© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 202/19 Das verfassungsrechtliche Zeugnisverweigerungsrecht von Abgeordneten und das korrespondierende Beschlagnahmeverbot Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 202/19 Seite 2 Das verfassungsrechtliche Zeugnisverweigerungsrecht von Abgeordneten und das korrespondierende Beschlagnahmeverbot Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 202/19 Abschluss der Arbeit: 30.08.2019 Fachbereich: WD 3: Verwaltung und Verfassung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 202/19 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt ist nach dem verfassungsrechtlichen Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten und deren Mitarbeitern sowie nach dem damit korrespondierenden Beschlagnahmeverbot von Schriftstücken und sonstigen Gegenständen. Im Fokus stehen Dokumente, die den Mitarbeitern digital auf deren Endgeräten zur Verfügung gestellt werden. 2. Grundgesetz Zentrale Vorschrift ist Art. 47 Grundgesetz (GG). Danach steht Abgeordneten des Bundestages ein Zeugnisverweigerungsrecht zu, das von einem korrespondierenden Verbot der „Beschlagnahme“ von „Schriftstücken“ abgesichert wird. Art. 47 GG lautet wie folgt: „Die Abgeordneten sind berechtigt, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern. Soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht, ist die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig.“ 2.1. Das Zeugnisverweigerungsrecht des Abgeordneten (Art. 47 S. 1 GG) Das Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten ist gegenständlich begrenzt: Es bezieht sich auf die Identität der Person und die anvertrauten Tatsachen.1 Die Umstände der Mitteilung (Ort, Zeit, Form) können auch darunter fallen, aber nur wenn sie Rückschlüsse auf die Tatsache oder die Person zulassen.2 Eine Tatsache ist eine Information über Umstände, die der Mitteilende oder der Abgeordnete wahrgenommen hat.3 Die Tatsache ist anvertraut, wenn sie dem Abgeordneten vertraulich mitgeteilt wurde oder der Abgeordnete sie selbst jemanden vertraulich mitgeteilt hat. Daraus folgt, dass es nicht darauf ankommt, „ob die ‚Tatsachen‘ einen objektiv vertraulichen Inhalt haben, sondern ob die fraglichen Mitteilungen im Rahmen jenes Vertrauensverhältnisses ausgetauscht worden sind: der Abgeordnete soll eben nicht in die Verlegenheit gebracht werden können, Aussagen über ihm vertrauende Dritte oder über die zwischen ihm und ihnen ausgetauschten Mitteilungen machen zu müssen.“4 Zudem muss die Tatsache innerhalb der Eigenschaft als 1 Statt vieler Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 87. EL März 2019, Art. 47 Rn. 24; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 41. Edition, Stand: 15. Mai 2019, Art. 47 Rn. 3. 2 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 3; Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 24. 3 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 3. 4 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 24. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 202/19 Seite 4 Abgeordneter5 mitgeteilt worden sein. Art. 47 GG greift nicht bei privaten oder geschäftlichen Kontakten.6 Das Zeugnisverweigerungsrecht dient dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Abgeordneten und den Bürgern und ist damit Ausprägung des freien Mandats nach Art. 38 Abs.1 S. 2 GG.7 Gleichzeitig schützt es die Funktionsfähigkeit des Bundestages.8 Der Abgeordnete kann das Zeugnis in allen Bereichen, in denen Zeugnispflichten bestehen, verweigern . Das bezieht sich auf gerichtliche und behördliche Verfahren.9 Der Abgeordnete ist in seiner Entscheidung, ob