Schächten Das verfassungrechtliche Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz - Ausarbeitung - © 2007 Deutscher Bundestag WD 3 - 202/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Schächten Das verfassungrechtliche Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz Ausarbeitung WD 3 - 202/07 Abschluss der Arbeit: 19.07.2007 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - Zusammenfassung - Die verfassungsrechtliche Beurteilung des Schächtens steht im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit einerseits und Tierschutz andererseits. Vor Verankerung der Staatszielbestimmung Tierschutz in Art. 20a Grundgesetz (GG) hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2002 über die Verfassungsmäßigkeit des § 4a Abs. 2 Nr. 2 Tierschutzgesetz (TierSchG) zu entscheiden. Das Gericht erklärte die Norm, die die Tatbestandvoraussetzungen einer Ausnahmegenehmigung für das Schächten regelt, als verfassungsgemäß. Eine verfassungskonforme Auslegung könne aber nur dazu führen, dass die Tatbestandsmerkmale „Religionsgemeinschaft“ und „zwingende Vorschriften“ nicht zu eng verstanden würden. Denn ansonsten würde die Religionsfreiheit durch den Gemeinwohlbelang Tierschutz zu sehr verkürzt. Derjenige , der eine Schächtgenehmigung erstrebe, müsse danach 1. einer Religionsgemeinschaft angehören, das heißt einer Gruppe von Menschen, die durch eine gemeinsame Glaubensüberzeugung verbunden ist, ohne dass diese Gruppe eine verbandsmäßige Struktur aufweise und 2. substantiiert und nachvollziehbar darlegen, dass nach der gemeinsamen Überzeugung der Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft der Verzehr des Fleisches von Tieren zwingend eine betäubungslose Schlachtung voraussetzt. Der Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG, die kurz nach dieser Entscheidung erfolgte, wird in Literatur und Rechtsprechung unterschiedliche Bedeutung beigemessen . Ein Teil der Literatur folgert daraus, dass nunmehr eine andere die als vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene verfassungskonforme Auslegung des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG im Lichte der Staatszielbestimmung zu erfolgen habe. Die Tatbestandsmerkmale „Religionsgemeinschaft“ und „zwingende Vorschriften“ seien im Lichte des Tierschutzes mit Verfassungsrang enger zu verstehen. So müsse das vorliegen vom „zwingenden Vorschriften“ objektiv überprüfbar sein. Dem tritt ein anderer Teil der Literatur und auch das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung von Ende 2006 entgegen. Sie gehen davon aus, dass die Auslegung des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG, auch nach Neufassung des Art. 20a GG, im Wesentlichen unverändert bleibe. Es sei vielmehr Aufgabe des Gesetzgebers, das Spannungsverhältnis zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz gegebenenfalls neu auszutarieren . Inhalt 1. Einleitung 4 2. Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) 4 2.1. Schutzbereich 4 2.2. Eingriff 5 2.3. Rechtfertigung 6 2.3.1. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2002 (vor Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG) 6 2.3.2. Ansichten in der Literatur (nach Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG) 8 2.3.3. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. November 2006 (nach Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG) 9 3. Gesetzesgeberische Bestrebungen 10 4. Literaturverzeichnis 11 - 4 - 1. Einleitung Unter Schächten wird das betäubungslose Schlachten nach den rituellen Regeln einer Glaubensgemeinschaft verstanden. Dabei handelt es sich um eine altorientalische Schlachtform, bei der Tiere mittels eines Halsschnitts und der daran anschließenden Entblutung getötet werden.1 In Deutschland ist das betäubungslose Schlachten eines warmblütigen Tieres gemäß § 4a