© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 199/15 Zulässigkeit genereller Leistungskürzungen für Asylsuchende Verfassungsrechtliche Maßstäbe Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 2 Zulässigkeit genereller Leistungskürzungen für Asylsuchende Verfassungsrechtliche Maßstäbe Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 199/15 Abschluss der Arbeit: 7. September 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Aufgabenstellung 4 2. Existenzminimum – Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 4 2.1. Allgemeine Herleitung des Existenzminimums 4 2.2. Grundsätzlich zulässige Abstufung 5 3. Existenzminimum und absolute Grenze der Einschätzungsprärogative 6 3.1. Absolute Untergrenze: Werte der ursprünglichen Fassung des AsylbLG 6 3.2. Verfassungswidrigkeit einer (ersatzlosen) Streichung des Taschengeldes (§ 3 Abs. 1 Satz 4, 5 AsylbLG) 6 3.2.1. Soziokulturelles Minimum als unveräußerlicher Teil des Gesamtexistenzminimums 6 3.2.2. Taschengeld als soziokulturelles Minimum 7 3.2.3. Keine Rechtfertigungsmöglichkeit durch kurze Aufenthaltsdauer 8 4. BVerfGE 132, 134 – Kürzungsmöglichkeiten 9 4.1. Zulässige Minderung des physisch und soziokulturell Gewährleisteten unter die seit dem 1. März 2015 im AsylbLG festgeschriebenen Geldwerte? 9 4.2. Zulässige Ersetzung (auch) des soziokulturellen Existenzminimums durch Sachleistungen? 11 5. Zulässigkeit einer Differenzierung nach Einwanderungsgruppen 12 5.1. Uneingeschränkte Unzulässigkeit des Unterschreitens des Existenzminimums 12 5.2. Differenzierungsmöglichkeiten über der Grenze des Existenzminimums 13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 4 1. Aufgabenstellung Die vorliegende Ausarbeitung beschäftigt sich mit der Zulässigkeit genereller Leistungskürzungen für Asylsuchende. Einerseits stellt sich die Frage, ob (insbesondere vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts1) eine Kürzung der erst jüngst angehobenen Leistungen des AsylbLG grundsätzlich zulässig ist. Zum anderen ist fraglich, ob, und wenn ja unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zulässig festlegen kann, dass eine bestimmte Gruppe von Ausländern differenziert nach Herkunftsstaaten einen geringeren Betrag erhält als eine andere Gruppe. Angesichts der Komplexität des Themas und der Kürze der Bearbeitungszeit kann für beide Fragestellungen nur eine vorläufige Einschätzung geliefert werden. 2. Existenzminimum – Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 2.1. Allgemeine Herleitung des Existenzminimums Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG: Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch, während das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, ein menschenwürdiges Existenzminimum tatsächlich zu sichern2. Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist jedoch nur dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben. Sein genauer Umfang kann nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden, sondern ist im Einzelnen vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen3. Dem Gesetzgeber steht insoweit ein Gestaltungsspielraum zu4. Diesem Gestaltungsspielraum entspricht eine zurückhaltende Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Sie beschränkt sich darauf festzustellen, ob die 1 Vgl. die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10; 2/11 – BVerfGE 134, 132. 2 St. Rspr. vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – juris Rn. 74 ff. Vgl. für eine gegenteilige Auffassung über Herleitung und Umfang des Existenzminimums die Darstellung in: Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Sanktionsregelungen bei Leistungsbezug nach SGB II, SGB XII und AsylbLG, Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste, WD 3 – 260/12 – 24. Oktober 2012, 2012, S. 8. Jüngst für eine Kritik an der Ausweitung des Betonung der Menschenwürde im Anspruch auf das Existenzminimum unter Hinweis auf frühe dies noch anders sehende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 1, 97 (104 f.) Dietz, Leistungseinschränkungen nach § 1a AsylbLG für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten, DÖV 2015, 727 (730 f.). 