© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 199/17 Weitere Aussetzung des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten aus verfassungsrechtlicher Sicht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Einleitung In ihrem „Regelwerk zur Migration“ haben sich die Unionsparteien auf Maßnahmen verständigt, mit denen erreicht werden soll, dass „die Gesamtzahl der Aufnahmen aus humanitären Gründen (Flüchtlinge und Asylbewerber, subsidiär Geschützte, Familiennachzug, Relocation und Resettlement , abzüglich Rückführungen und freiwillige Ausreisen künftiger Flüchtlinge) die Zahl von 200.000 Menschen im Jahr nicht übersteigt“.1 Zu diesen Maßnahmen gehört die weitere Aussetzung des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten („Der Familiennachzug zu subsidiär Geschützten bleibt ausgesetzt.“). Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit einer weiteren Aussetzung des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten gestellt. Die folgenden Ausführungen basieren auf den zu diesem Thema bereits erstellten Ausarbeitungen2 und nehmen die aktuelle Diskussion zum Familiennachzug zu international subsidiär Schutzberechtigten auf. 2. Aussetzung des Familiennachzugs Mit dem am 17.03.2016 in Kraft getretenen Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren wurde der Familiennachzug zu international subsidiär Schutzberechtigten für einen Zeitraum von zwei Jahren ausgesetzt.3 Regelungstechnisch erfolgte die Aussetzung des Familiennachzugs durch eine Übergangsvorschrift in § 104 Abs. 13 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Diese sieht vor, dass der Familiennachzug zu international subsidiär Schutzberechtigten, die nach dem 17.3.2016 eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben, bis zum 16.3.2018 nicht gewährt wird. Dabei gilt die Aussetzung des Familiennachzugs auch für den Nachzug der Eltern zu minderjährigen Kindern. Die Übergangsvorschrift enthält allerdings einen ausdrücklichen Hinweis auf die Anwendbarkeit der §§ 22, 23 AufenthG, nach denen eine humanitäre Aufnahme von Familienangehörigen aus dem Ausland im Rahmen von Ermessensentscheidungen weiterhin möglich bleibt.4 Unter welchen konkreten Bedingungen eine weitere Aussetzung des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten in Betracht gezogen wird, ergibt sich aus dem o.g. „Regelwerk zur Migration“ nicht. Die verfassungsrechtliche Prüfung hat sich daher auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beschränken, die den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers beschränken . 1 Das „Regelwerk zur Migration“ stellt die CDU auf ihrer Internetseite bereit, und zwar unter: https://www.cdu.de/artikel/regelwerk-zur-migration. 2 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aussetzen des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten aus verfassungsrechtlicher Sicht (WD 3 – 3000 – 296/15), Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Familiennachzug zu Flüchtlingen und international subsidiär Schutzberechtigten – Rechtsgrundlagen und Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers aus nationaler Sicht (WD 3 – 3000 – 239/16). 3 Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016, BGBl. 2016, 390. 4 Vgl. BT-Drs. 18/7538, 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/17 Seite 5 3. Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG) 3.1. Kein Anspruch auf Familiennachzug Die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG zum Schutz von Ehe und Familie stehen Beschränkungen des Familiennachzugs nicht grundsätzlich entgegen. