© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 204/20 Mögliche Nichtigkeit von Änderungen der Straßenverkehrs-Ordnung aus den Jahren 2009 und 2013 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 204/20 Seite 2 Mögliche Nichtigkeit von Änderungen der Straßenverkehrs-Ordnung aus den Jahren 2009 und 2013 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 204/20 Abschluss der Arbeit: 9. September 2020 (zugleich letzter Abruf der Internetquellen) Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 204/20 Seite 3 1. Fragestellung Die Ausarbeitung befasst sich mit der möglichen Nichtigkeit von Rechtverordnungen zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) aus den Jahren 2009 und 2013. Nach Presseberichten hat das baden-württembergische Verkehrsministerium das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur auf Bedenken bezüglich der Einhaltung des Zitiergebots bei diesen Änderungsverordnungen hingewiesen.1 2. Das Zitiergebot nach Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG Art. 80 Abs. 1 GG benennt die Voraussetzungen für den Erlass einer Rechtsverordnung. Nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen durch Gesetz ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG verpflichtet den Verordnungsgeber, die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage in der Verordnung anzugeben. Eine Rechtsverordnung, die gegen dieses sog. Zitiergebot verstößt, ist nichtig.2 Das Zitiergebot dient zum einen der Klarstellung, ob der Verordnungsgeber von einer ihm erteilten Ermächtigung Gebrauch machen wollte.3 Zum anderen dient es der Kontrolle, ob der Verordnungsgeber sich in den gesetzlichen Grenzen der Ermächtigung gehalten hat.4 Die Anforderungen des Zitiergebots sind im Einzelnen umstritten.5 In jedem Fall ist die bloße Angabe des ermächtigenden Gesetzes unzulässig.6 Von entscheidender Bedeutung ist, dass erkennbar ist, auf welche Norm sich der Verordnungsgeber stützen will. Die Ermächtigungsrundlage muss daher so genau benannt sein, dass kein Zweifel darüber bestehen kann, welche Vorschrift gemeint ist.7 3. Zur Änderung der StVO von 2009 Die StVO wurde im Jahr 2009 durch die „46. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“8 mit Wirkung ab dem 1.9.2009 geändert. Mit dieser Änderung sollten unter anderem 1 Neue Osnabrücker Zeitung, Verkehrsordnung seit 2009 ungültig?, 4.9.2020, S. 1; LTO, Änderungen der StVO seit 2009 ungültig?, 4.9.2020, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/stvo-novelle-zitiergebotungueltig -verkehrsministerium/. 2 Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 90. EL Februar 2020, Art. 80 Rn. 137. 3 BVerfGE 101, 1 (42). 4 Uhle, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 43. Edition 15. Mai 2020, Art. 80 Rn. 32c; Bauer, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2015, Art. 80 Rn. 44. 5 Siehe grundlegend dazu Schwarz, Das Zitiergebot bei Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG), in: DÖV 2002, 852. 6 BVerfGE 101, 1 (41). 7 BVerwG NJW 1983, 1922 (1922). 8 Vom 5.8.2009 (BGBl. I S. 2631). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 204/20 Seite 4 Übergangsregelungen zur Weitergeltung veralteter Verkehrszeichen gestrichen werden.9 Der damalige Bundesminister für Verkehr, Peter Ramsauer, teilte allerdings am 13. April 2010 in einer Pressekonferenz mit, dass die Änderungsverordnung gegen das Zitiergebot verstoße und daher wieder die StVO in der vorherigen Fassung10 gelte.11 Dass die Änderungsverordnung mehrere Zitierfehler aufwies, ist unbestritten.12 Ob die einzelnen Zitierfehler allerdings einen Verstoß gegen das Zitiergebot bedeuteten und damit die Nichtigkeit der Änderungsverordnung zur Folge hatten, wurde in der juristischen Literatur zumindest teilweise bezweifelt.13 Unter anderem wurde die Nichtigkeit damit begründet, dass für in der Verordnung vorgenommene Änderungen von Verkehrszeichen zur Beschilderung von Umweltzonen § 6 Abs. 1 Nr. 5b Straßenverkehrsgesetz (StVG)14 anstelle von § 6 Abs. 1 Nr. 5a StVG als Ermächtigungsgrundlage angegeben worden war. Gegen die Annahme einer Verletzung des Zitiergebots wurde eingewandt , dass für die Beurteilung der erkennbare Wille des Verordnungsgebers entscheidend sei.15 Die Nennung von § 6 Abs. 1 Nr. 5b StVG sei ein erkennbares Versehen des Verordnungsgebers gewesen, da diese Norm nach einer Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes gegenstandslos geworden sei und der Verordnungsgeber daher offensichtlich nicht habe darauf verweisen wollen. Da nur § 6 Abs. 1 Nr. 5a StVG als tatsächliche Ermächtigungsgrundlage in Betracht komme, sei dieser Zitierfehler eine „offensichtliche Unrichtigkeit“ im Sinne von § 61 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, die mit Einwilligung des Präsidenten des Deutschen Bundestages im Bundesgesetzblatt berichtigt werden könne. 