er von dem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, frei. Er ist nicht verpflichtet sein „Berufsgeheimnis“ zu wahren.10 Das Zeugnisverweigerungsrecht greift nach herrschender Meinung nicht, wenn der Abgeordnete selbst Angeklagter oder Ziel der Ermittlungsmaßnahmen ist.11 Ihm steht dann zwar das allgemeine Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten zu, auf Art. 47 GG kann er sich jedoch nicht berufen.12 Allerdings sind die Vorschriften über die Immunität von Abgeordneten zu beachten. Das Zeugnisverweigerungsrecht wirkt über die Mandatszeit hinaus und endet mit dem Tod des Abgeordneten.13 5 In der Reichweite streitig siehe Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 3; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 3. Aufl., 2015, Art. 47 Rn. 8 jeweils m.w.N. Sehr weit: Neumann, Das berufliche Zeugnisverweigerungsrecht des Abgeordneten – eine Essentiale der Opposition, ZParl 2000, S. 797 (799), der eine Erstreckung auf parteibezogene Tätigkeiten annimmt. 6 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 24; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 8. Aufl., 2018, Art. 47 Rn. 5; Schneider, in: Denninger/Hoffman-Riem/Schneider/Stein (Hrsg.), Reihe Alternativkommentare Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, Art. 47 Rn. 5; Wiefelspütz, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 14 Rn. 8. 7 BVerfG, Urteil vom 30. Juli 2003 – 2 BvR 508/01, 2 BvE 1/01, BVerfGE 108, S. 251 (268 f.); Storr, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 2, 7. Aufl., 2018, Art. 47 Rn. 2; Wiefelspütz, Das Zeugnisverweigerungsrecht des Abgeordneten – funktionsnotwendig für das Abgeordnetenmandat?, Der Staat 2004, S. 543 (546). 8 BVerfG (Fn. 7), S. 269; Brocker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil vom 30. Juli 2003 – 2 BvR 508/01, DVBl 2003, S. 1321 (1322); Magiera (Fn. 6), Art. 47 Rn. 1. 9 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 2; Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 47 Rn. 9. 10 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 14 und 20; Neumann (Fn. 5), S. 799; Wiefelspütz (Fn. 6), § 14 Rn. 13. 11 BVerfG (Fn. 7), S. 269; Bachmaier, Grenzen für Strafermittler im Parlament. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juli 2003, ZParl 2004, 310 (311); Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 2; Storr (Fn. 7), Art. 47 Rn. 8; Wiefelspütz (Fn. 7), S. 548; ders. (Fn. 6), § 14 Rn. 9. 12 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 2. 13 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 4; Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 47 Rn. 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 202/19 Seite 5 2.2. Das Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeiter der Abgeordneten Der Mitarbeiter selbst hat kein originäres, vom Abgeordnetenstatus entkoppeltes Zeugnisverweigerungsrecht nach Art. 47 GG.14 Jedoch erstreckt sich das Zeugnisverweigerungsrecht des Abgeordneten akzessorisch auf ihn.15 Das bedeutet, soweit der Abgeordnete von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach Art. 47 GG Gebrauch macht oder es von dem Mitarbeiter verlangt,16 kann sich auch der Mitarbeiter auf dieses berufen. Nur in Fällen, in denen eine Entscheidung des Abgeordneten nicht in absehbarer Zeit herbeigeführt werden kann, kann der Mitarbeiter entscheiden, ob er von dem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht.17 Mitarbeiter sind u. a. Sekretärinnen, Assistenten, Referenten und Praktikanten. Das Beschäftigungsverhältnis ist nicht maßgeblich, sondern die Funktion als Gehilfe.18 Das