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in seinem grundlegenden Beschluss aus dem Jahr 1987 festgestellt , dass die aufenthaltsrechtlichen Wirkungen des Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG keinen grundrechtlichen Anspruch auf Familiennachzug begründen.5 Vielmehr überantworte das Grundgesetz es der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt festzulegen, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht werde.6 3.2. Anspruch auf „angemessene Berücksichtigung“ Aus dem grundrechtlichen Gehalt des Art. 6 GG als wertentscheidender Grundsatznorm folgert das Bundesverfassungsgericht aber einen Anspruch darauf, dass „die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren nach § 2 Abs. 1 Satz 2 AuslG die bestehenden ehelichen und familiären Bindungen des Antragstellers an im Bundesgebiet lebende Personen in einer Weise berücksichtigen, die der großen Bedeutung entspricht, welche das Grundgesetz in seinem Art. 6 dem Schutz von Ehe und Familie erkennbar beimisst. Der Betroffene braucht es nicht hinzunehmen , unter unverhältnismäßiger Vernachlässigung dieser Gesichtspunkte daran gehindert zu werden, bei seinen im Bundesgebiet lebenden nahen Angehörigen ständigen Aufenthalt zu nehmen.“7 Diese aus Art. 6 GG folgende Berücksichtigungspflicht bindet nach Art. 1 Abs. 3 GG auch den Gesetzgeber.8 In Bezug auf die den Gesetzgeber bindende Pflicht, die wertsetzende Bedeutung des Art. 6 GG nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu berücksichtigen, ist aber der grundsätzlich weite Gestaltungsspielraum zu beachten, der dem Gesetzgeber bei der Wahrnehmung von Schutz- und Förderpflichten zukommt.9 Wie weit dieser Spielraum bei der Ausgestaltung des Familiennachzugsrechts konkret reicht, lässt sich der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht entnehmen. Sie zeigt aber einige Wertungen auf, die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitserwägungen zu berücksichtigen sind und die eine gewisse Orientierung für 5 BVerfGE 76, 1, 47 f.; siehe auch BVerfG, 2 BvR 1001/04 – juris, Rn. 17 mit Hinweis in die insoweit ständige Rechtsprechung. 6 BVerfGE 76, 1, 46. 7 BVerfGE 76, 1, 49 f., Hervorhebung nicht im Original. 8 BVerfGE 76, 1, 50; vgl. dazu auch Uhle, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), Beck`scher Online-Kommentar, GG (Stand: August 2017), Rn. 44 zu Art. 6; Burgi, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Stand: 2002), Rn. 64 zu Art. 6. 9 BVerfG NJW 2011, 870; BVerfGE 76, 1, 51 f. Siehe dazu auch BVerfGE 76, 1, 68: „Dem Ziel der Begrenzung des Zuzugs von Ausländern darf von Verfassungs wegen erhebliches Gewicht beigemessen werden.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/17 Seite 6 weitere Regelungen des Familiennachzugsrechts geben können. So hebt das Bundesverfassungsgericht die besondere Bedeutung der zunehmenden Aufenthaltsdauer des stammberechtigten Ausländers für den Familiennachzug hervor: „Mit zunehmender Aufenthaltsdauer schreitet im Regelfall die Einfügung in die hiesigen Lebensverhältnisse voran; zugleich wächst die Entfremdung vom jeweiligen Heimatland. Dem unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Wunsch eines nachzugsbegehrenden Ausländers nach ehelichem und familiärem Zusammenleben in der Bundesrepublik Deutschland ist daher bei wachsender Dauer des Aufenthaltes seines Ehegatten im Bundesgebiet zunehmendes Gewicht beizumessen.“10 Auch der völlige Ausschluss des Familiennachzugs – wenn man ihn überhaupt für zulässig erachtet – dürfte besonders hohen Rechtfertigungsanforderungen unterliegen.11 Dafür sprechen die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu der Möglichkeit, den Familiennachzug zu kontingentieren : „Eine ‚Kontingentierung‘ des Ehegattennachzugs müsste Bedenken im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG begegnen. Eine Behandlung von Nachzugswilligen nach dem ‚Warteschlangenprinzip‘ wäre dem Schutz- und Förderungsgebot des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG schwerlich angemessen, weil eine hinreichende Berücksichtigung von Umständen des Einzelfalles nicht gewährleistet wäre und die Betroffenen der Gefahr langer Wartezeiten ausgesetzt wären.