© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 204/16 Zu den Mitwirkungsrechten des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 204/16 Seite 2 Zu den Mitwirkungsrechten des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 204/16 Abschluss der Arbeit: 22. September 2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 204/16 Seite 3 1. Einleitung Nach Art. 88-4 der französischen Verfassung legt die Regierung der Nationalversammlung und dem Senat die Entwürfe europäischer Rechtsakte sowie die Entwürfe oder Vorschläge anderer Akte der Europäischen Union unmittelbar nach deren Übermittlung an den Rat der Europäischen Union vor. Gemäß den in der Geschäftsordnung einer jeden Kammer festgelegten Modalitäten können europäische Entschließungen zu den Entwürfen oder Vorschlägen sowie zu allen von einer Institution der Europäischen Union stammenden Dokumenten verabschiedet werden, die allerdings keine normative Wirkung gegenüber der Regierung entfalten. Vor diesem Hintergrund wird nach den Mitwirkungsrechten des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union gefragt. Insoweit soll zunächst ein kurzer Überblick über die verfassungs- und einfachrechtlichen Grundlagen gegeben werden. Darüber hinaus wird darum gebeten, auf die Praxis des Bundestages in Bezug auf die Abgabe von Stellungnahmen einzugehen, die den europäischen Entschließungen nach französischem Recht vergleichbar sind. Maßgeblich für die Stellungnahmepraxis soll der Zeitraum zwischen dem 1. Oktober 2014 und dem 11. Februar 2016 sein. 2. Verfassungsrechtliche Grundlagen Die Mitwirkung des Bundestages bezieht sich auf die Verträge der Europäischen Union, Art. 23 Abs. 1 Grundgesetz (GG), sowie auf alle sonstigen Angelegenheiten der Europäischen Union, Art. 23 Abs. 2 und 3 GG. Während die Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eines Parlamentsgesetzes bedarf, und zwar in der Regel mit Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat, beschränkt sich die Mitwirkung des Bundestages in anderen Angelegenheiten der Europäischen Union auf das Recht gegenüber der Bundesregierung auf Unterrichtung sowie auf das Recht zur Abgabe von Stellungnahmen. Nach Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG hat die Bundesregierung den Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. Im Rahmen seiner allgemeinen Mitwirkungsbefugnis nach Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG1 ist der Bundestag befugt, Stellungnahmen abzugeben. Für die Mitwirkung der Bundesregierung an Rechtsetzungsakten sieht Art. 23 Abs. 3 GG besondere Pflichten der Bundesregierung vor. Die Bundesregierung hat dem Bundestag vor ihrer Mitwirkung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Liegt eine solche Stellungnahme des Bundestages vor, muss die Bundesregierung diese bei den Verhandlungen berücksichtigen. Die Berücksichtigungspflicht begründet zwar keine Befolgungspflicht. Besonderheiten gelten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf Regelungen des EU-Primärrechts, die – unterhalb der Ratifikationsschwelle des Art. 48 Abs. 4 S. 2 Vertrag der Europäischen Union (EUV) – eine „dynamische Vertragsentwicklung“ ermöglichen, wie z.B. Art. 48 Abs. 6 EUV. Bundestag und Bundesrat müssen auch insoweit ihre Integrationsverantwortung aus Art. 23 Abs. 1 GG wahrnehmen. Dementsprechend bedarf der deutsche Regierungsvertreter im Bereich der „dynamischen Vertragsentwicklung“ einer (rechtsverbindlichen) Ermächtigung durch Gesetz oder Beschluss. 1 Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG lautet: „In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit.“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 204/16 Seite 4 3. Einfachrechtliche Grundlagen Die nähere Ausgestaltung der parlamentarischen Mitwirkungsrechte regeln das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Zusammenarbeitsgesetz – EUZBBG)2 und das Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Integrationsverantwortungsgesetz – IntVG)3. Ferner werden dem Bundestag in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) nach dem Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG) sowie in Angelegenheiten der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität nach dem Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Stabilisierungsmechanismusgesetz - StabMechG) besondere Mitwirkungsrechte eingeräumt. 