3 BVerfGE 132, 134 (160), vgl. auch BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – juris Rn. 80: „Das Grundgesetz selbst gibt keinen exakt bezifferten Anspruch vor“. 4 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – juris Rn. 74; BVerfGE 125, 175 (222); 132, 134 (159). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 5 vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellten Leistungen evident unzureichend sind (Evidenzkontrolle )5 und darauf zu überprüfen, ob die gesetzgeberischen Festlegungen zur Berechnung von grundgesetzlich nicht exakt bezifferbaren Leistungen sich nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen lassen6. 2.2. Grundsätzlich zulässige Abstufung Mit dem als „Sondersozialhilferecht“ bezeichneten, am 1. November 1993 in Kraft getretenen Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)7 wollte der Gesetzgeber die vom deutschen Sozialhilfesystem ausgehenden Zuwanderungsanreize beseitigen8. In diesem Zusammenhang ist vom „Grundgedanken des Asylbewerberleistungsgesetzes“ die Rede, „den Rechtsmissbrauch des Grundrechts auf Asyl und den Rechtsmissbrauch der Inanspruchnahme der steuerfinanzierten sozialen Grundsicherung zu bekämpfen“9. Mit den Worten der das Gesetz betreffenden Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie und Senioren vom 24. Mai 1993 verfolgt „der Entwurf (…) das Ziel, die einen Asylmissbrauch begünstigende wirtschaftliche Anreizwirkung der bisherigen Regelungen über Sozialhilfe an Ausländer durch Neustrukturierung und Kürzung der Sozialhilfe für bestimmte Ausländergruppen zu mindern“10. Maßgeblicher Grundsatz des Gesetzes war der Vorrang des Sachleistungs- gegenüber dem Geldleistungsprinzip11. Das Bundesverfassungsgericht hat es als grundsätzlich zulässig erachtet, ein Gesetz dieses Inhalts mit dem genannten politischen Ziel und dem Vorrang des Sachleistungsprinzips zu erlassen: Es stehe im sozialpolitischen Ermessen des Gesetzgebers, für Asylbewerber ein eigenes Konzept zur Sicherung ihres Lebensbedarfs zu entwickeln und dabei auch Regelungen über die Gewährung von Leistungen abweichend vom Recht der Sozialhilfe zu treffen12; insbesondere sei es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, Art und Umfang von Sozialleistungen an Ausländer grundsätzlich von der voraussichtlichen Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland abhängig zu machen13. 5 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – juris Rn. 81; BVerfGE 125, 175 (225 f.); 132, 134 (165). 6 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – juris Rn. 82; BVerfGE 125, 175 (225 f.); 132, 134 (165 f.). 7 Vgl. Laskowski, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht Band 3, 3. Auflage 2013, § 73 Rn. 94. 8 Laskowski, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht Band 3, 3. Auflage 2013, § 73 Rn. 94 mit Hinweis auf BT-Drucks 12/5008. 9 Deibel, Das neue Asylbewerberleistungsgesetz, ZFSH SGB 2015, 117 (117). 10 BT-Drucks 12/5008, S. 2. 11 Vgl. hierzu auch schon BVerfGE 113, 229 (230) und BVerfGE 132, 134 (144) dazu, dass die Sachleistungen in der Praxis meist durch Geldleistungen ersetzt würden. 12 BVerfGE 116, 229 (239). 13 BVerfGE 116, 229 (239) mit Hinweis auf BVerfGE 111, 160 (174); 111, 176 (185). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 6 3. Existenzminimum und absolute Grenze der Einschätzungsprärogative 3.1. Absolute Untergrenze: Werte der ursprünglichen Fassung des AsylbLG Soweit sich der Gesetzgeber entscheidet, das Existenzminimum (insgesamt) in Geldleistungen zur Verfügung stellen zu wollen14, dürfte sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum AsylbLG vom 18. Juli 2012 (BVerfGE 132, 134) eine absolute Untergrenze für seine Einschätzungsprärogative ergeben. Die im bis dato geltenden AsylbLG festgeschriebenen, seit 1993 unverändert gebliebenen Werte hat das Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt15. Sie seien „evident unzureichend“16 und nicht durch ein schlüssiges, tragfähiges Berechnungsverfahren zustande gekommen 17. Soweit sich die tatsächlichen Gegebenheiten in Deutschland nicht grundlegend verändern 18, dürfte insoweit jedenfalls feststehen, dass sich aus den Werten der ursprünglichen Fassung des AsylbLG eine absolute Untergrenze ergibt, die die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers beschränkt. 3.2. Verfassungswidrigkeit einer (ersatzlosen) Streichung des Taschengeldes (§ 3 Abs. 1 Satz 4, 5 AsylbLG) Weiterhin erhellt aus dieser Entscheidung, dass jedenfalls die ersatzlose Streichung des Taschengeldes mit dem Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums nicht vereinbar wäre. 3.2.1. Soziokulturelles Minimum als unveräußerlicher Teil des Gesamtexistenzminimums Dies ergibt sich daraus, dass das in Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG gewährleistete Grundrecht jedem Hilfsbedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zusichert, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind19. Der aus Art. 1 Abs. 1 GG folgende unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch20 setzt sich also aus dem physischen und dem soziokulturellen Existenzminimum zusammen. Ersteres umfasst die Ge- 14 Zur Frage der Zulässigkeit der Gewährleistung durch Sachleistungen sogleich. 15 BVerfGE 132, 134 (158). 16 Vgl. nur BVerfGE 132, 134 (166 ff., 174). 17 BVerfGE 132, 134 (166, 170 ff.). 18 Die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Evidenz des Unzureichenden kann sich nur auf die gegenwärtigen , tatsächlichen Gegebenheiten in Deutschland beziehen, 19 BVerfGE 125, 175 (175 – Leitsatz). 20 Vgl. zur Ausgestaltung als individueller Leistungsanspruch, der auch als gesetzlicher Anspruch gesichert sein muss, da Hilfebedürftige nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden dürfe auch BVerfGE 132, 134 (160). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 7 währleistung der physischen Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft , Heizung, Hygiene und Gesundheit21. Letzteres beinhaltet im Hinblick darauf, dass der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiert22, die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen , kulturellen und politischen Leben23. Beide müssen als einheitliche grundrechtliche Garantie des gesamten Existenzminimums gewährleistet werden24, wobei die Gewährleistung deutschen und ausländischen Staatsbürgern, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten , gleichermaßen zusteht25. 3.2.2. Taschengeld als soziokulturelles Minimum Hinsichtlich dieser beiden Pole des Existenzminimums hat das Bundesverfassungsgericht konkret für die damals (2012) gültige Fassung des AsylbLG festgestellt, dass das physische Existenzminimum in § 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 AsylbLG26 und die Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums in § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG27 bestimmt (nicht gewährleistet) würden28; diese könnten bei der Ermittlung der Höhe voneinander getrennt werden, auch wenn sie grundrechtlich als einheitliche Leistung zu betrachten seien29. Die Ausführungen lassen sich insoweit auf die seit dem 1. März 2015 gültige Fassung des AsylbLG übertragen, als die nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zur Verfügung gestellten Leistungen das physische und das nach § 3 Abs. 1 Satz 4 und 5 AsylbLG beschriebe sogenannte Taschengeld das soziokulturelle Existenzminimum betreffen. Da das Existenzminimum auch soziokulturell 21 Vgl. BVerfGE 120, 125 (155 f.); 125, 175 (223). 