© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 207/17 Neuwahlen infolge einer Bundestagsauflösung nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 207/17 Seite 2 Neuwahlen infolge einer Bundestagsauflösung nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 207/17 Abschluss der Arbeit: 27. Oktober 2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 207/17 Seite 3 1. Einleitung Der vorliegende Sachstand gibt einen Überblick über die Voraussetzungen für Neuwahlen als Folge einer im Rahmen einer Bundeskanzlerwahl stattfindenden Bundestagsauflösung nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG.1 Das Verfahren einer Bundeskanzlerwahl kann sich nach Art. 63 GG auf bis zu drei Phasen erstrecken und unter bestimmten Voraussetzungen in der dritten Phase zur Auflösung des Bundestages und damit zu Neuwahlen führen. 2. Erste Phase einer Bundeskanzlerwahl In der ersten Phase einer Bundeskanzlerwahl, die in Art. 63 Abs. 1 und 2 GG geregelt ist, ist der Bundespräsident verfassungsrechtlich verpflichtet, dem Bundestag innerhalb einer angemessenen Frist einen Wahlvorschlag zu unterbreiten.2 Die Bemessung der Frist kann dabei insbesondere von der Dauer laufender Koalitionsverhandlungen und von der Eindeutigkeit der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag abhängen. Die Entscheidung des Bundespräsidenten unterliegt mangels ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Regelungen als politische Leitentscheidung seinem pflichtgemäßen Ermessen. Der Bundespräsident sollte allerdings einen Kandidaten benennen, der mehrheitsfähig ist. Mangels ausdrücklicher Wählbarkeitsvoraussetzungen für das Amt des Bundeskanzlers im Grundgesetz sind im Wege eines Erstrecht-Schlusses die Voraussetzungen für die Wählbarkeit zum Bundestag anzuwenden. Nicht erforderlich ist es jedoch, Mitglied des Bundestages zu sein. Bei der ersten Phase handelt es sich der Sache nach um eine Abstimmung, da nur über den Vorschlag des Bundespräsidenten entschieden wird. Gemäß Art. 63 Abs. 2 S.1 GG ist dabei die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages – sog. absolute Mehrheit oder Kanzlermehrheit , Art. 121 GG – erforderlich. In der 19. Wahlperiode sind damit 355 Stimmen erforderlich . Bislang konnte jeder Bundeskanzler die erforderliche Kanzlermehrheit in der ersten Phase erlangen. 3. Zweite Phase einer Bundeskanzlerwahl Erreicht der Vorgeschlagene nicht die erforderliche Mehrheit, so geht nach Art. 63 Abs. 3 GG die Initiative für Wahlvorschläge in der zweiten Phase auf den Bundestag über. Der Bundestag kann nun innerhalb von 14 Tagen nach dem Scheitern der ersten Wahlphase einen Bundeskanzler wählen, ohne auf einen Vorschlag oder eine Empfehlung des Bundespräsidenten angewiesen zu 1 Die folgenden Ausführungen stammen im Wesentlichen aus dem Aktuellen Begriff Nr. 29/13 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages mit dem Titel „Bundeskanzlerwahl (Artikel 63 Grundgesetz)“, der unter https://www.bundestag.btg/ButagVerw/W/Ausarbeitungen/Einzelpublikationen/Ablage/2013/Bundeskanzlerwah _1380177453.pdf abgerufen werden kann (zuletzt abgerufen am 25. Oktober 2017). 2 Herzog, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand der Kommentierung: 52. EL (Mai 2008), Art. 63 Rn. 16 ff., dort zum Folgenden. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 207/17 Seite 4 sein.3 Wahlvorschläge aus der Mitte des Bundestages sind nach § 4 S. 2 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT) von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages oder einer Fraktion, die stärkemäßig die Voraussetzungen dieses Quorums erfüllt, zu unterzeichnen. Innerhalb der Frist von 14 Tagen sind beliebig viele Wahlgänge möglich. Denkbar ist auch, dass überhaupt kein Wahlvorschlag gemacht wird und die Frist ungenutzt verstreicht. In der zweiten Phase ist ebenfalls die absolute Mehrheit erforderlich. 4. Dritte Phase einer Bundeskanzlerwahl Kommt auch in der zweiten Phase keine Kanzlerwahl zustande, so schließt sich unmittelbar die dritte Phase nach Art. 63 Abs. 4 GG an, in der nunmehr auch eine relative Mehrheit zur Entscheidung führen kann. In diesem Stadium hat der Bundestag unverzüglich (unter Beachtung der Einladungs- und Beratungsfristen) einen neuen Wahlgang zu veranstalten. Auch in der dritten Phase gelten für Wahlvorschläge die Quoren aus § 4 S. 2 GOBT. Erreicht der Kandidat die Kanzlermehrheit, muss ihn der Bundespräsident innerhalb von sieben Tagen zum Bundeskanzler ernennen, Art. 63 Abs. 4 S. 2 GG. Bei mehreren Kandidaten und Stimmengleichheit kann nach herrschender Meinung erneut gewählt werden, da zu diesem Zeitpunkt noch kein Kandidat gewählt worden und die dritte Phase damit noch nicht abgeschlossen ist.4 Erreicht der Kandidat nur die relative Mehrheit, hat der Bundespräsident nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG ein auf sieben Tage befristetes Wahlrecht zwischen der Ernennung des Gewählten als Minderheitskanzler oder Auflösung des Bundestages. In eigener Einschätzungsprärogative hat der Bundespräsident dabei zu beurteilen, ob der Minderheitskanzler in der Lage sein wird, stabile Regierungsverhältnisse zu gewährleisten. Lässt der Bundespräsident diese Frist verstreichen , verliert er nach wohl herrschender Meinung das Recht zur Auflösung des Bundestages und ist dann zur Ernennung des Minderheitskanzlers verpflichtet. Ein solcher Minderheitskanzler hat dieselben Rechte wie ein mit der Kanzlermehrheit gewählter Kanzler.5 Im Falle einer Auflösung des Bundestages ist die Auflösungsanordnung dem Bundestagspräsidenten schriftlich zuzuleiten und den Mitgliedern des Bundestages in geeigneter Weise bekannt zu geben. Die Auflösungsanordnung hat zur Folge, dass innerhalb von 60 Tagen nach der Auflösung des Bundestages Neuwahlen stattfinden müssen, Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG. *** 3 Epping, in: ders./Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Stand der Kommentierung: 15. August 2017, Art. 63 Rn. 21 ff., dort zum Folgenden. 4 Schröder, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 63 Rn. 39. 5 Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 63 Rn. 34.