9 Vgl. Schubert, Die Rechtsirrtümer zur „Schilderwaldnovelle“, in: NZV 2011, 369 (369). 10 Dabei handelt es sich um die StVO in der Fassung, die sie durch die „45. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ vom 26.3.2009 (BGBl. I S. 734) erhalten hat. 11 Spiegel Online, Ramsauer macht waghalsiges Wendemanöver, 13.4.2010, abrufbar unter https://www.spiegel .de/auto/aktuell/verkehrsschilder-novelle-gekippt-ramsauer-macht-waghalsiges-wendemanoever-a-688780.html; Schubert, Die neue StVO, SVR 2013, 121 (121). 12 Siehe Schubert, Die Rechtsirrtümer zur „Schilderwaldnovelle“, in: NZV 2011, 369 (371) zu den einzelnen Zitierfehlern. 13 So insbesondere Schubert, Die Rechtsirrtümer zur „Schilderwaldnovelle“, in: NZV 2011, 369 (370 ff.). 14 In der Fassung der Bekanntmachung vom 5.3.2003 (BGBl. I S. 310, ber. S. 919), zuletzt geändert durch Gesetz vom 10.7.2020 (BGBl. I S. 1653). 15 Schubert, Die Rechtsirrtümer zur „Schilderwaldnovelle“, in: NZV 2011, 369 (370 ff.); siehe dort auch zum Folgenden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 204/20 Seite 5 4. Zur Änderung der StVO von 2013 Der vom Bundesministerium für Verkehr vermutete Verstoß gegen das Zitiergebot in der Änderungsverordnung von 2009 war der Hauptgrund für den Erlass der „Verordnung zur Neufassung der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO)“16 im Jahr 2013.17 Nach den oben genannten Medienberichten soll diese Neufassung der StVO unter zumindest einen Zitierfehler leiden. Dies soll sich auf Folgendes beziehen:18 Gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG ist das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur ermächtigt, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassen über „die sonstigen zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen, für Zwecke der Verteidigung, zur Verhütung einer über das verkehrsübliche Maß hinausgehenden Abnutzung der Straßen oder zur Verhütung von Belästigungen erforderlichen Maßnahmen über den Straßenverkehr, und zwar hierzu unter anderem [...]“. Dem folgen einzelne Regelungsbeispiele unter den Buchstaben c19 bis i. Die Zitierung in der Präambel der Verordnung zur Neufassung der StVO lautet beispielsweise „§ 6 Absatz 1 Nummer 3 Buchstabe c sowie f bis i“. Der Zitierfehler soll darin liegen, dass der Halbsatz, der den Buchstaben vorausgeht, nicht als solcher zitiert wurde. Da der Halbsatz die grundlegende Ermächtigung bilde, habe er ausdrücklich zitiert werden müssen.20 Fraglich ist, ob diese Auffassung der Überprüfung standhält. In der Tat hat der Verordnungsgeber bei anderen Verordnungen zur Änderung der StVO den Halbsatz ausdrücklich zitiert. Die Zitierung lautete beispielsweise „§ 6 Absatz 1 Nummer 3 erster Halbsatz“21. Dies muss aber nicht von Bedeutung sein, da die ausdrückliche Nennung auch aus Klarstellungsgründen erfolgt sein könnte, ohne dass eine Verpflichtung bestanden hätte. Von Bedeutung ist, dass der § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG nur eine einzige Ermächtigungsnorm enthält. Die unter den einzelnen Buchstaben genannten Sachverhalte sind nur Beispiele für die mögliche Ausübung dieser Ermächtigung. Da die Nennung der oberen Gliederungsebene alle unteren Gliederungspunkte umfasst, wäre es möglich gewesen, sich bei der Zitierung auf die Formulierung 16 Vom 6.3.2013 (BGBl. I S. 367). 17 Vgl. Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 43. Edition Stand: 15.5.2020, Art. 80 Rn. 32a. 18 LTO, Änderungen der StVO seit 2009 ungültig?, 4.9.2020, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/nachrichten /n/stvo-novelle-zitiergebot-ungueltig-verkehrsministerium/. 19 Die Buchstaben a und b sind weggefallen. 