22 Vgl. hierzu BVerfGE 80, 367 (374); 109, 279 (319). 23 BVerfGE 125, 175 (223). 24 BVerfGE 132, 134 (160). 25 BVerfGE 132, 134 (134, 159). 26 Vgl. BVerfGE 132, 134 (176). § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG in der Fassung vom 31.10.2006, gültig bis 28.2.2015 lautete : „Der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts wird durch Sachleistungen gedeckt.“ § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG in der Fassung vom 31.10.2006, gültig bis 28.2.2015 lautete: „Der Wert beträgt 1. für den Haushaltsvorstand 360 Deutsche Mark, 2. für Haushaltsangehörige bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres 220 Deutsche Mark, 3. für Haushaltsangehörige von Beginn des 8. Lebensjahres an 310 Deutsche Mark monatlich zuzüglich der notwendigen Kosten für Unterkunft, Heizung und Hausrat.“ 27 § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG in der Fassung vom 31.10.2006, gültig bis 28.2.2015 lautete: „Zusätzlich erhalten Leistungsberechtigte 1. bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres 40 Deutsche Mark, 2. von Beginn des 15. Lebensjahres an 80 Deutsche Mark monatlich als Geldbetrag zu Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens.“ 28 Vgl. BVerfGE 132, 134 (176). 29 BVerfGE 132, 134 (176). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 8 gewährleistet werden muss, dürfte insoweit feststehen, dass eine ersatzlose Streichung des Taschengeldes verfassungswidrig wäre. Bei schlichtem Wegfall30 des Taschengeldes würde der Gesetzgeber nur noch das physische, nicht mehr das soziokulturelle Existenzminimum gewährleisten. 3.2.3. Keine Rechtfertigungsmöglichkeit durch kurze Aufenthaltsdauer Eine Beschränkung des Anspruchs auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz könnte auch nicht durch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland gerechtfertigt werden, denn Art. 1 Abs. 1 GG garantiert ein menschenwürdiges Existenzminimum als einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassende Grundrecht31. In diesem Zusammenhang weist das Bundesverfassungsgericht insbesondere im Hinblick auf den Grundgedanken des Asylbewerberleistungsgesetzes 32 darauf hin, dass migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen können: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“33. Das menschenwürdige Existenzminimum darf also nicht auf die Garantie der physischen Existenz beschränkt werden, woraus sich zwingend ergibt, dass Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums nicht ganz entfallen dürfen34. Daraus resultiert die Feststellung, die insoweit anders lautende Gesetzesbegründung zu dem nachträglich in das AsylbLG eingefügten § 1a aus dem Jahre 199835 sei mit den Entscheidungsgründen des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar36. 30 Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit das Taschengeld in der Höhe begrenzt oder durch Sachleistungen verfassungsrechtlich zulässig ersetzt werden könnte; hierzu sogleich. 31 BVerfGE 132, 134 (172). 32 Vgl. im Vorangegangenen unter 2. S. 4. 33 BVerfGE 132, 134 (173). 34 Die wird wohl einheitlich in der Literatur so vertreten, vgl. nur Deibel, Das neue Asylbewerberleistungsgesetz, ZFSH SGB 2015, 117 (125); Ders., Leistungsbeschränkungen im Asylbewerberleistungsrecht, ZFSH SGB 2013, 249 (251 f.); Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB XII, 2. Auflage 2014, Veröffentlichungsstand 1. Juli 2015, § 1a AsylbLG Rn. 79; Petersen, Das unabweisbar Gebotene i.S. des § 1a AsylbLG – neu justiert, ZFSH SGB 2014, 669 (678). Wohl noch anders allein Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII Kommentar, 5. Auflage 2014, § 1a AsylbLG Rn. 35, der es auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als zulässig ansieht , im Einzelfall den Bedarf nur noch durch Grundleistungen ohne das Taschengeld sicherzustellen. 