Deutscher Bundestag Rechtliche Gestaltungen eines „unumkehrbaren“ Atomausstiegs Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 - 205/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 205/11 Seite 2 Rechtliche Gestaltungen eines „unumkehrbaren“ Atomausstiegs Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 - 205/11 Abschluss der Arbeit: 16. Juni 2011 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 205/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Reversibilität politischer Entscheidungen im demokratischen Rechtsstaat 5 3. Gestaltungsoptionen 6 3.1. Regelung durch Staatsvertrag 6 3.2. Regelung durch Verfassungsänderung 8 3.2.1. Verbot der wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie 8 3.2.2. Staatszielbestimmung der Beendigung wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie 9 4. Zusammenfassung 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 205/11 Seite 4 1. Einleitung In Reaktion auf das Reaktorunglück in Fukushima hat die Bunderegierung unter Einbeziehung der Ergebnisse der Reaktor-Sicherheitskommission und der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung “ sowie eines absoluten Vorrangs der nuklearen Sicherheit beschlossen, die Nutzung der Kernenergie zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beenden. Der Gesetzentwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes 1 sieht hierzu vor, dass „die Elektrizitätsmengen nach Anlage 3 Spalte 4 aufgehoben und zusätzlich die Berechtigungen der Kernkraftwerke zum Leistungsbetrieb – im Hinblick auf die Sicherstellung der Versorgungssicherheit, die Einhaltung der nationalen und internationalen Klimaschutzziele und die Gewährleistung einer preiswürdigen und sozialverträglichen Strompreisentwicklung – auf den noch erforderlichen Zeitraum zeitlich gestaffelt bis zum 31. Dezember 2022 befristet und so ein festes Enddatum für die friedliche Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität in Deutschland eingeführt werden.“ Dieser Gesetzentwurf stellt einen weiteren Schritt in der Atompolitik dar, in der zunächst der Ausstieg im Jahre 20022 grundsätzlich vereinbart, die dort getroffenen Laufzeitregeln im Jahre 20103 abgeändert und schließlich die Laufzeitverlängerung nach dem Ereignis des Reaktorunfalles in Japan mittels Moratoriums4 ausgesetzt wurde. Die vorliegende Ausarbeitung befasst sich vor dem Hintergrund dieses einfachgesetzlichen Ausgestaltungsvorschlages zur Änderung des Atomgesetzes mit der Frage anderer bzw. ergänzender Gestaltungsoptionen für die Festschreibung des Atomausstiegs in Deutschland. Dabei sollen insbesondere Aspekte der Rechtsicherheit und Unumkehrbarkeit eines Atomausstieges in die Überlegungen einbezogen werden. In der politischen Diskussion werden hierzu als Möglichkeiten die Vereinbarung eines Staatsvertrages sowie einer Verfassungsänderung benannt.6 Da nur die For- 1 Bt-Drucks. 17/6070 2 Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität vom 22. April 2002, BGBl. I S. 1351. 3 Elftes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes BGBl. I 2010, 1814. Siehe zum Zustandekommen des Laufzeitverlängerungspakets Kloepfer/Bruch, JZ 2011, S. 377 ff. 4 Siehe Mitschrift der Pressekonferenz - Pressestatements von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesaußenminister Guido Westerwelle zu den Folgen der Naturkatastrophen in Japan sowie den Auswirkungen auf die deutschen Kernkraftwerke am 14. März 2011, http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2011/03/2011-03-14- bkin-lage-japan-atomkraftwerke.html (Stand: 15. März 2011) 5 6 Siehe http://www.dradio.de/nachrichten/201106041200/2. Der Vorschlag zur Grundgesetzänderung wurde bereits 2007 von Claasen vertreten, FAZ vom 27. April 2007, S. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 205/11 Seite 5 menwahl, jedoch noch kein konkreter Ausgestaltungsvorschlag in der Diskussion formuliert wurde, kann diesbezüglich nur eine vorläufige verfassungsrechtliche Würdigung erfolgen. Die Ausarbeitung untersucht zunächst das grundsätzliche Problem der Unumkehrbarkeit politischer Entscheidungen im demokratisch verfassten Rechtsstaat (2.). In einem zweiten Schritt sollen vor diesem Hintergrund rechtliche Voraussetzungen und Folgen der einzelnen Vorschläge alternativer Gestaltungsformen behandelt werden (3.). 