© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 210/14 Fragen zum Entwurf einer Rechtsverordnung gemäß § 56b Abs. 2 S. 1 VAG Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 210/14 Seite 2 Fragen zum Entwurf einer Rechtsverordnung gemäß § 56b Abs. 2 S. 1 VAG Verfasserin: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 210/14 Abschluss der Arbeit: 7. Oktober 2014 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 210/14 Seite 3 1. Einleitung Mit der Änderung des § 56b Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) wurde ein Teil der Rückstellungen für Beitragsrückerstattungen (RfB) des Alt- und des Neubestandes in der Lebensversicherung kollektiviert.1 Dieser kollektive Teil soll für die Risikotragfähigkeit des Gesamtbestandes der abgeschlossenen Verträge unabhängig vom Abschlusszeitpunkt zur Verfügung stehen. Der kollektive Teil wird aus den künftig anfallenden Überschüssen sowie aus den Mitteln des Altbestandes gebildet, die bei einem „ungestörten“ Vertragsablauf an die Verträge des Neubestands abgegeben würden. Die Festlegung, welche Umbuchungen zwischen den einzelnen Teilen der RfB möglich sind, soll in einer Rechtsverordnung geregelt werden.2 Diese Rechtsverordnung soll demnächst durch das Bundesministerium der Finanzen erlassen werden. Laut § 3 Abs. 3 des Referentenentwurfs der Verordnung (im Folgenden: Verordnung) werden die zum kollektiven Teil der RfB eingestellten Beträge auf die Höhe von 80 Prozent der Solvabilitätsspanne gemäß Kapitalausstattungs-Verordnung3 begrenzt. Eine weitreichende Kollektivierung der RfB ist damit nicht geplant. Die Eigenmittel eines Lebensversicherungsunternehmens setzen sich nach den gesetzlichen Vorgaben, insb. § 53c Abs. 2 Nr. 4 VAG, faktisch zu 80 Prozent aus den ungebundenen Eigenmitteln und zu 20 Prozent aus sonstigen Eigenmitteln zusammen. Eine Rückführung aus dem kollektiven Teil der Eigenmittel ist nur möglich, wenn der kollektive Teil der RfB diese 80 Prozent der Solvabilitätsspanne übersteigt oder eine Einzelfallgenehmigung der Versicherungsaufsichtsbehörde gemäß § 3 Abs. 4 der Verordnung vorliegt. Nachdem in einem anderen Gutachten4 bereits die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit des § 56b VAG geprüft wurde, geht es vorliegend um die Frage, ob diese Verordnung, nach der der kollektive Teil bis zur Höhe von 80 Prozent der Solvabilitätsspanne ausschließlich als Eigenmittel und nicht für Überschussleistungen im Sinne von § 56b VAG verwendet werden darf, mit dem Recht am Eigentum der Versicherungsnehmer im Einklang steht. Insbesondere wird eingewandt, durch die Ausgestaltung der Rechtsverordnung werde die adäquate Grenze für eine zeitnahe Ausschüttung der Überschussbeteiligung an die Versicherungsnehmer überschritten. 2. Vereinbarkeit des Entwurfes der Rechtsverordnung mit dem Recht am Eigentum der Versicherungsnehmer gemäß Art. 14 GG 2.1. Ist der Schutzbereich der Eigentumsfreiheit betroffen? Wie bereits in einem vorangehenden Gutachten5 erläutert, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in zwei Entscheidungen Ansprüche von Lebensversicherten auf Überschussbeteiligung 1 Im Einzelnen vgl. , Einrichtung kollektiver Teile innerhalb der Rückstellungen für Beitragsrückerstattung der Lebensversicherer – Zur Vereinbarkeit mit Art. 14 GG, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 - 3000 - 168/14, 2014, S. 4 f. 2 Begründung auf BT-Drs. 17/11395, S. 19. 3 Kapitalausstattungs-Verordnung vom 13. Dezember 1983 (BGBl. I S. 1451), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 16. August 2013 (BGBl. I S. 3275) geändert worden ist. 4 (Fn. 1). 5 (Fn. 1), S. 5 - 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 210/14 Seite 4 als Eigentum im Sinne des Art. 14 GG angesehen, falls sie durch die jeweiligen rechtlichen Vorgaben bereits konkretisiert worden sind. Soweit die Verordnung freie RfB zu den Eigenmitteln der Versicherung zur Erhöhung der Solvabilitätsspanne zuordnet, betrifft dies Mittel, die noch nicht einzelnen Verträgen zugeordnet sind. Es erscheint daher zumindest fraglich, ob den Versicherten bereits hinreichend konkretisierte Anwartschaften entstanden sind, die als Eigentum im Sinne des Art. 14 GG zu qualifizieren sind. Da aber nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVerfG auch diese Konstellation vom Schutzbereich der Eigentumsfreiheit gemäß Art. 14 GG umfasst sieht, soll im Folgenden eine mögliche verfassungsrechtliche Rechtfertigung der eingangs erwähnten Rechtsverordnung geprüft werden. 