35 Vgl. BT-Drucks 12/1172, S. 7. 36 So Deibel, Das neue Asylbewerberleistungsgesetz. ZFSH SGB 2015, 117 (125). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 9 4. BVerfGE 132, 134 – Kürzungsmöglichkeiten Fraglich ist, inwieweit angesichts der genannten Feststellungen der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung verfassungsrechtlich zulässig Kürzungen der gegenwärtig im AsylbLG festgeschriebenen Leistungen vorgenommen werden könnten. Das Bundesverfassungsgericht sah sich vor dem Hintergrund der Verfassungswidrigkeit der im damals gültigen AsylbLG festgeschriebenen Werte veranlasst, eigene Übergangsregelungen für die Gewährleistung von Leistungen nach dem AsylbLG zu schaffen37 um einen Zustand zu vermeiden , der infolge der bloßen Nichtigkeitserklärung der angegriffenen Normen von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt wäre als der bisherige38. Mit der zum 1. März 2015 in Kraft getretenen Novellierung hat der Bundesgesetzgeber diese durch das Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Werte übernommen39. 4.1. Zulässige Minderung des physisch und soziokulturell Gewährleisteten unter die seit dem 1. März 2015 im AsylbLG festgeschriebenen Geldwerte? Fraglich ist, ob die gegenwärtig im AsylbLG festgeschriebenen (Geld)Werte40 bereits die absolute, verfassungsrechtlich allein zulässige, migrationspolitisch nicht verhandelbare Untergrenze darstellen oder ob bis zum Erreichen des absolut unverhandelbar Zulässigen noch Spielraum besteht41. In der Rechtsprechung wird insoweit vertreten, dass die durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in § 3 AsylbLG festgelegten Leistungen das unabweisbar Gebotene seien, das unabhängig von Fehlverhalten der Leistungsberechtigten aufgrund der absoluten Gewährleistungsgarantie des Existenzminimums nicht mehr begrenzt werden dürfe42. Der gesamte Leistungsumfang des Existenzminimums müsse so wie in § 3 AsylbLG festgeschrieben zugleich sein Mindestinhalt sein43. Eine migrationspolitische Relativierung des (soziokulturellen) Existenzminimums sei nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr möglich, und das unabweisbare, nicht zu unterschreitende Existenzminimum ergebe sich aus § 3 AsylbLG mit dem 37 BVerfGE 132, 134 (174). 38 Vgl. BVerfGE 132, 134 (174) mit Hinweis auf BVerfGE 99, 216 (244); 119, 331 (382 f.). 39 Vgl. nur BT-Drucks 18/2592, S. 1; außerdem Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, Stand 1. Juli 2015, § 1a AsylbLG Rn. 104. 40 Zur Frage der Ersetzungsmöglichkeit durch Sachleistungen sogleich. 41 Vgl. zum gesamten Streitstand Deibel, Leistungseinschränkungen im Asylbewerberleistungsrecht, ZFSH SGB 2013, 249 ff. 42 Vgl. insbesondere LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. Februar 2013 – L 15 AY 2/13 B ER – juris, insbesondere Rn. 8; LSG NRW, Beschluss vom 14. April 2014 – L 20 AY 153/12 B ER – juris Rn. 50. 43 Für diese Ansicht mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung vgl. Petersen, Das unabweisbar Gebotene i.S. des § 1a AsylbLG – neu justiert, ZFSH SGB 2014, 669 (672 f.), insbesondere Fn. 39. Siehe zum Streitstand auch Birk, in: Bieritz-Hader/Conradis/Thie (Hrsg.), Sozialgesetzbuch XII Kommentar, 10. Auflage 2015, § 1a AsylbLG Rn. 7 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 10 durch das Bundesverfassungsgericht bestimmten Leistungsinhalt44. Nach Auffassung Deibels wird diese seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung und Kommentarliteratur streitige Frage auch durch die Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes nicht beantwortet45. Höchstrichterliche Entscheidungen zu dieser Frage gibt es nicht46, ein die Frage betreffendes Verfahren vor dem Bundessozialgericht wurde im Mai 2015 durch einen Vergleich beendet47. In der sozialgerichtlichen Rechtsprechung wird indes auch die Zulässigkeit weiterer