“12 Die Verallgemeinerung der verfassungsgerichtlichen Aussagen zu den streitbefangenen Wartezeiten erweist sich jedoch als schwierig. So spricht das für unzulässig befundene Erfordernis einer dreijährigen Ehebestandszeit nicht schon für die generelle Unzulässigkeit einer dreijährigen Aussetzung des Familiennachzugs; denn die Wartezeit erforderte neben der dreijährigen Ehebestandszeit auch einen achtjährigen Voraufenthalt des stammberechtigten Ausländers.13 Hierzu führt das Bundesverfassungsgericht aus: „Es ist vor Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig nicht unangemessen, einem in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer der sogenannten zweiten Generation , der einen Nachzug seines Ehegatten und seiner Kinder anstrebt, anzusinnen, vor Ab- 10 BVerfGE 76, 1, 69. 11 Vgl. dazu die verfassungsrechtlichen Bedenken in Bezug auf § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG, der den Familiennachzug zu Ausländern mit nur vorübergehenden Aufenthaltstiteln ausschließt, Tewocht, in: Beck`scher Online-Kommentar Ausländerrecht (Stand: August 2017), Rn. 11 f. 12 BVerfGE 76, 1, 65. 13 Dies bleibt unberücksichtigt bei Heuser, Aussetzung des Familiennachzugs – ein Verstoß gegen das Grundgesetz ?, Asylmagazin 2018, 125, 130. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/17 Seite 7 lauf einer Aufenthaltsdauer von acht Jahren auf eine Familienzusammenführung im Bundesgebiet zu verzichten oder die familiäre Einheit im betreffenden Heimatland herzustellen .“14 Das Bundesverfassungsgericht betont aber, dass es sich um eine Konstellation handelt, in der die Herstellung der Familieneinheit im Ausland zumutbar wäre.15 Man könnte daraus schlussfolgern , dass die Wartezeiten wiederum für den Fall, dass die Herstellung der Familieneinheit im Ausland – wie in der Regel bei international subsidiär Schutzberechtigen – unzumutbar ist, in Bezug auf Art. 6 GG problematisch wären. Zu beachten ist ferner, dass es bei den in der Verfassungsgerichtsentscheidung behandelten Wartezeiten um Verwaltungsvorschriften geht, die die damals anwendbare allgemeine gesetzliche Ermessensvorschrift in Bezug auf den Familiennachzug konkretisieren.16 Die hier fragliche Übergangsregelung des § 104 Abs. 13 AufenthG betrifft hingegen die Aussetzung eines gesetzlichen Anspruchs auf privilegierten Familiennachzug gemäß § 29 Abs. 1, 2 AufenthG. Auch wenn die Familieneinheit bei international subsidiär Schutzberechtigten in der Regel nicht im Ausland hergestellt werden kann, dürfte eine verfassungsrechtliche Pflicht aus Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG, gerade den Anspruch auf privilegierten Familiennachzug wieder aufleben zu lassen, nicht bestehen. Denkbar wären auch andere Ausgestaltungen des Familiennachzugs, z.B. die „Rückkehr “ zur Rechtslage vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung im Jahr 2015,17 mit dem der Familiennachzug zu international subsidiär Schutzberechtigten dem Familiennachzug zu Flüchtlingen gleichgestellt wurde.18 3.3. Wahrung der Berücksichtigungspflicht? Die Frage nach der Vereinbarkeit der geltenden Aussetzung des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 104 Abs. 13 AufenthG mit den Vorgaben aus Art. 6 GG 14 BVerfGE 76, 1, 56. 15 BVerfGE 76, 1, 57. 16 Siehe BVerfGE 76, 1, 3 mit Verweis auf die damals geltende gesetzliche Rechtsgrundlage in § 2 Abs. 1 Ausländergesetz : „Ausländer, die in den Geltungsbereich dieses Gesetzes einreisen und sich darin aufhalten wollen, bedürften einer Aufenthaltserlaubnis. Die Aufenthaltserlaubnis darf erteilt werden, wenn die Anwesenheit des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigt.“ 17 Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27.07.2015, BGBl. I 2015, 1386. 