Abs. 1 TierSchG grundsätzlich verboten: Ein warmblütiges Tier darf nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzuges betäubt worden ist. Eine Ausnahme hiervon kann für das Schächten gemäß § 4aa Abs. 2 Nr. 2 TierSchG erteilt werden: Abweichend von Absatz 1 bedarf es keiner Betäubung, wenn die zuständige Behörde eine Ausnahmegenehmigung für ein Schlachten ohne Betäubung (Schächten) erteilt hat; sie darf die Ausnahmegenehmigung nur insoweit erteilen , als es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen , denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen oder (…) Die vorliegende Ausarbeitung soll – unter Berücksichtigung der Positionen in Literatur und Rechsprechung – Auskunft darüber geben, ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen es auf die bestehende Rechtslage hat, dass der Tierschutz durch Neufassung des Art. 20a GG2 in den Rang einer Staatszielbestimmung erhoben wurde. 2. Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG könnte gegen die aus Art. 4 GG folgende Religionsfreiheit verstoßen, wenn das Genehmigungserfordernis einen Eingriff in den Schutzbereich darstellt und dieser nicht gerechtfertigt ist. 2.1. Schutzbereich Die durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Freiheit des Glaubens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sowie das durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützte Recht auf ungestörte Religionsausübung bilden nach herrschender Meinung das einheitliche 1 Hirt / Maisack / Moritz, Tierschutzgesetz, §4 TierSchG Rn. 5. 2 Eingefügt durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 16. Juli 2002 (BGBl I Seite 2862). - 5 - Grundrecht der Religions- bzw. Glaubensfreiheit.3 Die Religionsfreiheit schützt neben der inneren Freiheit, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zu bilden und zu haben (forum internum), die äußere Freiheit, diese Überzeugungen zu bekennen und zu verbreiten (forum externum). Dies umfasst die Freiheit, an religiösen Gebräuchen, kultischen Handlungen und anderen Äußerungen des religiösen Lebens teilzunehmen.4 Die herrschende Meinung in der Literatur5 und auch das Bundesverwaltungsgericht 6 sehen in der Beeinträchtigung der religiösen Lebensführung durch die Beschränkung des Schächtens einen eigenständigen Eingriff in die Religionsfreiheit. Begründet wird dies im Wesentlichen mit der religiösen Motivlage sowie dem Bezug zum muslimischen Opfer- und jüdischen Passahfest.7 Das Bundesverfassungsgericht8 wählt in einem Urteil vor Einfügung des Tierschutzes in das Grundgesetz eine andere dogmatische Konstruktion: Anstelle den Schutzbereich des Art. 4 GG zu eröffnen, „verstärkt“ das Gericht den aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit9 für den schächtenden Metzger durch den speziellen Freiheitsgehalt des Grundrechts der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.10 Es sieht das Schächten zwar nicht als Akt der Religionsausübung an, erkennt aber an, dass eine religiöse Grundhaltung die Verpflichtung beinhalten kann, das Schächten als bindend empfundene Regel vorzunehmen. Durch diese dogmatisch umstrittene11 Konstruktion konnte das Gericht vermeiden, zu der Beschränkbarkeit der Religionsfreiheit Stellung nehmen zu müssen. 2.2. Eingriff Folgt man der Auffassung, dass das Schächten dem Schutzbereich der aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG folgenden Religionsfreiheit erfasst ist, stellt der Genehmigungsvorbehalt des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG in Verbindung mit dem grundsätzlichen Verbot des § 4a Abs. 1 TierSchG einen Eingriff in den Schutzbereich dar. 3 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 4 Rn. 1f.; BVerfGE 24, Seite 236 (245f.). 4 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 4 Rn. 10. 