2.2. Mögliche verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Schranken- und Inhaltsbestimmung Wie bereits in anderen Gutachten ausgeführt6, verfolgen die Änderung des Gesetzes sowie § 3 Abs. 1, 3 und 4 Verordnung als legitimes Ziel den Ausgleich teilweise gegenläufiger Interessen: zwischen dem Interesse der einzelnen Versicherungsnehmer an einer zeitnahen Rückerstattung ihrer zu viel gezahlten Prämie, dem Interesse des Versichertenkollektivs an einer langfristigen und gleichmäßigen Überschussbeteiligung sowie dem Ziel der Erhöhung der Solvabilität des Versicherungsunternehmens. Soweit die Versicherungsunternehmen als Aktiengesellschaften ausgestaltet sind, ist ferner das Interesse der Aktionäre an einer möglichst hohen Ausschüttung zu berücksichtigen.7 Dieses Interesse wird durch § 56a Abs. 2 VAG modifiziert.8 Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer Entscheidung9 zum VAG festgestellt, dass das Hinausschieben der Beteiligung an den Überschüssen eine Benachteiligung der Versicherten sei. Allerdings war Gegenstand der Entscheidung eine versicherungsaufsichtsrechtliche Genehmigung, die in einem anderen wirtschaftlichen Umfeld versagt wurde als dem derzeitigen. So seien in der damaligen wirtschaftlichen Situation die „Sicherheitszuschläge“ der Beiträge weitgehend nicht „benötigt“ worden, so dass „die Beiträge somit zu Lasten der Versicherten an sich zu hoch bemessen“ gewesen seien. Die Versicherten hätten daher „ein schutzwürdiges Interesse daran, dass ihnen die für die Rückvergütung ihrer an sich zu hoch bemessenen Beiträge vorgesehenen Beträge auch zeitnah und damit verursachungsgerecht endgültig ausgeschüttet werden“.10 Die derzeitige wirtschaftliche Situation ist hingegen von einer Niedrigzinsphase geprägt, die einen Teil der Versicherungsunternehmen in erhebliche finanzielle Schwierigkeit bringt und zu deren 6 (Fn. 1), S. 8 – 10 sowie , Versicherungsaufsichtsrechtliche Fragen zur Ausschüttungspraxis bei Lebensversicherungen , Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 4 – 3000 – 181/14, 2014, S. 5-7. 7 Hierauf weist der Bund der Versicherten e.V. in der Anlage zu seinem „Offenen Brief an Bundespräsident Joachim Gauck: Verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Lebensversicherungsreformgesetz mit zugehöriger Verordnung“ hin. 8 Im Einzelnen Kaulbach, in: Kaulbach et al., Versicherungsaufsichtsgesetz - VAG - , Kommentar, 5. Aufl. 2012, § 56 a Rn. 1. 9 BVerwG NJW 1990, 1003. 10 BVerwG NJW 1990, 1003 (1004). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 210/14 Seite 5 Insolvenz führen könnte.11 Daher ist bereits fraglich, ob das BVerwG seine damalige Wertung im heutigen Kontext aufrechterhalten würde. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass es sich um eine versicherungsaufsichts- und nicht um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit handelte, das BVerwG also eine Einzelfallentscheidung anhand der geltenden Gesetzeslage zu treffen hatte. Vorliegend ist jedoch die Verfassungsmäßigkeit einer generell-abstrakten Norm – der Rechtsverordnung – insbesondere auf ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Mit der Rechtsverordnung sollen die oben genannten Ziele erreicht und Interessen ausgeglichen werden. Bei der Beurteilung von Eignung und Erforderlichkeit einer Maßnahme steht auch dem Verordnungsgeber ein weiter Beurteilungs- und Prognosespielraum zur Verfügung.12 Dieser wäre nur überschritten, wenn die von § 3 Abs. 2 und 3 Verordnung angestrebte Begrenzung der Kollektivierung der RfB schlichtweg ungeeignet wäre und sich ein milderes Mittel aufdrängte.13 Dabei ist auf die Verhältnisse abzustellen , die der Gesetzgeber bei der Vorbereitung des Gesetzes vorfand.14 „Hat der Gesetzgeber die ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ausgenützt, müssen Irrtümer über den Verlauf der Entwicklung in Kauf genommen werden. Eine – anfängliche – Verfassungswidrigkeit des Gesetzes können sie jedenfalls nicht begründen. Diese materiell-rechtliche Eingrenzung der Anforderung einer Zwecktauglichkeit führt verfahrensrechtlich zu einem legislatorischen Prognosespielraum und zu einer Begrenzung der richterlichen Inhaltskontrolle. Die Einschränkung gerichtlicher Inhaltskontrolle wird kompensiert durch eine materiell-rechtliche Korrekturverpflichtung des Gesetzgebers in dem Fall, dass sich später die Zweckuntauglichkeit des Gesetzes erweist.