18 Siehe dazu die Stellungnahme von Thym für die öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 22.02.2016 u.a. über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren (BT-Drs. 18/7538), abrufbar unter: https://www.bundestag .de/blob/409436/b38534c0b99439fe72cf9c72bfbd0c6d/18-4-511-d-data.pdf, 10: „Eine Alternative zur gefundenen Kompromisslösung einer zweijährigen Übergangsfrist hätte darin bestanden, die Privilegierung aus dem vergangenen Sommer rückgängig zu machen. Hierdurch wäre ein Familiennachzug zu subsidiär Geschützten mit Integrationserfolgen speziell am Arbeitsmarkt schon heute möglich, während umgekehrt der Familiennachzug bei mangelnder ökonomischer Integration auch längerfristig hätte verweigert werden können.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/17 Seite 8 ist umstritten. Nach einer Auffassung liegt insoweit ein Verstoß gegen Art. 6 GG vor.19 Ausgangspunkt dafür ist allerdings nicht die Bedeutung des Art. 6 GG als wertsetzende Grundsatznorm. Vielmehr wird angenommen, in der Nichtgewährung des Familiennachzugs zu Ausländern liege ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in Art. 6 GG.20 Dieser Eingriff wiege schwer, da er „mit § 104 Abs. 13 AufenthG pauschal durch den Gesetzgeber angeordnet wird und keine Abwägung im Einzelfall zulässt, Menschen betrifft, denen die Wiederherstellung der Familieneinheit in einem anderen Land unmöglich ist und zusätzlich zu der bereits unangemessen langen Verfahrensdauer erfolgt“. Eine solche mehrjährige Trennung der Familien sei unangemessen und widerspreche rechtsstaatlichen Prinzipien.21 Nach anderer Auffassung bestünden zwar grundrechtliche Bedenken gegen die zweijährige Aussetzung des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten, doch liege kein eindeutiger Verstoß gegen Art. 6 GG vor.22 Da Art. 6 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen Anspruch auf Familiennachzug begründe, sei der zutreffende Anknüpfungspunkt für die rechtliche Bewertung nicht eine rechtfertigungsbedürftige Eingriffssituation, sondern die wertsetzende Bedeutung des Art. 6 GG. In diesem Zusammenhang sei auf die Berücksichtigungspflicht des Gesetzgebers unter Beachtung seines weiten Gestaltungsspielraums abzustellen.23 Dabei komme der staatlichen Befugnis zur Steuerung und Kontrolle der Zuwanderung und zur Wahrnehmung der öffentlichen Interessen an der Begrenzung der Zuwanderung nicht von vornherein eine den grundrechtlichen Interessen an der Herstellung der Familieneinheit untergeordnete Bedeutung zu.24 Im Übrigen sei die Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG „lediglich vorübergehend“, sie erlaube den Familiennachzug in besonderen Fällen im Rahmen einer Ermessensentscheidung nach den §§ 22, 23 AufenthG und diene dem Zweck, den „Nachzug von Familienangehörigen angesichts der Probleme einer logistischen und integrativen Bewältigung einer großen Zahl seit Mitte 2015 nach Deutschland eingereister Flüchtlinge vorübergehend einzuschränken “.25 Thym geht wohl von der Verfassungsmäßigkeit der zweijährigen Aussetzung des Familiennachzugs aus, wenn er unter Verweis auf die Möglichkeit einer Einzelfallprüfung nach 19 Heuser (Fn. 13), 127 ff. 20 Heuser (Fn. 13), 127 f. Für eine Eingriffssituation im Fall der Verweigerung des Familiennachzugs auch Brosius- Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG (3. Aufl., 2013), Rn. 69 zu Art. 6. 21 Heuser (Fn. 13), 130. 22 Thym, Die Auswirkungen des Asylpakets II, NVwZ 2016, 409 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht (Stand: Oktober 2016), Rn. 27 ff. 23 Thym (Fn. 22), 414; Hailbronner (Fn. 22), Rn. 28. 24 Hailbronner (Fn. 22), Rn. 28. 25 Hailbronner (Fn. 229), Rn. 31. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/17 Seite 9 § 22 Abs. 1 S. 1 AufenthG formuliert: „Nach diesen Kriterien werden die Behörden und Gerichte die Neuregelung anwenden müssen.