© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 209/20 Rechtsfolgen der Nichtigkeit der Bußgeldkatalog-Verordnung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 209/20 Seite 2 Rechtsfolgen der Nichtigkeit der Bußgeldkatalog-Verordnung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 209/20 Abschluss der Arbeit: 9. September 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 209/20 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Mit der Vierundfünfzigsten Änderungsverordnung zur Straßenverkehrsordnung (StVO)1 wurden mehrere straßenverkehrsrechtliche Verordnungen geändert, darunter die Bußgeldkatalog-Verordnung . Unter anderem wurden die Regelungen für die Erteilung eines Fahrverbots erweitert, neue Fahrverbotstatbestände aufgenommen und deutlich höhere Bußgelder vorgesehen. Wegen eines Verstoßes gegen das Zitiergebot aus Art. 80 Abs. 1 S. 3 Grundgesetz (GG) wurde der Bußgeld-Katalog der neuen StVO vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur inzwischen für nichtig erachtet und von den Bundesländern außer Kraft gesetzt.2 Gefragt wird, welche Auswirkungen dies auf nach dem neuen Bußgeldkatalog sanktionierte Verkehrsteilnehmer hat. Aufgrund der Kurzfristigkeit der Anfrage kann hier nur eine summarische Prüfung erfolgen. 2. Rechtsbehelf gegen noch nicht rechtskräftige Bußgeldbescheide Als Rechtsbehelf gegen einen Bußgeldbescheid kann der Betroffene innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung Einspruch einlegen, § 67 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG). Betroffene, bei denen der Bescheid mangels Fristablaufs noch nicht rechtskräftig geworden ist, haben die Möglichkeit den Bescheid aufgrund der nichtigen Rechtsgrundlage zu rügen und überprüfen zu lassen . In diesen Fällen wäre weiter danach zu differenzieren, ob die Tat, die sanktioniert wurde, nicht auch nach der alten Bußgeldkatalog-Verordnung geahndet werden kann.3 Soweit die alte Bußgeldkatalogverordnung für die Tat eine geringere Sanktion vorsehen sollte, kann eine Änderung der Rechtsfolge verlangt werden; eine Einstellung des Verfahrens kann gefordert werden, soweit die alte Bußgeldkatalogverordnung keine Sanktion für die Tat vorsehen sollte. 3. Vorgehen bei rechtskräftigen Bußgeldbescheiden 3.1. Nichtigkeit nur bei besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehlern Für rechtskräftige Bußgeldbescheide nach dem OWiG stellt sich die Situation wie folgt dar: Die Rechtskraft eines Bußgeldbescheides entfällt nicht automatisch dadurch, dass dieser rechtswidrig ist, da er aufgrund einer nichtigen Rechtsgrundlage erlassen wurde. Vielmehr kann er nur bei besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehlern als nichtig behandelt werden.4 In Anlehnung an § 44, § 46 VwVfG ist die Unwirksamkeit nur dann anzunehmen, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Mangel leidet, der nicht nur in die Kategorie der Verfahrens-, Formoder Zuständigkeitsmängel gehört und bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden 1 Vom 20. April 2020 (BGBl. I S. 814). 2 Vgl. Redaktion beck-aktuell, Änderungen der Straßenverkehrsordnung seit 2009 ungültig?, becklink 2017371. 3 Zur Problematik der Nichtanwendungskompetenz der Verwaltung und des Wiederauflebens der alten Bußgeldkatalog -Verordnung siehe Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Mögliche Nichtigkeit der geänderten Bußgeldkatalog-Verordnung, WD 3 - 3000 - 174/20. 4 Kurz, in: Mitsch (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 66 Rn. 77. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 209/20 Seite 4 Umstände offenkundig ist.5 Eine Nichtigkeit wird nur ausnahmsweise zu bejahen sein. In der Literatur werden hierfür folgende Kriterien benannt: – der Bußgeldbescheid hat keinen vollstreckbaren Inhalt, – die ausgesprochene Rechtsfolge ist dem Recht der Ordnungswidrigkeiten unbekannt und liegt außerhalb der Anordnungskompetenz der Verwaltungsbehörde, – das Verfahren verstößt gegen elementare, nicht verzichtbare Grundsätze unserer Rechtsordnung und der Bußgeldbescheid wäre deshalb für die Rechtsgemeinschaft nicht mehr hinnehmbar . Für einen derart schwerwiegenden und offenkundigen Fehler, der das Handeln der Verwaltung entsprechend willkürlich erscheinen lässt, sind vorliegend keine Anhaltspunkte ersichtlich. 3.2. Wiederaufnahmeverfahren Die Nichtigkeit der Bußgeldkatalog-Verordnung könnte aber ggfs. ein Wiederaufnahmeverfahren gemäß § 85 OWiG bezüglich der auf ihr beruhenden Bußgeldbescheide ermöglichen. § 79 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) regelt einen besonderen Wiederaufnahmegrund. Danach ist gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist, die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der StPO zulässig. In dieser Vorschrift kommt der Rechtsgedanke zum Tragen, „dass niemand gezwungen sein soll, den Makel einer Strafe auf sich lasten zu lassen, wenn diese Strafe sich auf ein verfassungswidriges Gesetz stützt“6. Diese Vorschrift ist nach herrschender Meinung auch auf Bußgeldentscheidungen auszudehnen .7 Vorliegend ist allerdings zu beachten, dass bislang die Nichtigkeit der Bußgeldkatalog- Verordnung nicht vom Bundesverfassungsgericht festgestellt worden ist. Insofern greift auch eine analoge Anwendung des § 79 Abs. 1 BVerfGG nicht unmittelbar. Ein Wideraufnahmeverfahren könnte insofern nur mit dem der Vorschrift zu Grunde liegenden Rechtsgedanken begründet werden . 3.3. Vollstreckung von rechtskräftigen Bußgeldbescheiden Weiter stellt sich die Frage, ob die Vollstreckung von Bußgeldbescheiden, die aufgrund der als nichtig erachteten Bußgeldkatalog-Verordnung ergangen sind, möglich ist. Gemäß § 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG ist die Vollstreckung einer Entscheidung, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für 5 Lutz, in: Mitsch (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 84 Rn. 9. 6 Lutz, in: Mitsch (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 85 Rn. 21. 7 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand: 59. EL April 2020, § 79 Rn. 39; Lutz, in: Mitsch (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 85 Rn. 21 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 209/20 Seite 5 nichtig erklärten Norm beruht, unzulässig. Auch hier gilt es allerdings zu beachten, dass die Nichtigkeit bisher nicht gerichtlich festgestellt wurde. 3.4. Gnadenerweis Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass im Rahmen eines sogenannten Gnadenerweises von der Vollstreckung eines rechtskräftigen Bußgeldbescheides vollständig oder teilweise abgesehen werden kann.8 *** 8 Ausführlich zum Gnadenerweis siehe Nestler, in: Graf (Hrsg.), BeckOK OWiG, 27. Edition, Stand: 1. Juli 2020, § 89 Rn. 31.