2. Reversibilität politischer Entscheidungen im demokratischen Rechtsstaat Bei der Frage der Unumkehrbarkeit politischer Entscheidungen ist die rechtliche von der tatsächlichen Ebene zu unterscheiden. Die rechtliche Seite wird hierbei in erster Linie durch das Demokratieprinzip geprägt. Denn demokratische Herrschaft beinhaltet stets das Prinzip der Herrschaft auf Zeit.7 Der in Art. 39 des Grundgesetzes (GG) Ausdruck findende Diskontinuitätsgrundsatz verdeutlicht daher, dass nachfolgende , demokratisch legitimierte Gesetzgeber in gleicher Weise wie der gegenwärtige Gesetzgeber ihren gestalterischen Anspruch zu verwirklichen vermögen. Diese Gestaltungshoheit umschließt auch die grundsätzliche Befugnis zur Abkehr von früheren Gesetzen. Eine „Gesetzeserstarrung “ nach dem Willen des ursprünglichen Gesetzgebers ist durch den prinzipiellen Satz lex posterior derogat legi priori8 ausgeschlossen.9 Der einfache Gesetzgeber kann also den späteren einfachen Gesetzgeber rechtlich nicht auf seine politischen Vorstellungen verpflichten.10 Von der grundsätzlichen Reversibilität der vorausgehenden rechtlichen Entscheidungen zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit der eine Vorschrift überholende zukünftige Gesetzgeber in durch eine vormalige gesetzgeberische Entscheidung begründete grundrechtliche Schutzposition einzugreifen vermag. Hier können gerade im Bereich der Eigentumsgarantie verhältnismäßige Abstufungen und Entschädigungen bei der Ausgestaltung angezeigt sein.11 Die Erwägungen zur grundsätzlichen Umkehrbarkeit politischer Entscheidungen des einfachen Gesetzgebers gelten in gleicher Weise auf der Ebene des Verfassungsrechts für den verfassungsändernden Gesetzgeber. Zwar ist hier der einfache Gesetzgeber an die Entscheidung der verfassungsändernden Gewalt auch in der Zukunft gebunden, jedoch kann der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht die Entscheidungshoheit einer künftigen verfassungsändernden Mehrheit ausschließen . Es gilt auch hier - bis zur Grenze der von der verfassungsgebenden Gewalt in der 7 Vgl. Kloepfer, DVBl. 2007, S. 1189 (1194). 8 Lat.: „Das jüngere Gesetz hebt das ältere Gesetz auf“. 9 Vgl. Kloepfer, DVBl. 2007, S. 1189 (1194). 10 So auch Kloepfer, DVBl. 2007, S. 1189 (1194 f.). 11 Siehe hierzu Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 ff.; di Fabio, Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie , S. 83 ff.; Ossenbühl, AöR 124 (1999), S. 1 (5 ff.); zweifelnd Kloepfer, DVBl. 2007, S. 1189 (1194 Fn. 40). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 205/11 Seite 6 Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen materiellen Schranken - der Grundsatz der Reversibilität von Entscheidungen. Der Grundsatz der Reversibilität von Entscheidungen schließt nicht aus, dass die einmal durch den Gesetzgeber getroffenen Entscheidungen in ihren tatsächlichen Folgen über die Legislaturperiode hinausreichen.12 Dies ist etwa dann der Fall, soweit die Entscheidung nachhaltige Auswirkungen auf spezifische Anreizstrukturen zur Folge hat. Im Zusammenhang mit der Änderung des Atomgesetzes sind hier etwa die kostenintensive Wiederinbetriebnahme von einmal abgeschalteten Kernkraftwerken oder die Abwanderung fachspezifischen industriellen Wissens, aber auch die Unsicherheit über langfristige ökonomische Perspektiven zu nennen, die aus unternehmerischer Sicht ausreichend gegen eine grundsätzlich wieder eröffnete Möglichkeit der Nutzung streiten .13 3. Gestaltungsoptionen Als Alternative zu einer Änderung des Atomgesetzes werden in der Diskussion die Möglichkeit der Vereinbarung eines Staatsvertrages sowie einer Verfassungsänderung benannt. 3.1. Regelung durch Staatsvertrag Grundsätzlich erlaubt das Grundgesetz vertragliche Regelungen zwischen Bund und Ländern als Handlungsform.14 Dabei lässt sich die rechtliche Form der zwischen Bund und Ländern abgeschlossenen Staatverträge nicht dem Bundesrecht zuordnen, bilden diese doch vielmehr einen eigenen Rechtsbereich (sog. föderatives bzw. intraföderatives Recht).15 Kooperative Absprachen im Bundesstaat dürfen allerdings verfassungsrechtliche Regelungen nicht unterlaufen. Dies bedeutet zum einen, dass die materiellen Inhalte des Grundgesetzes wie etwa die Grundrechte oder die Verfassungsgrundsätze des Art. 20 GG in vollem Umfang gelten.16 Zum anderen folgt hieraus, dass die jeweiligen formellen Anforderungen der Verfassung, insbesondere die gesetzgeberische Zuständigkeitsordnung, Beachtung finden müssen.17 Die Entscheidung über den Ausstieg aus der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität fällt gemäß Art. 73 Nr. 14 GG (Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen 12 Kloepfer, DVBl. 2007, S. 1189 (1194). 