“26 Hält man nicht schon die bereits geltende Aussetzung des Familiennachzugs für unvereinbar mit Art. 6 GG, wird es bei der rechtlichen Bewertung einer weiteren Aussetzung darauf ankommen, ob und inwieweit die Argumente der bloß vorübergehenden Wirkung und der Möglichkeit von Einzelfallprüfungen vor dem Hintergrund des verfolgten Zwecks dann noch tragen. Insoweit ist zu beachten, dass auch eine weitere Aussetzung des Familiennachzugs die betroffenen Ausländer unterschiedlich stark belastet, je nachdem, ob es sich um „Altfälle“ handelt, für die sich die Wartezeit weiter verlängert, oder ob Ausländer betroffen sind, denen die international subsidiäre Schutzberechtigung zu einem späteren Zeitpunkt erteilt wurde. Besonders belastet wären auch diejenigen international subsidiär Schutzberechtigten, die durch einen weiteren Zeitablauf die „Erledigung“ ihres Begehrens auf Familiennachzug zu befürchten haben. Eine solche „Erledigung “ betrifft den Anspruch von Minderjährigen auf den Nachzug ihrer Eltern nach § 36 Abs. 1 AufenthG bei Erreichen der Volljährigkeit. Angesichts dieser Unterschiede dürfte der Möglichkeit von Einzelfallprüfungen, die zurzeit im Rahmen des § 22 Abs. 1 AufenthG erfolgen sollen,27 eine besondere Bedeutung zukommen. In diese Richtung weist auch der jüngste, in einem einstweiligen Verfahren ergangene Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Familiennachzug zu einem Minderjährigen mit international subsidiärer Schutzberechtigung.28 Der Antrag auf vorläufige Erteilung von Visa zum Familiennachzug wurde im Ergebnis aufgrund der im Rahmen des § 32 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorzunehmenden Folgenabwägung abgelehnt. Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der für den Fall maßgeblichen Vorschrift des § 104 Abs. 13 AufenthG hat das Bundesverfassungsgericht zwar offengelassen, doch ist eine Tendenz erkennbar, wonach gerade die Möglichkeit einer Einzelfallprüfung für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit bedeutsam wäre. Konkret heißt es hierzu im Beschluss: „Soweit es um die Erteilung von Visa zum Familiennachzug gemäß § 36 AufenthG geht, ist die Verfassungsbeschwerde nicht offensichtlich unbegründet. In der Hauptsache wäre voraussichtlich zu klären, ob die Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG, nach der ein Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten bis zum 16. März 2018 nicht gewährt 26 Thym (Fn. 22), 414. Im Ergebnis die Verfassungsmäßigkeit des § 104 Abs. 13 AufenthG ebenfalls bejahend Kluth, Das Asylpaket II – eine Gesetzgebung im Spannungsfeld zwischen politischen Versprechen und rechtlich -administrativer Wirklichkeit, ZAR 2016, 121, 127; ders., in: Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht (Stand: August 2017) Rn. 16 f. Kluth sieht in der Aussetzung des Familiennachzugs nach § 104 Abs. 13 Aufenth G zwar einen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG, da die Familieneinheit bei international subsidiär Schutzberechtigten im Heimatstaat nicht hergestellt werden könne. Die Aussetzung des Familiennachzugs sei aber wegen der „gesetzlichen Beschränkung des Zeitraums auf zwei Jahre, der Möglichkeit, andere rechtliche Wege für die Herstellung der familiären Einheit zu nutzen und vor dem Hintergrund der mit der Regelung verfolgten Zielsetzungen , Überlastungen bei der Schutzgewährung abzubauen“ als eine verhältnismäßige Beschränkung zu betrachten . 27 Zur Kritik an der bisherigen restriktiven Anwendung des § 22 AufenthG siehe aber eingehend Heuser (Fn. 13), 127. 28 BVerfG, Beschluss vom 11.10.2017 – 2 BvR 1758/17, abrufbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht .de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/10/rk20171011_2bvr175817.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/17 Seite 10 wird, mit Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang steht (…). In diesem Rahmen kann auch von Bedeutung sein, inwieweit Härtefällen durch die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung zu tragen ist, insbesondere auch dann, wenn die besondere Härte durch Umstände in der Person des subsidiär Schutzberechtigten begründet wird.