“15 Sollte sich also bei der Anwendung der Rechtsverordnung herausstellen, dass der Verordnungsgeber im Rahmen seines Spielraums die wirtschaftliche Entwicklung im Bereich der Versicherungswirtschaft falsch prognostiziert hat oder die Versicherungsunternehmen entgegen dem Sinn des Gesetzes Überschüsse in erheblichem Maße nicht an die Versicherten, sondern an die Anteilseigner ausschütten, wäre er zu einer Korrektur der Verordnung oder ggf. des Gesetzes verpflichtet. Im Rahmen der Angemessenheit einer Inhaltsbestimmung im Sinne des Art. 14 GG ist zu beachten, dass der Verordnungsgeber die Anwartschaften der Versicherten auf Überschussbeteiligung nicht unangemessen kürzen darf. In die Abwägung der Rechtsgüter haben aber auch die Interessen und grundrechtlich geschützten Rechtsgüter anderer Beteiligter einzufließen, also des Kollektivs der Versicherten sowie des Versicherungsunternehmens. Die freie RfB erfüllt – insbesondere in der gegenwärtigen Situation volatiler Kapitalmärkte – eine Pufferfunktion. Sie dient nicht nur dazu, kurzfristig die gegenwärtig entstehenden Überschüsse allein für die Versicherungsnehmer des gegenwärtigen Bestandes zu verwalten, sondern soll 11 Finanzstabilitätsbericht 2013, S. 75, im Internet abrufbar unter: http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Dossier /finanzstabilitaetsbericht_2013_live_uebertragung.html. 12 Papier, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, 71. EL 2014, Art. 14 Rn. 320 ff. 13 Zu diesen Anforderungen s. Papier (Fn. 12), Art. 14 Rn. 323. 14 BVerfGE 25, 1 (12 f.) m. w. N. 15 Papier (Fn. 12) Art. 14 Rn. 323 mit Verweis auf BVerfGE 25, 1 (13); 50, 335 sowie BVerfGE 49, 89 (130); 50, 290 (335); 73, 119 (169). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 210/14 Seite 6 langfristig eine gleichmäßige Überschussbeteiligung auch für spätere Generationen von Versicherungsnehmern gewährleisten. Dies kann nur dadurch erreicht werden, dass die Überschüsse nicht direkt ausgeschüttet, sondern stattdessen für einen gewissen Zeitraum der freien RfB zugeführt werden.16 Durch diese teilweise Verschiebung der Ausschüttung auf die nachfolgende Versichertengeneration zulasten des einzelnen Versicherten werden deren gegenläufige Interessen austariert. Auch die Erhöhung der Solvabilität der Versicherungsunternehmen steht im Interesse des Versichertenkollektivs : Unterschreitet ein Versicherungsunternehmen die Solvabilitätsspanne von 100 Prozent, führt dies zu seiner umgehenden Schließung durch die Aufsichtsbehörde. Hierunter hätten das Versichertenkollektiv sowie jeder einzelne Versicherte zu leiden, da eine Auszahlung der Überschussbeteiligung neben den bereits gezahlten Prämien im Falle der Liquidation unwahrscheinlich ist. Ob derzeit eine so erhebliche Gefahr für die Solvenz zahlreicher Versicherungsunternehmen besteht, dass eine Erhöhung der Solvabilität zulasten der Überschussbeteiligung notwendig ist, liegt – wie bereits ausgeführt – im Prognosespielraum des Gesetzgebers. Auch die Solvabilität der Unternehmen in die Güterabwägung einzubeziehen, ist damit jedenfalls nachvollziehbar. Zwar mag aus politischer Sicht eine andere Berücksichtigung der Interessen wünschenswert sein; auch könnte eine Interessenabwägung, die zu einer anderen Ausgestaltung der Verordnung gelangt, im Einzelfall verfassungsgemäß sein. Verfassungsrechtlich geboten scheint eine andere Ausgestaltung jedoch nicht. 3. Ergebnis Der Entwurf der Verordnung, nach der eine Ausschüttung zugunsten einzelner Teilbestände aus dem kollektiven Teil der RfB von Lebensversicherungen nur möglich sein soll, wenn diese 80 Prozent der Solvabilitätsspanne übersteigt, ist derzeit wohl verfassungsgemäß. Allerdings ergibt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Pflicht des Verordnungsgebers, die Entwicklung auf dem Gebiet des Lebensversicherungsrechts – insbesondere die Solvenz der Versicherungsunternehmen sowie die Praxis der Ausschüttung von Überschussbeteiligungen – zu beobachten, um bei ungewünschten Effekten durch eine Änderung der Rechtsverordnung oder der gesetzlichen Grundlagen Fehlentwicklungen entgegenwirken zu können. 16 S. zum Ganzen (Fn. 6), S. 6 f.