© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 207/19 Verfassungsrechtliche Pflicht zum Verbot von Kurzstreckenflügen? Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 207/19 Seite 2 Verfassungsrechtliche Pflicht zum Verbot von Kurzstreckenflügen? Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 207/19 Abschluss der Arbeit: 4. September 2019 Fachbereich: WD 3: Verwaltung und Verfassung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 207/19 Seite 3 1. Fragestellung Die Verordnung (EG) Nr. 1008/20081 enthält in Art. 20 „Umweltschutzmaßnahmen“ die folgende Bestimmung: „(1) Im Fall von schwerwiegenden Umweltproblemen kann der zuständige Mitgliedstaat die Ausübung von Verkehrsrechten einschränken oder verweigern, insbesondere wenn andere Verkehrsträger Verkehrsdienste in angemessenem Umfang zur Verfügung stellen. Die Maßnahme darf keine Diskriminierung beinhalten, den Wettbewerb zwischen Luftfahrtunternehmen nicht verzerren, nicht einschränkender sein, als es zur Lösung der Probleme erforderlich ist, und muss eine begrenzte Geltungsdauer haben, die drei Jahre nicht überschreitet und nach deren Ablauf eine Überprüfung der Maßnahme erfolgt. (2) Hält ein Mitgliedstaat eine Maßnahme nach Absatz 1 für erforderlich, so unterrichtet er mindestens drei Monate vor dem Inkrafttreten der Maßnahme die übrigen Mitgliedstaaten und die Kommission mit einer entsprechenden Begründung. Die Maßnahme kann durchgeführt werden, sofern[2] innerhalb eines Monats nach Erhalt der Angaben ein betroffener Mitgliedstaat gegen die Maßnahme Einspruch einlegt oder die Kommission eine weitere Überprüfung der Maßnahme gemäß Absatz 3 vornimmt. (3) Die Kommission kann auf Antrag eines anderen Mitgliedstaats oder von sich aus nach dem in Artikel 25 Absatz 2 genannten Verfahren die Maßnahmen aussetzen, wenn diese die Anforderungen nach Absatz 1 nicht erfüllen oder mit anderen Gemeinschaftsvorschriften nicht vereinbar sind.“ Es stellt sich die Frage, ob das Grundgesetz (GG) die zuständigen staatlichen Stellen Deutschlands verpflichtet, von Art. 20 Abs. 2 der EG-Verordnung Gebrauch zu machen. 2. Ermessen des Gesetzgebers Ein Verbot von Kurzstreckenflügen würde wohl eine gesetzgeberische Maßnahme erfordern. Diese steht grundsätzlich im Ermessen des Gesetzgebers: „Deshalb attestiert die Rechtsprechung der gesetzgebenden Gewalt bei Achtung objektiver Grundrechtsgehalte, insbesondere der Wahrnehmung von Schutzpflichten, weite Einschätzungs - und Gestaltungsspielräume. Gesteigert wird dieser Spielraum bei Schutzpflichten im 1 Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft, https://eur-lex.europa .eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A32008R1008. 2 So die deutsche Fassung der Verordnung; die englische Fassung verwendet „unless“, was im Deutschen eher „es sei denn“ oder „falls nicht“ entsprechen dürfte (https://eur-lex.europa.eu/legal-content /EN/TXT/HTML/?uri=CELEX:32008R1008&from=DE). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 207/19 Seite 4 Kontext von kollidierenden Verfassungsbelangen, die zu einem ‚angemessenen Ausgleich‘ zu bringen sind.“3 Allerdings können Grundrechte oder andere Verfassungsgüter das Ermessen des Gesetzgebers im Einzelfall derart reduzieren, dass ein Handeln geboten ist.4 Ein Verbot von Kurzstreckenflügen könnte das Ziel haben, dem Klimawandel entgegenzuwirken. Damit könnte ein Verbot dem Schutz insbesondere folgender Verfassungsgüter dienen:5 – Recht auf Gesundheit und Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG); – Recht auf Eigentum (Art. 14 GG); – Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG):6 „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen […] im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Es sind jedoch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Handlungsspielraum des Gesetzgebers zum Schutz dieser Verfassungsgüter auf ein Verbot von Kurzstreckenflügen reduziert ist. Als alternative Maßnahmen kommen wohl unter anderem in Betracht: – Eine Kerosinsteuer oder erhebliche Sonderabgaben auf Kurzstreckenflüge, die für entsprechende Klimaschutzmaßnahmen eingesetzt werden, den Umweltnachteil möglicherweise hinreichend aufwiegen und die Anreize zur Verminderung des Flugverkehrs auf Kurzstrecken setzen; – Anreize zur Nutzung alternativer Verkehrsmittel; – Regulierung anderer Verkehrs- und Transportmittel (Langstreckenflüge, Autoverkehr, Schifffahrt, etc.); 3 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 87. EL März 2019, Art. 1 Abs. 3 Rn. 24 (Hervorhebung durch Verfasser). 4 Vgl. BVerfGE 6, 55 (72): Aus dem Grundgesetz „ergeben sich die rechtlichen Grenzen für die Freiheit des gesetzgeberischen Ermessens“. 5 Siehe hierzu die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste „Klimaschutz im Grundgesetz“, WD 3 - 3000 - 178/16, https://www.bundestag.de/resource/blob/475574/6b592115cb9e0d911e176593d16c6132/WD-3-178-16-pdfdata .pdf. 6 Siehe hierzu Huster/Rux, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 41. Edition Stand: 15.02.2019, Art. 20a GG Rn. 43-44: „Die Funktion der Staatsziele des Art. 20a besteht nicht zuletzt in der Legitimation von Grundrechtseingriffen aus Gründen des Umwelt- oder Tierschutzes. […] Für den Ausgleich der kollidierenden Rechtsgüter und Interessen steht dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zur Verfügung.“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 207/19 Seite 5 – Maßnahmen, die dem Klimawandel entgegenwirken, aber keine weitere Regulierung von Verkehrs- und Transportmitteln beinhalten (z. B. Maßnahmen zu alternativen Energiequellen, Emissions- und Industrieregulierung, Regulierung der Gebäude- oder Landwirtschaft, etc.). Für ein Ermessen des Gesetzgebers dürfte auch sprechen, dass der Verkehr „nur“ an dritter Stelle der größten CO2-Verursacher stehen soll und innerhalb dieses Bereichs „Verkehr“ Inlandsflüge 2 Millionen Tonnen CO2-Emissionen von insgesamt 165 Millionen Tonnen CO2-Emissionen ausmachen sollen (der Hauptanteil der 165 Millionen Tonnen soll auf den Autoverkehr entfallen).7 *** 7 So die Darstellung des MDR, „Die Top 5 der CO2-Verursacher Deutschlands nach Sektoren“, 19. Juli 2019, basierend auf Daten des Umweltbundesamtes, https://www.mdr.de/wissen/deutschland-top-fuenf-klima-emissionen- 100.html#sprung2.