“29 4. Allgemeiner Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) Soweit der Familiennachzug zu international subsidiär Schutzberechtigten im Vergleich zu anderen asylrechtlich Schutzberechtigten und anderen Ausländern strengeren Anforderungen unterliegt und damit eine nach Art. 3 Abs. 1 GG rechtlich relevante Ungleichbehandlung vorliegt, bedarf es einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, die am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgerichtet ist. Als Vergleichsgruppen kommen insbesondere die anerkannten Flüchtlinge in Betracht, die gemäß § 29 Abs. 1, 2 AufenthG einen Anspruch auf Familiennachzug haben, sowie die national subsidiär Schutzberechtigten (§ 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG), denen der Familiennachzug nach den Voraussetzungen des § 29 Abs. 3 AufenthG im Rahmen einer Ermessensentscheidung gewährt wird. Der Familiennachzug zu national subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 29 Abs. 3 AufenthG ähnelt zwar den Anforderungen, die gemäß § 104 Abs. 13, § 22 AufenthG für den Familiennachzug zu international subsidiär Schutzberechtigten greifen. Man könnte aber insofern erleichterte Voraussetzungen für national subsidiär Schutzberechtigte annehmen, als für den Familiennachzug humanitäre Gründe erforderlich sind, während § 22 AufenthG dringende humanitäre Gründe verlangt. Bei der Prüfung, ob die Ungleichbehandlung beim Familiennachzug zwischen international subsidiär Schutzberechtigten und anerkannten Flüchtlingen verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, kommt es auf die für den Familiennachzug relevanten Unterschiede der betroffenen Ausländergruppen an. Relevant für den Familiennachzug sind insbesondere die Bedingungen der Aufenthaltsdauer und der Aufenthaltsverfestigung.30 So haben die international subsidiär Schutzberechtigten zunächst nur Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von einem Jahr, § 26 Abs. 1 S. 3 AufenthG. Flüchtlinge hingegen erhalten sogleich eine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von drei Jahren, § 26 Abs. 1 S. 2 AufenthG. Darüber hinaus gelten nach § 26 Abs. 3 AufenthG für anerkannte Flüchtlinge erleichterte Bedingungen in Bezug auf den Erwerb eines dauernden Aufenthaltsrechts (Niederlassungserlaubnis).31 Auch national subsidiär Schutzberechtigten kann gemäß § 26 Abs. 1 S. 1, 4 AufenthG schon bei der Ersterteilung eine 29 BVerfG (Fn. 28), Rn. 12. 30 Vgl. auch Hailbronner in der schriftlichen Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom 20.03.2017 zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/blob/497660/9efc44b42b6ecf35b34b4a9f7289d5d2/18-4-807-adata .pdf, 3. Kritisch in Bezug auf die Anknüpfung allein an den Aufenthaltstitel Fontana, Verfassungsrechtliche Fragen der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik im unions- und völkerrechtlichen Kontext, NVwZ 2016, 735, 740; Heuser (Fn. 13), 129. 31 Vgl. dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Fragen zum Asylrecht in ausgewählten europäischen Staaten (WD 3 – 3000 – 026/17), 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/17 Seite 11 Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von drei Jahren erteilt werden.32 Mit zunehmender Aufenthaltsdauer (Stichwort: „Altfälle“) nähern sich die Bedingungen der Aufenthaltsdauer und der Aufenthaltsverfestigung der betroffenen Ausländergruppen jedoch an. Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer weiteren Aussetzung des Familiennachzugs wird es daher darauf ankommen , welche konkreten Gründe für die Aussetzung des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten, für die sich die Wartezeit weiter verlängert, geltend gemacht werden . *** 32 Fränkel, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht (2. Aufl., 2016), Rn. 9 zu § 26 AufenthG.