20 LTO, Änderungen der StVO seit 2009 ungültig?, 4.9.2020, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/nachrichten /n/stvo-novelle-zitiergebot-ungueltig-verkehrsministerium/. 21 Eingangsformel der „54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ vom 20.4.2020 (BGBl. I S. 814). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 204/20 Seite 6 „§ 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG“ zu beschränken, ohne Buchstaben zu nennen. Das Bundesverfassungsgericht verwendet selbst diese Formulierung in seinem Urteil zur sog. Ferienreiseverkehrsverordnung: „Ermächtigungsgrundlage der VO vom 2. Juni 1969 ist § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG. [...] Die in § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG nach dem Wort „insbesondere”22 unter a) bis h) beschriebenen Fälle haben beispielhaften Charakter; sie begrenzen zugleich die Ermächtigung auf vergleichbare Sachverhalte [...].“23 Die Zitierung der einzelnen Buchstaben in der Änderungsverordnung von 2013 dürfte daher letztlich aus Klarstellungsgründen erfolgt sein. Da die Formulierung „§ 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG“ ausreichend gewesen wäre, erscheint die Auffassung widersinnig, dass erst die Nennung der einzelnen Buchstaben auch die ausdrückliche Nennung des davor stehenden Halbsatzes notwendig machen soll. Von Bedeutung ist insbesondere, dass es sich bei der Verordnung um eine vollständige Neufassung der StVO handelt. Bei einer solchen Neufassung dürfte ersichtlich sein, dass der Verordnungsgeber die Verordnung auf sämtliche einschlägige Ermächtigungsnormen stützen will. Da § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG – wie oben festgestellt – nur eine generelle Ermächtigungsnorm sowie einige Beispiele für die mögliche Ausübung der Ermächtigung enthält, dürfte es offensichtlich sein, dass der Verordnungsgeber sich im Wesentlichen auf diese Ermächtigung stützt, nicht auf die einzelnen Beispiele, die letztlich nur deklaratorischen Charakter haben. Nach diesen Ausführungen erscheint es unverhältnismäßig, aufgrund einer Formulierung, die vielleicht „unsauber“ sein mag, letztlich aber den Willen des Verordnungsgebers, auf welche Ermächtigungsgrundlagen er sich stützen will, erkennen lässt, eine so schwerwiegende Rechtsfolge wie die Nichtigkeit anzunehmen. Somit dürften die überwiegenden Argumente dafür sprechen, dass ein Verstoß gegen das Zitiergebot nicht vorliegt. 5. Folgen eines Verstoßes gegen das Zitiergebot Zu beachten ist zudem, dass die Nichtigkeit einer Rechtsverordnung aufgrund einer Verletzung des Zitiergebots nicht „von selbst“ eintritt. Vielmehr wird die Nichtigkeit grundsätzlich im gerichtlichen Verfahren festgestellt. Bei Rechtsverordnungen des Bundes kommen in erster Linie die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG sowie die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG vor dem Bundesverfassungsgericht in Betracht.24 Klagt ein Bürger gegen eine Handlung der Verwaltung, die auf einer Rechtsverordnung beruht, so prüft das jeweilige Verwaltungsgericht im Wege der sog. Inzidentkontrolle, ob die Rechtsverordnung eine taugliche Ermächtigungsgrundlage bildet oder ob sie unwirksam ist und daher unangewendet bleiben muss.25 Diese Entscheidung gilt allerdings nur im konkreten Einzelfall. 22 § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG hatte zum damaligen Zeitpunkt einen etwas anderen Wortlaut. 23 BVerfGE 26, 259 (263). 24 Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 80 Rn. 83. 25 Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 90. EL Februar 2020, Art. 80 Rn. 141. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 204/20 Seite 7 Solange eine Rechtsverordnung nicht durch ein Gericht allgemeinverbindlich für nichtig erklärt wurde bzw. vom Verordnungsgeber geändert oder aufgehoben wurde, ist sie grundsätzlich wirksam . Nach wohl herrschender Meinung in der juristischen Literatur besteht für die Verwaltung allerdings zumindest im Grundsatz das Recht, von ihr als nichtig erkannte Rechtsvorschriften nicht anzuwenden.26 *** 26 Siehe ausführlich dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Mögliche Nichtigkeit der geänderten Bußgeldkatalog-Verordnung, WD 3 - 3000 - 174/20, S. 4 ff., abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/724124/ef0969cd28455b3ebd30eb938162f431/WD-3-174-20-pdf-data.pdf.