13 Siehe grundsätzlich zur Einwirkung des politischen Klimas auf die Unternehmen der Kernenergie Kloepfer, DVBl. 2007, S. 1189 ff. 14 Rudolf, in: Isensee/Kirchhof, HbStR Bd. VI, 2008, § 141 Rdnr. 54. 15 Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 10 Rdnr. 66; Rudolf, in: Isensee/Kirchhof, HbStR Bd. VI, 2008, § 141 Rdnr. 87. 16 Rudolf, in: Isensee/Kirchhof, HbStR Bd. VI, 2008, § 141 Rdnr. 93. 17 Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 10 Rdnr. 68. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 205/11 Seite 7 Zwecken) in den Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes.18 Diese Wertung des Grundgesetzes begründet die ausschließliche Verantwortung des Bundesgesetzgebers zur Setzung von Bundesrecht auf diesem Gebiet und schließt damit gleichzeitig die Handlungsform des Staatsvertrages aus. Daher dürfte ein Staatsvertrag über den Atomausstieg verfassungsrechtlich aus kompetenzrechtlichen Gründen unzulässig sein. Verfassungsrechtlich unbedenklich wäre der Abschluss eines Staatsvertrages allein in dem Fall, in dem der verfassungsändernde Gesetzgeber zuvor den Wegfall der ausschließlichen Kompetenz in Art. 73 Nr. 14 GG beschließen würde und die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder nach der grundsätzlichen Zuständigkeitsverteilung bei Gesetzgebungsfragen nach Art. 70 GG erneut eröffnet wäre. Möglich bliebe bei der Regelung durch Staatsvertrag die vertragswidrige Derogation durch nachfolgendes Landesrecht oder die Kündigung.19 Durch diese Gefahr wären Aspekte der Rechtssicherheit und der Umkehrbarkeit berührt. Die Unsicherheit würde auch nicht durch die gleichzeitig aufgeworfene verfassungsrechtliche Frage, ob nicht bereits der Verzicht auf die Kompetenzvorschrift die friedliche Nutzung der Kernenergie ausschließen würde, behoben. Denn das Bundesverfassungsgericht hat zur Bedeutung der Kompetenzvorschrift in Auseinandersetzung mit der Frage, ob die „Nutzung der Atomspaltung wegen des Ausmaßes denkbarer Gefahren (…) generell verfassungswidrig“ sei, ausgeführt , „dass die Verfassung selbst die "Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken" durch die Kompetenzvorschrift des Art. 74 Nr. 11a GG (Anm. d. Verf. jetzt;: Art. 73 Nr. 14 GG) im Grundsatz als zulässig gebilligt hat. Zwar wurde diese Vorschrift bereits im Jahre 1959 in die Verfassung aufgenommen, also zu einem Zeitpunkt, in dem die Problematik einer friedlichen Nutzung der Atomenergie noch wenig erörtert, diese vielmehr als grundsätzlich positiv der damals besonders umstrittenen militärischen Nutzung gegenübergestellt wurde. Das ändert aber nichts daran, dass auch aus Kompetenzvorschriften der Verfassung eine grundsätzliche Anerkennung und Billigung des darin behandelten Gegenstandes durch die Verfassung selbst folgt und dass dessen Verfassungsmäßigkeit nicht aufgrund anderer Verfassungsbestimmungen grundsätzlich in Frage gestellt werden könnte. Kraft dieser Kompetenzzuweisung ist vielmehr - (…) zur Grundsatzentscheidung für oder gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie allein der Gesetzgeber berufen; (…)“. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage der generellen Verfassungswidrigkeit ohne die Kompetenzvorschrift folglich offengelassen. 18 Siehe zur Bedeutung des Vorschrift über den kompetenzrechtlichen Gehalt hinaus Seiler, in: Epping /Hillgruber, GG, Art. 74 Rdnr. 61. 19 Siehe hierzu Rudolf, in: Isensee/Kirchhof, HbStR Bd. VI, 2008, § 141 Rdnr. 93. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 205/11 Seite 8 3.2. Regelung durch Verfassungsänderung Grundsätzlich ließe sich eine Entscheidung für eine Aufnahme in die Verfassung jeweils nur mittels einer erneuten verfassungsändernden Mehrheit abändern, so dass die Voraussetzungen für eine Änderung nach einmal erfolgter Entscheidung höher wären als im Falle der Regelung durch einfaches Gesetz. Eine Diskussion um die Aufnahme eines Verbots der friedlichen Nutzung von Kernenergie in die Verfassung muss jedoch unterschiedliche Aspekte berücksichtigen. Hierbei soll im Folgenden zwischen einem verfassungsrechtlichen Verbot der friedlichen Nutzung von Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität (3.2.1) und einer Staatszielbestimmung (3.2.2), die ähnlich wie § 1 Nr. 1 des Atomgesetzes die geordnete Beendigung der Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität auf der Ebene des Verfassungsrechts vorschreibt, unterschieden werden. Für beide Fälle werden zunächst die jeweilige Ausgestaltung im System des GG unter verfassungspolitischen Erwägungen untersucht und anschließend die Folgen der rechtlichen Zusammenhänge skizziert. 3.2.1. Verbot der wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie Die Regelung eines Verbots der friedlichen wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie wäre eine atypische Bestimmung, die sich in das Gefüge des GG nicht ohne weiteres einfügen würde. Denn konkrete Handlungsverbote für private Wirtschaftsteilnehmer sind der Freiheitsorientierung und dem gegenständlichen System des Grundgesetzes fremd, regelt dieses doch in erster Linie den grundrechtlichen Schutz Einzelner gegenüber dem Staat und die organisatorische Ausgestaltung des Staatsgefüges. Eine in vergleichbarer Weise an private Wirtschaftsteilnehmer adressierte Handlungsbeschränkung, aber nicht als Verbot ausgestaltet, kennt das Grundgesetz etwa ausnahmsweise mit der Vorschrift des Art. 26 Abs. 2 GG, welche die Genehmigungsbedürftigkeit der Ausfuhr von zur Kriegsführung bestimmten Waffen vorsieht. Diese Vorschrift steht in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes. Der Umstand systemwidriger Erscheinung mag aus verfassungspolitischen Gründen gegen eine Aufnahme eines derartigen Verbotstatbestands hinsichtlich der Nutzung von Kernenergie sprechen , kann allein jedoch nicht Handlungsoptionen des verfassungsändernden Gesetzgebers beschneiden . Ein verfassungsrechtliches Verbot der wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie schließt als spezielle Vorschrift in klarster Weise bestimmte Handlungen privater Wirtschaftsteilnehmer aus. Als Konsequenz eines Verbotstatbestands im Verfassungsrecht würde die Vorschrift dann auch zum Maßstab für das einfachgesetzliche Atomgesetz. Etwaige Übergangsregelungen und feinziselierte Justierungen könnten so mit der Gefahr der Verfassungswidrigkeit belegt sein.20 Dabei wäre unklar, inwieweit ein spezielles Verbot der wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie überhaupt 20 Siehe hierzu auch Kloepfer, DVBl. 2007, S. 1189 (1195). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 205/11 Seite 9 Raum für ein abgestuftes System des Ausstiegs aus der Kernenergie lassen würde. Auch wäre die kompetenzrechtliche Regelung des Art. 73 Nr. 14 GG wohl obsolet. Zudem wäre die Frage aufgeworfen, inwieweit hier die enteignende Wirkung verfassungsändernder Gesetzgebung Entschädigungen verlangen würde. Denn eine Entschädigung auf der Sekundärebene wäre grundsätzlich auch bei verfassungsänderndem Handeln nicht von vornerein ausgeschlossen und könnte unter dem Aspekt praktischer Konkordanz zur Optimierung geschützter Grundrechtsbelange aus Art. 14 GG und dem Gesichtspunkt des verfassungsrechtlichen Grundsatzes des Vertrauensschutzes geboten sein.21 Dies würde vor allem dann gelten, wenn andernfalls ein Verbotstatbestand existenzvernichtende Wirkung hätte. Bei einem entschädigungslosen Verbot der wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie wäre die Frage des Überschreitens der Schwelle des nach Art. 79 Abs. 3 GG verfassungswidrigen Verfassungsrechts mit Blick auf den Kern der Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG und den Grundsatz des Vertrauensschutzes aus Art. 20 GG aufgeworfen.22 Die vorgenannten Probleme wären bei der konkreten Ausgestaltung eines verfassungsrechtlichen Verbots der Nutzung der Kernenergie zu berücksichtigen. 