5 Kokott, in: Sachs, Art. 4 Rn. 68; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 4 Rn. 12; Mager, in: von Münch / Kunig, Art. 4 Rn. 17; Hain / Unruh, in: DÖV 2003, Seite 147 (151); Neureither, in : JuS 2002, Seite 1168 (1169). 6 BVerwGE 112, Seite 227 (230) 7 Dietz, in: DÖV 2007, Seite 489 (490). 8 BVerfGE 104, Seite 337 (346). 9 Die Berufsfreiheit des Art. 12 GG als spezielles Freiheitsrecht konnte im konkreten Fall keine Anwendung finden, da der Beschwerdeführer kein Deutscher war. 10 BVerfGE 104, Seite 337 (346). 11 Vgl. dazu Dietz, in: NuR 2003, Seite 477 (480f.); Tilmanns, in: NuR 2002, 578 (580ff.). - 6 - 2.3. Rechtfertigung Das grundsätzliche Schächtverbot (§ 4a Abs. 1 TierSchG) und das Genehmigungserfordernis (§ 4a Abs. 2 TierSchG) wären dennoch verfassungsgemäß, wenn der Eingriff in die Religionsfreiheit gerechtfertigt wäre. Die aus Art. 4 GG folgende Religionsfreiheit ist schrankenlos gewährleistet, sie steht unter keinem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt. Es ist jedoch allgemeine Ansicht, dass sie dennoch, wie andere vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte (Wissenschafts- oder die Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG), beschränkt werden kann. Ein Eingriff in den Schutzbereich ist deshalb nicht gleichbedeutend mit einer Grundrechtverletzung. Das Bundesverfassungsgericht und die herrschende Meinung gehen davon aus, dass eine Beschränkung nur durch Grundrechte und andere Güter mit Verfassungsrang erfolgen (verfassungsimmanente Schranken) könne. Die widerstreitenden Verfassungsgüter seien dann im Wege der praktischen Konkordanz in einen möglichst schonenden Ausgleich zu bringen.12 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Auswirkung die Neufassung des Art. 20a GG auf die Abwägungsentscheidung zwischen der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und des Tierschutzes hat, da letzterer als Staatszielbestimmung nunmehr ein Gut mit Verfassungsrang ist. 2.3.1. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2002 (vor Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG) Vor Implementierung des Tierschutzes in Art. 20a GG hatte das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG zu entscheiden („Schächt-Urteil“ vom 15. Januar 2002).13 Für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG sind nach Auffassung des Gerichts zwei Tatbestandmerkmale von zentraler Bedeutung. Dies sind „Religionsgemeinschaft“ und „zwingende Vorschriften“. Das Bundesverfassungsgericht führt aus, dass eine Religionsgemeinschaft im Sinne des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG bereits dann zu bejahen sei, wenn eine Gruppe von Menschen bestehe, die durch eine gemeinsame Glaubensüberzeugung verbunden sei, ohne dass diese Gruppe eine verbandsmäßige Struktur aufweisen müsse. Schon gar nicht würde dieser Begriff der Religionsgemeinschaft mit dem des Art. 137 Abs. 12 BVerfGE 33, Seite 23 (30f.); 93, Seite 1 (21); Korioth, in: Maunz / Dürig, Art. 140/136 Rn. 54; anderer Ansicht: Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 4 Rn. 3 und BVerwGE 112, Seite 227 (232) den allgemeinen Gesetzesvorbehalt aus Art. 136 Abs. 1 Weimarer Reichverfassung (WRV) in Verbindung Art. 140 GG auf Art. 4 GG anwenden. 13 BVerfGE 104, Seite 337 ff. - 7 - 5 WRV übereinstimmen, worin die hohen Voraussetzungen an die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts geregelt seien.14 Dies gehe schon aus der Gesetzesbegründung hervor, wonach § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG nicht nur Anwendung auf die jüdische Glaubenswelt, sondern auch auf die Mitglieder des Islam und seiner unterschiedlichen Glaubensrichtungen finden solle.15 Eine Religionsgemeinschaft liege dementsprechend auch vor, wenn die Zugehörigkeit zu einer Gruppe innerhalb einer größeren Religion wie dem Islam nachgewiesen werde, die im Hinblick