3.1. Zusammenarbeitsgesetz Im Zusammenarbeitsgesetz sind die Unterrichtungspflichten der Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union und die Mitwirkung des Bundestages durch die Abgabe von Stellungnahmen im Sinne des Art. 23 Abs. 2 und 3 GG im Einzelnen ausgestaltet. Die Pflicht zur Unterrichtung erstreckt sich nach § 3 Abs. 2 Satz 1 EUZBBG insbesondere auf die Willensbildung der Bundesregierung, die Vorbereitung und den Verlauf der Beratungen innerhalb der Organe der Europäischen Union, die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission und der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie die getroffenen Entscheidungen. Das Recht zur Abgabe von Stellungnahmen ist in § 8 EUZBBG geregelt. Diese Vorschrift knüpft an den in § 5 EUZBBG näher definierten Begriff des Vorhabens an, der u.a. Vorschläge für Gesetzgebungsakte der Europäischen Union, Berichte, Aktionspläne und Politische Programme der Organe der Europäischen Union und Verhandlungsmandate für die Europäische Kommission zu Verhandlungen über völkerrechtliche Verträge der Europäischen Union umfasst. Vor ihrer Mitwirkung an Vorhaben im Sinne des § 5 EUZBBG gibt die Bundesregierung dem Bundestag nach § 8 Abs. 1 S. 1 EUZBBG Gelegenheit zur Stellungnahme. Gibt der Bundestag eine Stellungnahme ab, legt die Bundesregierung diese ihren Verhandlungen zugrunde, § 8 Abs. 2 S. 1 EUZBBG. Die Bundesregierung unterrichtet nach § 8 Abs. 2 S. 2 EUZBBG fortlaufend über die Berücksichtigung der Stellungnahme in den Verhandlungen (Zwischenbericht). Nach § 8 Abs. 5 EUZBBG unterrichtet die Bundesregierung den Bundestag nach der abschließenden Beschlussfassung insbesondere über die Durchsetzung der Stellungnahme (Abschlussbericht). Sollten nicht alle Belange der Stellungnahme berücksichtigt worden sein, benennt die Bundesregierung auch die Gründe hierfür. Auf Verlangen eines Viertels der Mitglieder des Bundestages erläutert die Bundesregierung diese Gründe im Rahmen einer Plenardebatte. Die Vorschrift des § 8 Abs. 4 EUZBBG enthält besondere Regelungen für Stellungnahmen des Bundestages, die Rechtsetzungsakte der Europäischen Union betreffen: Macht der Bundestag von 2 Eine englische Fassung ist abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/englisch_euzbbg/englisch_euzbbg.pdf. 3 Eine englische Fassung ist abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/englisch_intvg/englisch_intvg.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 204/16 Seite 5 der Gelegenheit zur Stellungnahme gemäß Artikel 23 Abs. 3 S. 1 GG Gebrauch, legt die Bundesregierung in den Verhandlungen einen Parlamentsvorbehalt ein, wenn der Beschluss des Bundestages in einem seiner wesentlichen Belange nicht durchsetzbar ist. Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag in einem gesonderten Bericht unverzüglich darüber. Dieser Bericht muss der Form und dem Inhalt nach angemessen sein, um eine Beratung in den Gremien des Bundestages zu ermöglichen . Vor der abschließenden Entscheidung bemüht sich die Bundesregierung, Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen. Das Recht der Bundesregierung, in Kenntnis der Stellungnahme des Bundestages aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen abweichende Entscheidungen zu treffen, bleibt unberührt. 3.2. Integrationsverantwortungsgesetz Das Integrationsverantwortungsgesetz regelt im Einzelnen, in welchen Fällen der deutsche Regierungsvertreter im Rat oder im Europäischen Rat an ein Zustimmungsgesetz oder an einen Beschluss von Bundestag und Bundesrat rechtlich gebunden ist. Ein Zustimmungsgesetz ist beispielsweise erforderlich – nach § 2 IntVG für eine Vertragsänderung im vereinfachten Verfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV, – nach § 3 IntVG in besonderen Vertragsänderungsverfahren z.B. nach Art. 25 Abs. 2 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), Art. 311 Abs. 3 AEUV und Art. 262 AEUV, – nach § 4 IntVG in Bezug auf Brückenklauseln nach Art. 48 Abs. 7 EUV oder – nach § 8 IntVG bei der Anwendung der Flexibilitätsklausel nach Art. 352 AEUV. Ein Beschluss des Bundestages ist beispielsweise erforderlich – nach § 5 IntVG bei besonderen Brückenklauseln wie Art. 31 Abs. 3 EUV und – nach § 6 IntVG bei besonderen Brückenklauseln wie Art. 333 Abs. 1, 2 AEUV. 3.3. Europäischer Stabilitätsmechanismus und europäische Finanzstabilisierungsfazilität Das ESM-Finanzierungsgesetz regelt die Mitwirkungsrechte des Bundestages in Angelegenheiten des ESM, die die haushaltspolitische Gesamtverantwortung und die Haushaltsverantwortung des Bundestages betreffen. In den Fällen, in denen die haushaltspolitische Gesamtverantwortung betroffen ist, darf die Bundesregierung nach § 4 Abs. 2 ESMFinG einem Beschlussvorschlag in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus durch ihren Vertreter nur zustimmen oder sich bei einer Beschlussfassung enthalten, nachdem das Plenum des Bundestages hierzu einen zustimmenden Beschluss gefasst hat. Die Fälle der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung sind in § 4 Abs. 1 ESMFinG näher geregelt und betreffen z.B. die Gewährung von Stabilitätshilfen . In den Fällen, in denen „nur“ die Haushaltsverantwortung des Bundestages betroffen ist, ist nach § 5 ESMFinG ggf. die Zustimmung des Haushaltsausschusses erforderlich. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 204/16 Seite 6 Für die Finanzhilfen, die noch unter dem Regime der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) abgewickelt werden, gilt das StabMechG. In Bezug auf die Mitwirkungsrechte des Bundestages ähnelt das StabMechG dem ESMFinG. 4. Praxis des Bundestages in Bezug auf die Abgabe von Stellungnahmen Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 3 GG betreffen – wie unter Ziff. 2 ausgeführt – Rechtsetzungsakte der Europäischen Union. Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG beruhen auf der allgemeinen Mitwirkungsbefugnis des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union und beziehen sich auf alle sonstigen Vorhaben im Sinne des § 5 EUZBBG. Nicht selten werden zu einem Thema Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG und nach Art. 23 Abs. 3 GG abgegeben, wenn es dabei neben Rechtsetzungsakten der Europäischen Union auch um sonstige Vorhaben im Sinne des § 5 EUZBBG geht. 4.1. Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG Zwischen dem 1. Oktober 2014 und dem 11. Februar 2016 hat der Bundestag 15 Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG abgegeben: – 2 Stellungnahmen wurden von einem federführenden Ausschuss initiiert (Rechnungsführungsgrundsätze für den öffentlichen Sektor, Vorbereitung der Aktienrechtsnovelle), – 13 Stellungnahmen wurden von Fraktionen initiiert (Kampf gegen Todesstrafe, gerechte Produktion und Handel, deutscher Meisterbrief, gesunde Ernährung/Lebensmittel wertschätzen, Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit Europas, Wettbewerbsfähigkeit der Milchviehhalter, Stärkung des Europäischen Semesters als Kernelement der wirtschaftspolitischen Koordinierung in Europa, Standards im Handwerk, gleichwertige Lebensverhältnisse, europäische Einlagensicherung, Klimakonferenz in Paris, intelligente Vernetzung von Produktions- und Wertschöpfungsketten, Schutz von Menschenrechtsverteidigern). Im Erhebungszeitraum hat die Bundesregierung den Bundestag in Form von zwei Zwischenberichten über ihre Aktivitäten während des Verhandlungsprozesses zum Thema Rechnungsführungsgrundsätze für den öffentlichen Sektor informiert. Aus den Berichten geht hervor, dass die Belange des Bundestages auf europäischer Ebene berücksichtigt wurden. 4.2. Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 3 GG Zwischen dem 1. Oktober 2014 und dem 11. Februar 2016 hat der Bundestag 12 Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 3 GG abgegeben: – 4 Stellungnahmen wurden von einem federführenden Ausschuss initiiert (ökologische Produktion und Kennzeichnung, europäisches Mahnverfahren 2014, Einpersonengesellschaft, europäisches Mahnverfahren 2015), – 8 Stellungnahmen wurden von Fraktionen initiiert (Europäischer Fonds für strategische Investitionen, Kampf gegen Todesstrafe, Klimakonferenz in Lima, gesunde Ernährung/Lebensmittel wertschätzen, Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit Europas, Klonen von Tieren für landwirtschaftliche Zwecke, Klimakonferenz in Paris, intelligente Vernetzung von Produktions - und Wertschöpfungsketten). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 204/16 Seite 7 Im Erhebungszeitraum hat die Bundesregierung dem Bundestag zwei Zwischenberichte übermittelt (ökologische Produktion und Kennzeichnung sowie Klonen von Tieren für landwirtschaftliche Zwecke), aus denen hervorgeht, dass die Forderungen des Bundestages berücksichtigt wurden. Darüber hinaus wurde ein abschließender Bericht zum Vorschlag für eine Verordnung über den Europäischen Fonds für strategische Investitionen übersendet. In der zugrunde liegenden Stellungnahme forderte der Bundestag die Bundesregierung auf, sich für acht konkrete Anliegen im europäischen Gesetzgebungsverfahren einzusetzen. Aus dem abschließenden Bericht geht hervor, dass alle acht Anliegen in den Verhandlungen berücksichtigt und zum größten Teil wie gewünscht umgesetzt wurden. Ende der Bearbeitung