und geschützt sind, in der Rechtswissenschaft unterschiedlich beurteilt.9 Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat vereinzelt Kritik erfahren: So wird ein „intransparente [r] Umgang mit dem geschlechtertheoretischen Vorverständnis“10 gerügt. Das Bundesverfassungsgericht habe sein Mandat überschritten; eine Neudefinition des Geschlechtsbegriffs sei dem Verfassungsgeber vorbehalten.11 Kritisiert wird zudem, dass die Entscheidung den Geschlechtsbegriff durch Abstellen auf die individuelle Selbstwahrnehmung in inakzeptabler Weise versubjektiviere; eine solche Interpretation würde zu einer kaum handhabbaren Unwägbarkeit des Geschlechtskriteriums führen.12 Sinnvollerweise müsse an dem bewährten biologischen Geschlechtsverständnis festgehalten werden. Auch der Gesetzgeber habe gezeigt, dass er eine Versubjektivierung des Geschlechts nicht akzeptiere, indem er für eine Änderung der Geschlechtsbezeichnung einen Nachweis durch ärztliche Bescheinigung über das Vorliegen einer Variante der Geschlechtsentwicklung verlange.13 Ein Großteil der Rechtswissenschaft sieht vom Geschlechtsbegriff des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zumindest die somatische Intergeschlechtlichkeit und die Ungleichbehandlung wegen des Geschlechtswechsels 7 BVerfGE 147, 1 (Rn. 61). 8 Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 30. April 1996, Az.: C-13/94, Slg. 1996, I-2143, Rn. 20. 9 Vgl. exemplarisch Heun, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 3 Rn. 127 für ein binäres Geschlechterverständnis; Sachs, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band VIII, 3. Auflage 2010, § 182 Rn. 42 für ein weiteres Verständnis. 10 Rixen, Geschlechtertheorie als Problem der Verfassungsauslegung, JZ 2018, 317 (326). 11 Märker, Drittes Geschlecht ? – Quo vadis Bundesverfassungsgericht?, NZFam 2018, S. 1 (3 f.); Kischel, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Stand: 15. Mai 2020, Art. 3 Rn. 219. 12 Märker, Drittes Geschlecht ? – Quo vadis Bundesverfassungsgericht?, NZFam 2018, S. 1 (3 f.); Kischel, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Stand: 15. Mai 2020, Art. 3 Rn. 219a. 13 Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Stand: 15. Mai 2020, Art. 3 Rn. 219a mit Verweis auf den in Reaktion auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts eingefügten § 45b Abs. 3 Personenstandgesetz. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 212/20 Seite 5 (transgeschlechtliche Personen) erfasst.14 Darüber hinaus gibt es Stimmen, die ihre Auffassung eines weiten Geschlechterverständnisses durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bestärkt sehen.15 Nach der weiten Auslegung schütze der spezielle Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG auch Menschen, die sich selbst dauerhaft keinem der traditionell binären Geschlechter zuordnen können (nicht-binäre).16 3. Handlungsspielraum des Gesetzgebers Gefragt wurde ferner, ob es dem Gesetzgeber möglich wäre, etwa in einer Begründung eines Verfassungsänderungsgesetzes , sicherzustellen, dass die zuvor behandelten Gruppen (transgeschlechtliche , intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen) von dem in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG erfassten Merkmal des Geschlechts erfasst sind. Eine wirksame Änderung der Verfassung kann nach Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG nur durch ein Gesetz erfolgen, welches den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt.17 Von einer Verfassungsänderung strikt zu unterscheiden sind inhaltliche Weiterentwicklungen des Grundgesetzes ohne explizite Textmodifikationen, welche durch einen zeitlichen, interpretatorischen oder sonstigen Wandel bedingt sind (Verfassungswandel).18 Das Bundesverfassungsgericht bedient sich bei der Auslegung und Interpretation des Grundgesetzes der klassischen Interpretationsmethoden , indem es auf Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Zweck abstellt.19 Die historische Auslegung (Entstehungsgeschichte), die insbesondere die sich in der Gesetzesbegründung niederschlagenden Motive des Gesetzgebers berücksichtigt, ist dabei nur eine von mehreren Auslegungsmethoden. Die vier Auslegungsmethoden stehen gleichbedeutend in einem als juristischen Auslegungskanon bezeichneten Verhältnis nebeneinander.20 Nur in ihrer Gesamtschau können sie die Frage, ob ein Verfassungswandel dahingehend eingetreten ist, dass unter dem Merkmal „Geschlecht“ in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG auch transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen erfasst sind, beantworten. Würde der Gesetzgeber, was ihm frei stünde, im 14 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz Kommentar, 16. Auflage 2020, Art. 3 Rn. 138; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, Grundgesetz, 14. Auflage 2017, Art. 3 Rn. 77; Sachs, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts , 3. Auflage 2010, § 182 Rn. 42; Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand Februar 2020, Art. 3 Rn. 484. 15 Baer/Markard, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 451 u. 453. 16 Baer/Markard, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 451 u. 453; Schmidt, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Auflage 2020, GG, Art. 3 Rn. 69; siehe auch Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand: 90. Ergänzungslieferung Februar 2020, Art. 3 Rn. 24 und 42, die schon vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts eine Erfassung des „psychischen Geschlechts“ für konsequent erachtete. 17 Dietlein, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Stand: 15. Mai 2020, Art. 79 GG, Rn. 5. 18 Dietlein, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Stand: 15. Mai 2020, Art. 79 GG, Rn. 5.3. 19 Voßkuhle, Der Wandel der Verfassung und seine Grenzen, JuS 2019, 417 (417 f.). 20 Starck, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Auflage 2014, § 271 Rn. 23. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 212/20 Seite 6 Rahmen einer verfassungsändernden Gesetzgebung zu Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG sein geändertes, gewandeltes Verständnis der übrigen Merkmale des Grundrechts in der Gesetzesbegründung äußern, wäre das nur einer von mehreren Bestandteilen der Auslegung. Eine Rechtsverbindlichkeit einer vom Gesetzgeber gewollten Auslegung wäre nur durch eine Verfassungsänderung zu ermöglichen. ***