Verweigerungsrecht umfasst die während des Mandats anvertrauten Tatsachen, wirkt aber zeitlich auch über die Mandatszeit hinaus.19 Mitarbeiter dürfen ohne Zustimmung des Abgeordneten – sofern diese eingeholt werden kann – nicht vernommen werden. Werden Mitarbeiter vernommen, obwohl ein akzessorisches Zeugnisverweigerungsrecht besteht, kann die Aussage nicht verwertet werden.20 Hintergrund ist, dass ansonsten das Zeugnisverweigerungsrecht regelmäßig unterlaufen werden könnte.21 2.3. Die Erstreckung auf die „Beschlagnahme“ (Art. 47 S. 2 GG) Das Zeugnisverweigerungsrecht ist durch ein Beschlagnahmeverbot in Art. 47 S. 2 GG abgesichert. Das Beschlagnahmeverbot reicht nur soweit wie das Zeugnisverweigerungsrecht reicht. Es ist Sinn und Zweck des Beschlagnahmeverbots zu verhindern, dass das Zeugnisverweigerungsrecht umgangen wird, indem schlicht der Urkundenbeweis anstelle des Zeugenbeweises geführt wird.22 Daraus folgt, dass nur Dokumente, die Umstände enthalten, die dem Zeugnisverweigerungsrecht (dazu oben 2.1) unterliegen, beschlagnahmefrei sind. Da das Beschlagnahmeverbot sich auf das Zeugnisverweigerungsrecht des Abgeordneten bezieht, kommt es nur auf ihn und nicht auf den Mitarbeiter an.23 Daher greift das Beschlagnahmeverbot auch nicht, wenn der Abgeordnete selbst 14 Brocker (Fn. 8), S. 1322; Wiefelspütz (Fn. 7), S. 550. 15 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 1a; Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 23; Magiera (Fn. 6), Art. 47 Rn. 3; Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 47 Rn. 6; Wiefelspütz (Fn. 7), S. 550; ders. (Fn. 6), § 14 Rn. 18. 16 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 23. 17 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 23; Neumann (Fn. 5), S. 800. 18 Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 47 Rn. 6. 19 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 25; Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 47 Rn. 6. 20 Neumann (Fn. 5), S. 800 und S. 803; Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 47 Rn. 9. 21 Wiefelspütz (Fn. 7), S. 549; ders. (Fn. 6), § 14 Rn. 4. 22 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 7; Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 27; Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 47 Rn. 10. 23 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 29. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 202/19 Seite 6 Ziel von Ermittlungsmaßnamen ist.24 Dann sind erneut die Vorschriften über die Immunität zu beachten. Ebenfalls nicht dem Beschlagnahmeverbot unterliegen Gegenstände, die selbst Gegenstand eines Strafverfahrens sind, beispielsweise im Fall einer Urkundenfälschung.25 Das ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des Art. 47 S. 2 GG. Es soll verhindert werden, „dass die Schriftstücke einen unzulässigen Zeugenbeweis i. S. d. Art. 47 S. 1 GG ersetzen, was bei einer strafrechtlichen Relevanz des Schriftstücks selbst aber gerade nicht der Fall ist“26. Wird gegen das Beschlagnahmeverbot verstoßen, besteht ein Beweisverwertungsverbot.27 2.3.1. Die „Beschlagnahme“ i.S.v. Art. 47 S. 2 GG Der Begriff „Beschlagnahme“ ist nach seinem Zweck in Art. 47 S. 2 GG weiter auszulegen, als in den einfachgesetzlichen Regelungen wie der strafprozessrechtlichen Beschlagnahme oder der polizeirechtlichen Beschlagnahme und Sicherung. Er umfasst alle hoheitlichen Maßnahmen, die einer Beschlagnahme gleichstehen.28 Umfasst sind daher etwa auch die Herausgabeerzwingung, die Kenntnisnahme von Briefen und Durchsuchungen. Ebenso fallen auch sehr kurzfristige Eingriffe wie das Öffnen und Lesen von