auf das Schächten durch eine gemeinsame religiöse Überzeugung gebunden sei. Bezugspunkt seien bei einer Religion wie dem Islam, die zum Schächtgebot unterschiedliche Auffassungen vertrete, nicht der Islam insgesamt oder die sunnitische oder schiitische Glaubensrichtung . Es komme vielmehr auf die innerhalb einer solchen Glaubenrichtung bestehenden Gruppen an.16 Für das Vorliegen zwingender Vorschriften verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass der Antragsteller substantiiert und nachvollziehbar darlegt, dass nach der gemeinsamen Überzeugung der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft der Verzehr des Fleisches von Tieren zwingend eine betäubungslose Schlachtung voraussetzt. Erfolge eine solche Darlegung, müsse sich der Staat einer Bewertung dieses Glaubensbekenntnisses enthalten. Der zwingende Charakter einer religiösen Vorschrift könne dementsprechend im Lichte des Art. 4 GG nicht deshalb verneint werden, weil die Religion zugleich Regeln kenne, die auf die Gewissensnot von Gläubigen Rücksicht nehme und etwa im Hinblick auf den Aufenthaltsort und die dort herrschenden Speisegewohnheiten Abweichungen zulasse.17 Das Bundesverfassungsgericht stellt damit im Ergebnis auf das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft ab. Ein engeres Verständnis der Tatbestandsvoraussetzungen des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG, insbesondere eine Überprüfung durch das Gericht, ob sich objektiv aus den zugrunde liegenden Glaubensnormen deren zwingender Charakter ableiten lasse ,18sei mit der Bedeutung der Religionsfreiheit nicht zu vereinbaren. Denn das durch Art. 4 GG geschützte Bekenntnis sei individuell zu bestimmen. § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG laufe ansonsten für Angehörige der muslimischen Glaubenswelt leer. Eine solche Einschränkung trage dem Gemeinwohlbelang Tierschutz, dem zwar in der Bevölkerung ein hoher Stellenwert beigelegt werde, einseitig Rechnung. Dies wäre mit der Verfassung nicht zu vereinbaren.19 14 BVerfGE 104, Seite 337 (354); BVerwGE 112, Seite 227 (236). 15 BT-Drs. 10/5259, Seite 38. 16 BVerfGE 104, Seite 337 (354). 17 BVerfGE 104, Seite 337 (355). 18 So noch BVerwGE 99, Seite 1 (9). 19 BVerfGE 104, Seite 337 (353). - 8 - 2.3.2. Ansichten in der Literatur (nach Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG) Seit der verfassungsrechtlichen Verankerung des Tierschutzes in Art. 20a GG steht diese Staatszielbestimmung der vorbehaltlos gewährleisteten Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs.1 und 2 GG als gegenläufiger Belang mit Verfassungsrang gegenüber. Teile der Literatur folgern aus der Einführung des Tierschutzes in Art. 20a GG, die als Reaktion auf die „Schächt-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts erfolgte, dass nunmehr eine andere als die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene verfassungskonforme Auslegung des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG im Lichte der Staatszielbestimmung zu erfolgen habe: Der Wortlaut des Tatbestandmerkmales „zwingende Vorschriften“ sei nun dahin gehend zu lesen, dass die Ausnahmegenehmigung fortan nur erteilt werden dürfe, wenn der zwingende Charakter der Vorschriften objektiv festgestellt werde.20 In diesem Rahmen müsse die Existenz von Ausnahmeregelungen, „die auf die Gewissennot von Gläubigen Rücksicht nehmen und etwa im Hinblick auf den Aufenthaltsort und die dort herrschenden Speisegewohnheiten Abweichungen zulassen“21 Beachtung finden. Dadurch, dass der Tierschutz nunmehr Verfassungsrang habe, sei eine Auslegung, die bei dem Bestehen solcher Regeln den zwingenden Charakter verneine, verhältnismäßig .22 Eine Neufassung des Tierschutzgesetzes durch den Gesetzgeber sei dafür nicht erforderlich, da die Staatszielbestimmung Tierschutz neben dem Gesetzgeber, auch