3.2.2. Staatszielbestimmung der Beendigung wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie Weniger invasiv wäre die Aufnahme einer Staatszielbestimmung, die ähnlich wie § 1 Nr. 1 des Atomgesetzes die geordnete Beendigung der Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität auf der Ebene des Verfassungsrechts vorschreiben würde. Eine Staatszielbestimmung ist eine bindende Direktive, die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung objektive Pflichten auferlegt, nicht aber subjektive Rechte des Bürgers begründet. Dem Staat wird die Verfolgung eines Ziels verbindlich aufgegeben, nicht aber bestimmte Mittel zur Zielerreichung.23 Staatszielbestimmungen sind gerade auch auf Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Art. 20a GG enthält etwa Staatszielbestimmungen, wonach die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere verfassungsrechtlichen Schutz genießen.24 Ziele von Staatszielbestimmungen sind dabei abstrakt und auf den positiven Erhalt bestimmter Rechtsgüter bezogen, insoweit würde die geordnete Beendigung der Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität als auf spezifische Handlungen Privater konkret bezogene Beschränkung nicht unbedingt der bisherigen Typik von Staatszielbestimmungen entsprechen. Dies spricht aber allein aus verfassungspolitischen Gründen gegen eine Aufnahme, kann - wie auch die Aufnahme eines Verbots - jedoch nicht die Handlungsoptionen des verfassungsändernden Gesetzgebers beschneiden. 21 Siehe zweifelnd im Fall der Bundesautobahnen Gröpl, in: Maunz/Dürig, GG (2007), Art. 90 Rdnr. 15 ff. Allerdings waren die betroffenen Privaten nicht substantiell betroffen, da dem entsprechenden Eigentum nur ein geringer wirtschaftlicher Wert zufiel. 22 Siehe zum Problem des verfassungswidrigen Verfassungsrechts im Bereich des Eigentums Leisner, DÖV 1992, S. 432. 23 Möstl, in: Maunz/Dürig, GG (2011), Art. 87e Rdnr. 182. 24 Ein weiteres Beispiel bildet Art. 87e Abs. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 205/11 Seite 10 Staatszielbestimmungen lassen ihrer Natur nach dem einfachen Gesetzgeber Raum bei der näheren Ausgestaltung seiner Mittelwahl, so dass im vorliegend diskutierten Fall nur beschränkt Rückwirkungen auf die Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Beendigung der wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie begründet wären. Dies schließt nicht aus, dass sich der Gesetzgeber bei einer künftigen Ausgestaltung etwa für eine erneute Verlängerung von Laufzeiten entscheidet. Dies stünde dem Gesetzgeber nämlich so lange frei, solange das Ziel des Ausstiegs nicht generell in Frage gestellt wird. Die Aufnahme der Beendigung der wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie als Staatszielbestimmung würde auf der rechtlichen Ebene Rückwirkungen auf den verfassungsrechtlichen Prüfmaßstab zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen gegenüber den Betreibern haben. Denn mit Aufnahme einer derartigen Vorschrift würden grundsätzliche Entscheidungen hin auf eine Beendigung als verfassungsrechtlich verankerte Ziele durch die Staatszielbestimmung flankiert . Dies bedeutet aber nicht, dass der Gesetzgeber grundrechtliche Kautelen gänzlich abstreifen könnte. Vielmehr muss auch hier ein verhältnismäßiger Ausgleich erfolgen.25 4. Zusammenfassung Der Ausstieg aus der wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie ist aus rechtlichen Gründen nicht unumkehrbar konzipierbar. Denn demokratische Herrschaft beinhaltet das Prinzip der Herrschaft auf Zeit, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass einmal getroffene Entscheidungen demokratisch legitimierter Entscheidungsträger (etwa des einfachen oder des verfassungsändernden Gesetzgebers) in der Zukunft durch ebenso legitimierte demokratisch Entscheidungsträger abgelöst werden. Einer etwaigen Regelung zum Verbot der wirtschaftlichen Nutzung von Kernenergie durch Staatsvertrag steht die Kompetenzvorschrift des Art. 73 Nr. 14 GG entgegen. Eine verfassungsrechtliche Verankerung etwa als „Verbot“ oder als Staatszielbestimmung erscheint grundsätzlich möglich. In beiden Fällen müssen jedoch die jeweiligen verfassungsrechtlichen Zusammenhänge bedacht werden. 25 Siehe hierzu etwa Scholz, in: Maunz/Dürig, GG (2007), Art. 20a Rdnr. 80, nach dem der Gesetzgeber in grundrechtlichen Konfliktlagen „nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz bzw. nach Maßgabe des diese Konkordanz im einzelnen vermittelnden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit herzustellen“ hat. 26