Briefen, von Kurznachrichten, E-Mails oder Nachrichten anderer Art in sozialen Medien sowie das Mithören eines Telefongesprächs unter Art. 47 S. 2 GG.29 Ebenso ist eine analoge Anwendung auf funktional äquivalente Maßnahmen wie beispielsweise die Online-Durchsuchung, das Anfertigen von Kopien, das Erstellen von Duplikaten elektronischer Datenträger oder die Telefonüberwachung angezeigt.30 Zudem greift Art. 47 Abs. 2 GG bei Zufallsfunden .31 Insgesamt schützt Art. 47 S. 2 GG jedoch nur vor hoheitlichen Maßnahmen nicht vor Handlungen unbefugter Dritter.32 24 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 28. 25 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 7. 26 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 7. 27 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 36; Magiera (Fn. 6), Art. 47 Rn. 9; Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 47 Rn. 15. 28 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 8; Storr (Fn. 7), Art. 47 Rn. 10. 29 Statt vieler Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 8. 30 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 8; Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 31. 31 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 8; Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 31; Magiera (Fn. 6), Art. 47 Rn. 8; Schneider (Fn. 6), Art. 47 Rn. 7. 32 BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2004 – 3 C41/03, NJW 2004, 2462 (2464); Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 47 Rn. 10; Storr (Fn. 7), Art. 47 Rn. 10. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 202/19 Seite 7 2.3.2. Das „Schriftstück“ i.S.v. Art. 47 S. 2 GG Der Begriff „Schriftstücke“ in Art. 47 S. 2 GG umfasst jedenfalls „gegenständlich verfestigte Mitteilungen“.33 Erfasst sind also etwa Briefe, Telegramme, ausgedruckte E-Mails, Akten, Vermerke , Urkunden oder Terminkalender.34 Darüber hinaus wird mehrheitlich angenommen, dass der Begriff nach dem Sinn und Zweck von Art. 47 GG weit auszulegen ist. Danach muss man auch andere Datenspeicher, beispielweise Festplatten, USB-Sticks, oder Smartphones als Schriftstück erfassen.35 Die Gegenmeinung stellt auf den Wortlaut ab. Auch bei Entstehung des Art. 47 GG seien schon andere Datenträger wie Tonbänder oder Filme bekannt gewesen. Eine Beschränkung sei hinzunehmen.36 Die vermittelnde Ansicht erfasst alle Gegenstände, auf denen sich Schriftzeichen befinden (z. B. auch Filme), nicht aber Gegenstände ohne erkennbare schriftliche Informationen.37 2.3.3. Gegenstand im Herrschaftsbereich des Abgeordneten Die herrschende Meinung nimmt an, dass das Beschlagnahmeverbot räumlich auf den Herrschaftsbereich des Abgeordneten begrenzt ist.38 Das wird von Teilen der Literatur bestritten, die diese ungeschriebene Voraussetzung des Art. 47 S. 2 GG bezweifeln.39 Das Bundesverfassungsgericht beurteilt diese Begrenzung nach dem funktionalen Herrschaftsbereich des Abgeordneten.40 Dies hat die Literatur weitgehend übernommen. Die funktionale Herrschaft besteht unzweifelhaft, wenn sich der Gegenstand innerhalb der Räume des Bundestages befindet.41 Außerhalb des Bundestages ist zu differenzieren: Befindet sich der Abgeordnete auf Reisen, dann verbleibt der Gegenstand auch innerhalb von Kraftfahrzeugen, Bahnen, Flugzeugen, Geschäfts- und Wohnräumen in dessen funktionalem Herrschaftsbereich.42 Problematischer ist es, wenn sich der Gegenstand beim Mitarbeiter befindet. Hintergrund ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dort führte das Gericht aus, dass wenn sich Gegenstände außerhalb des Bundestages bei einem Mitarbeiter befinden, „die rechtliche und tatsächliche Beherrschungsmöglichkeit […] soweit gelockert“ ist, dass Art. 47 GG 33 BVerfG, (Fn. 7), S. 269; Butzer, (Fn. 1), Art. 47 Rn. 9; Klein, (Fn. 1), Art. 47 Rn. 30; Magiera, (Fn. 6), Art. 47 Rn. 9; Storr, (Fn. 7), Art. 47 Rn. 11. 