die Rechtsprechung und die Exekutive in ihrer Auslegung bzw. Anwendung des Gesetzes binde.23 Eine andere Ansicht in der Literatur steht auf dem Standpunkt, dass die Einführung des Art. 20a GG lediglich dazu führe, dass die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene verfassungskonforme Auslegung nachträglich verfassungsrechtlich legitimiert werde. Denn ginge man nach dogmatisch richtiger Ansicht davon aus, dass das Schächten vom Schutzbereich des Art. 4 GG erfasst sei, bedürfe es zur Begrenzung der Religionsfreiheit eines Gutes von Verfassungsrang. Vor der Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG habe der Tierschutz keinen Verfassungsrang behabt. 24 Damit sei die Beschränkung der Religionsfreiheit durch das mit Tierschutzbelangen begründete grundsätzliche Schächtverbot und das Genehmigungserfordernis des § 4a TierSchG 20 Casper / Geissen, in: NVwZ 2002, Seite 913 (916). 21 Wie im Islam: Koran, Sure 5, Vers 3. 22 Dietz, in: DÖV 2007, Seite 489 (492); Kluge, in: NVwZ 2006, Seite 650 (653). 23 Kluge, in: NVwZ 2006, Seite 650 (653). 24 Übersicht über die Ansätze, die den Tierschutz als Wert mit Verfassungsrang zu begründen versuchen bei: Hain / Unruh, in: DÖV 2003, Seite 147 (152). - 9 - verfassungswidrig gewesen.25 Eine verfassungskonforme Auslegung des Genehmigungserfordernisses sei dem Bundesverfassungsgericht nur mit einem „Kunstgriff“ gelungen , nämlich die Eröffnung des Schutzbereiches des Art. 4 GG zu verneinen und die allgemeine Handlungsfreiheit durch Art. 4 GG verstärkt anzusehen.26 2.3.3. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. November 2006 (nach Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG) Zentral ist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. November 2006:27 Das Gericht stellt in seiner Entscheidung zunächst fest, dass sich die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG durch die Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG verschoben habe. Der Tierschutz habe dadurch eine Aufwertung erfahren , dies stelle ihn aber nicht über andere Verfassungsgewährleistungen (wie die Religionsfreiheit). Ausweislich der Gesetzesbegründung werde mit § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG bezweckt, den Grundrechtsschutz gläubiger Juden und Muslime zu wahren, ohne dabei auf einen ethisch begründeten Tierschutz zu verzichten. Daran habe sich auch durch Verankerung des zuvor als „hohen Gemeinwohlbelang“ angesehenen Tierschutzes in Art. 20a GG nichts geändert. Das Gericht steht auf dem Standpunkt, dass höhere Anforderungen an die Tatbestandsmerkmale „Religionsgemeinschaft“ und „zwingende Vorschriften“ dazu führten, dass Muslime entgegen dem gesetzgeberischen Zweck keine Schächtgenehmigung erhalten könnten. Die Regelung liefe für einen Teil der in der Gesetzesbegründung genannten Adressaten leer. Sei dies beabsichtigt, sei es Aufgabe des Gesetzgebers dieses Spannungsfeld in dieser Weise neu auszutarieren .28 Es schließt sich damit der Auffassung der Vorinstanz an. Der Verwaltungsgerichtshof Kassel führte in seinem Urteil vom 24. November 200429 in diesem Zusammenhang weiter aus, dass auch in Ansehung der neuen Staatszielbestimmung Tierschutz eine Auslegung des Gesetzes entsprechend dem vom Gesetzgeber intendierten Sinn und Zweck zu erfolgen habe. Etwas anderes gelte nur dann, wenn eine Regelung evident verfassungswidrig sei. Was aber für § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG nicht festzustellen sei. Das Bundesverfassungsgericht habe die Verfassungsmäßigkeit der Norm in der von ihm vorgenommenen Auslegung feststellt. Auch bei Einbeziehung des Tierschutzes als Rechtsgut mit Verfassungsrang könne nicht davon ausgegangen werden, dass die gesetzgeberische Intention, Angehörigen der jüdischen und muslimischen Glaubenswelt 25 Oebbecke, in: NVwZ 2002, Seite 302 (303); Hain / Unruh, in: DÖV 2003, Seite 147 (154). 