34 Butzer, (Fn. 1), Art. 47 Rn. 9; Schulze-Fielitz, (Fn. 5), Art. 47 Rn. 11. 35 Butzer, (Fn. 1), Art. 47 Rn. 9; Klein, (Fn. 1), Art. 47 Rn. 30. 36 Storr, (Fn. 7), Art. 47 Rn. 11. 37 Schneider, (Fn. 6), Art. 47 Rn. 7. 38 Butzer, (Fn. 1), Art. 47 Rn. 10; Klein, (Fn. 1), Art. 47 Rn. 32f.; Magiera, (Fn. 6), Art. 47 Rn. 9; Rogall, Erweiterung des Beschlagnahmeschutzes bei Mandatsträgern, NStZ-Sonderheft 2009, S. 37 (38); Schulze-Fielitz, (Fn. 5), Art. 47 Rn. 12. 39 Borchert, Abgeordnete des Deutschen Bundestages im G 10-Verfahren, DÖV 1992, S. 58 (61); Dach, Zur Kontrolle von Abgeordnetenpost durch den Verfassungsschutz, ZRP 1992, S. 1 (3). 40 BVerfG, (Fn. 7), S. 269. 41 BVerfG, (Fn. 7), S. 269; Rogall, (Fn.38), S. 38f. 42 Butzer, (Fn. 1), Art. 47 Rn. 10.1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 202/19 Seite 8 nicht mehr greift. Dies sei „insbesondere in den durch Art. 13 GG geschützten Wohnräumen des Mitarbeiters“ der Fall, da „der Abgeordnete nicht mehr ohne dessen Einwilligung auf die Schriftstücke zugreifen“ könne.43 Dies wird in der Literatur unterschiedlich interpretiert. Zum Teil wird vertreten, dass bei Mitarbeitern außerhalb des Bundestagsgebäudes das Beschlagnahmeverbot nicht gelte.44 Die wohl herrschende Meinung nimmt dagegen an, dass angesichts des aktuellen politischen Betriebs davon ausgegangen werden muss, dass es zwingend notwendig und üblich ist, dass die Mitarbeiter der Abgeordneten mandatsbezogene „Schriftstücke“ auch auf Reisen, in Wahlkreisbüros außerhalb der Bundestagsgebäude und in ihren Privatwohnungen bearbeiten. Gestatte ein Abgeordneter dies, bestehe auch weiterhin dessen Herrschaft über den Gegenstand.45 Das Bundesverfassungsgericht habe über die Durchsuchung bei einem tatverdächtigen Mitarbeiter entschieden und nicht die Frage, inwieweit Räumlichkeiten, die Abgeordnete und Mitarbeiter als Arbeitsplatz außerhalb des Bundestages nutzen, unter Art. 47 S. 2 GG fallen.46 Zumindest seien nicht alle Bereiche außerhalb des Bundestages Gegenstand der Entscheidung gewesen.47 Jedenfalls habe es den Herrschaftsbereich nicht a priori auf die Gebäude des Bundestags beschränkt.48 Ist der Gegenstand verloren oder ohne Wissen des Abgeordneten im Gewahrsam des Mitarbeiters, befindet er sich nicht mehr in dessen funktionalen Herrschaftsbereich.49 2.4. Fazit Insgesamt lässt sich der funktionale Herrschaftsbereich also nicht eindeutig bestimmen, obwohl eine Tendenz in der Literatur zu einem weiten Verständnis klar besteht. Die Unklarheiten werden praktisch durch die einfachgesetzliche Ausgestaltung entschärft. Diese hat zwar keine Auswirkung auf die verfassungsrechtliche Beurteilung,50 bestimmt aber das Handeln der Ermittlungsbehörden. So sieht beispielsweise § 97 Abs. 4 StPO explizit vor, dass Gegenstände, die von Abgeordneten des Bundestages (§ 53 Abs. 1 Nr. 4 StPO) ihren Mitarbeitern (§ 53a Abs. 1 S. 1 StPO) anvertraut sind, nicht der Beschlagnahme unterliegen. 43 BVerfG (Fn. 7), S. 270. 44 Vgl. Bachmeier (Fn. 11), S. 313; Burghard, in: Leibholz/Rick, Grundgesetz Kommentar, Werkstand: 78. EL Juli 2019, Art. 47 Rn. 11; Ohler, Verfassungsrechtliche Grenzen staatsanwaltschaftlicher Durchsuchungen im Bundestag, NVwZ 2004, S. 696 (697); Storr (Fn. 7), Art. 47 Rn. 12; Trute, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar, 6. Aufl., 2012, Art. 47 Rn. 13. 