26 Siehe oben 2.1. 27 BVerwG NVwZ 2007, Seite 461 ff.. 28 BVerwG NVwZ 2007, Seite 461 (462);sich dieser Bewertung Anschließung Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (BayVGH), Beschluss vom 29. Dezember 2006 (juris). 29 VGH Kassel NuR 2005, Seite 464 ff.. - 10 - eine Schlachtung entsprechend ihrer religiösen Überzeugung zu ermöglichen, schlichtweg verfassungswidrig sei.30 Somit bleibe es auch nach Neufassung des Art. 20a GG im Ergebnis bei der verfassungskonformen Auslegung der Tatbestandsmerkmale „Religionsgemeinschaft“ und „zwingende Vorschriften“, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahre 2002 vorgenommen habe. 3. Gesetzesgeberische Bestrebungen Vor dem Hintergrund der soeben dargestellten Rechtsprechung nach Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG hat der Bundesrat auf die Initiative des Landes Hessen am 6. Juli 2007 beschlossen, einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes einzubringen.31 Nach der beabsichtigen Neufassung des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG muss der Antragssteller beweisen, dass zwingende Vorschriften ihm das Schächten vorschrieben bzw. den Verzehr von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen und dass das Schächten im Verhältnis zum Schlachten mit vorheriger Betäubung für das Tier keine zusätzlichen erheblichen Schmerzen und Leiden bedeutet.32 30 VGH Kassel NuR 2005, Seite 464 (467). 31 BR-Drs. 424/07. 32 BR-Drs. 424/07, Seite 1; zur verfassungsrechtlichen Bewertung dieser Neuregelung: Kunig, Gutachterliche Stellungnahme (unveröffentlicht). - 11 - 4. Literaturverzeichnis - Caspar, Johannes / Geissen, Martin, Das neue Staatsziel „Tierschutz“ in Art. 20a GG, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2002, Seite 913 [zitiert: Caspar / Geissen, in: NVwZ 2002]. - Dietz, Andreas, Das Schächten im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz – Folgerungen für die behördliche Genehmigungspraxis aus des Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. November 2006, in: Die öffentliche Verwaltung (DÖV) 2007, Seite 489ff. [zitiert: Dietz, in: DÖV 2007]. - Hain, Karl-E. / Unruh, Peter, Neue Wege in der Grundrechtsdogmatik? – Anmerkungen zum Schächt-Urteil des BVerfG nach Änderung des Art. 20 a GG, in: DÖV 2003, Seite 147ff. [zitiert: Hain / Unruh, in: DÖV 2003]. - Hirt, Almuth / Maisack, Christoph / Moritz, Johanna, Tierschutzgesetz, Kommentar , 2. Auflage, München 2007 [zitiert: Hirt / Maisack /Moritz, Tierschutzgesetz]. - Kästner, Karl-Hermann, Das tierschutzrechtliche Verbot des Schächtens aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: Juristenzeitung (JZ) 2002, Seite 491ff. [zitiert : Kästner, in: JZ 2002]. - Kluge, Hans-Georg, Das Schächten als Testfall des Staatszieles Tierschutz, in: NVwZ 2006, Seite 650ff. [zitiert: Kluge, in: NVwZ 2006]. - Kluge, Hans-Georg, in: Kluge, Hans-Georg (Hrsg.), Tierschutzgesetz, Kommentar, 1. Auflage, Stuttgart 2002 [zitiert: Kluge, in: Kluge, Tierschutzgesetz]. - Kokott, Juliane, in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 4. Auflage, München 2007, Art. 4 [zitiert: Kokott, in: Sachs, Art. 4]. - Korioth, Stefan, in: Maunz, Theodor / Dürig, Günter, Grundgesetz Kommertar, Stand 2006, München, Art. 140 [zitiert: Korioth, in: Maunz / Dürig, Art. 140]. - Kunig, Philip, Gutachterliche Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzesantrages zu Änderung des § 4a des Tierschutzgesetzes, 2007 (unveröffentlicht ) [zitiert: Kunig, Gutachterliche Stellungnahme]. - Neureither, Georg, Schächten – BVerfGE 104, 337, in Juristische Schulung (JuS): 2002, Seite 1168ff. [zitiert: Neureither, in: JuS 2002]. - Oebbecke, Janbernd, Islamisches Schlachten und Tierschutz, in: NVwZ 2002, Seite 302ff. [zitiert: Oebbecke, in: NVwZ 2002].