45 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 10 f.; Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 34; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, 14. Aufl., 2018, Art. 47 Rn. 14; Müller-Terpitz, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Werkstand: 198. EL Mai 2019, Art. 47 Rn. 54; Wiefelspütz (Fn. 7), S. 555 f.; ders. (Fn. 6), § 14 Rn. 24 ff.; vereinzelt wird allerdings bezweifelt, dass sich der Bereich auf die Wohnung des Mitarbeiters erstrecke, vgl. Rogall (Fn. 38), S. 39. 46 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 34. 47 Wiefelspütz (Fn. 7), S. 554; ders. (Fn. 6), § 14 Rn. 23. 48 Rogall (Fn.38), S. 39. 49 Butzer (Fn. 1), Art. 47 Rn. 10 f.; Müller-Terpitz (Fn. 45), Art. 47 Rn. 54. 50 Siehe nur Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 33. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 202/19 Seite 9 3. Landesverfassungen Die Verfassungen der Bundesländer enthalten alle ebenfalls ein Zeugnisverweigerungsrecht. Diese unterscheiden sich im Detail.51 Zusammenstellungen landesverfassungsrechtlicher Besonderheiten finden sich bei Klein und Müller-Terpitz.52 Diese werden im Folgenden wiedergegeben: Die Landesverfassung von Baden-Württemberg erstreckt das Zeugnisverweigerungsrecht auf Mitarbeiter, deren Mitarbeit ein Abgeordneter in Ausübung seines Mandates in Anspruch nimmt. Diese können bezüglich „Wahrnehmungen“, die sie im Rahmen der Inanspruchnahme gemacht haben, das Zeugnis verweigern (Art. 39 Verf. BW). Die Beschlagnahme ist entsprechend begrenzt. Das gilt ebenso in Sachsen (Art. 56 Abs. 2 Verf. Sachsen) und Sachsen-Anhalt (Art. 59 Abs. 1 S. 3 Verf. Sachsen- Anhalt). Niedersachsen gibt den Mitarbeitern ein eigenes entsprechendes Zeugnisverweigerungsrecht . Über dessen Ausübung „entscheidet das Mitglied des Landtages, es sei denn, daß seine Entscheidung in absehbarer Zeit nicht herbeigeführt werden kann“ (Art. 16 Abs. 2 Verf. Nieders.). Das gilt ebenso in Thüringen (Art. 56 Abs. 2 Verf. Thür.). Einige Verfassungen erweitern den Begriff „Schriftstücke“ um andere Datenträger.53 Einige spezifizieren die Beschlagnahme nicht weiter,54 was einer Ausweitung gleichkommen sollte.55 Hessen erstreckt das Zeugnisverweigerungsrecht auch auf Mitglieder anderer Landtage (Art. 97 Verf. Hessen). Berlin bezieht das Zeugnisverweigerungsrecht nur auf die Person, die dem Abgeordneten die Tatsache mitgeteilt hat, und nicht auf die Tatsache selbst (Art. 51 Abs. 2 Verf. Berlin). Zudem erweitern einige Länder56 den Begriff Beschlagnahme explizit um die Durchsuchung. Thüringen verbietet die Nutzung an sich (Art. 56 Abs. 3 Verf. Thür.). Insgesamt spielen erneut aufgrund der einfachgesetzlichen Regelungen (dazu bereits oben mit Beispiel) die Unterschiede praktisch kaum eine Rolle.57 Die Unterschiede kommen nur in landesrechtlichen Verfahren, beispielsweise bei landesparlamentarischen Untersuchungsausschüssen, zum Tragen.58 *** 51 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 7. 52 Siehe Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 8; Müller-Terpitz (Fn. 46), Art. 47 Rn. 2 f. 53 Sachsen (Art. 56 Abs. 3); Sachsen-Anhalt (Art. 59 Abs. 1 S. 2); Thüringen (Art. 56 Abs. 3). 54 Brandenburg (Art. 59 S. 2); Niedersachsen (Art. 16); Saarland (Art. 83). Siehe Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 8. 55 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 8. 56 Brandenburg (Art. 59 S. 2); Bremen (Art. 96 Abs. 2); Nordrhein-Westfalen (Art. 49 Abs. 2). 57 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 9; Müller-Terpitz (Fn. 45), Art. 47 Rn. 4. 58 Klein (Fn. 1), Art. 47 Rn. 11; Müller-Terpitz (Fn. 45), Art. 47 Rn. 4.