Leistungsbeschränkungen vertreten, da in § 3 AsylbLG nicht das absolut unabdingbare Existenzminimum gewährleistet werde48. Deibel verweist insoweit darauf, dass es nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig sei, den Leistungsstandard aus migrationspolitischen Gründen unter das soziokulturelle Existenzminimum abzusenken und mithin eine Kürzung bis zur Grenze dieses Minimums nicht ausgeschlossen werde49. Weiterhin habe das Bundesverfassungsgericht mit seiner Übergangsregelung dem Gesetzgeber nicht die Entscheidung abnehmen wollen, das Existenzminimum für Kurzaufenthalte im Rahmen einer gesetzlichen Neuregelung zu beschreiben 50 - aus diesen Ausführungen ergebe sich mittelbar, dass die Geldleistung der Übergangsregelung nicht das Existenzminimum darstelle51. Diese Auffassung stellt in der Literatur wohl die herrschende Meinung dar52. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Entscheidung in diesem Zusammenhang jedenfalls ausdrücklich fest, dass die getroffene Übergangsregelung eine eigene Entscheidung des Gesetzgebers nicht ersetze. Diesen treffe von Verfassungs wegen die Pflicht, eine den grundgesetzlichen 44 Vgl. aus der Literatur für diese Auffassung nur Judith/Brehme, Plädoyer für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes . Verfassungsrechtliche Gründe und Vorschläge zur Umsetzung, KJ 2014, 330. 45 Deibel, Das neue Asylbewerberleistungsgesetz, ZFSH SGB 2015, 117 (125). Gegen Beschränkungsmöglichkeiten der Höhe (nicht der Art der Gewährleistung) nach wohl auch Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, Stand 1. Juli 2015, § 1a AsylbLG Rn. 104 ff. 46 Vgl. Birk, Das neue Asylbewerberleistungsgesetz, info also 2015, 51 (52). 47 Vgl. BSG Verfahren B 7 AY 1/14 R – Terminsnachricht bei juris. 48 Vgl. für diese Auffassung die Nachweise aus der Rechtsprechung bei Petersen, Das unabweisbare Gebotene i.S. des § 1a AsylbLG – neu justiert, ZFSH SGB 2014, 669 (674). 49 Deibel, Leistungsbeschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz, ZFSH SGB 2013, 249 (252). 50 Deibel, Leistungsbeschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz, ZFSH SGB 2013, 249 (252) in Fn. 27 mit Hinweis auf BVerfGE 132, 134 (176). 51 Deibel, Leistungsbeschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz, ZFSH SGB 2013, 249 (252). 52 Jedenfalls vertreten dies neben Deibel auch Birk, in: Bieritz-Hader/Conradis/Thie (Hrsg.), Sozialgesetzbuch XII Kommentar, 10. Auflage 2015, § 1a AsylbLG Rn. 7 ff., Ders., Das neue Asylbewerberleistungsgesetz, info also 2015, 51 (52); Petersen, Das unabweisbar Gebotene im Sinne des § 1a AsylbLG – neu justiert, ZFSH SGB 2014, 669 (673 f.); Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII Kommentar, 5. Auflage 2014, § 1a AsylbLG Rn. 3d ff.. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 11 Maßgaben entsprechende eigene Entscheidung zu treffen, wie und in welcher Höhe künftig das Existenzminimum gewährleistet werden solle53. 4.2. Zulässige Ersetzung (auch) des soziokulturellen Existenzminimums durch Sachleistungen? Die vorangegangenen Ausführungen beziehen sich auf die Gewährleistung des Existenzminimums in Geld und auf die diesbezügliche absolute Untergrenze. Hiervon zu trennen ist die Frage, inwieweit das Existenzminimum statt durch Geld- durch Sachleistungen gewährleistet werden dürfte54. Die Gesetzbegründung zur Novellierung des AsylbLG scheint davon auszugehen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die teilweise Erbringung der Leistung in Geld notwendig ist. Das Bundesverfassungsgericht habe mit seiner Übergangsregelung die Entscheidung vom 9. Februar 2010 (BvL 1, 3, 4/09) konkretisiert, indem es klargestellt habe, dass Sachleistungen neben einer Geldleistung den (einheitlichen) existenznotwendigen Bedarf sicherstellen könnten, weswegen der existenznotwendige Bedarf nach der Novellierung durch Sachleistungen und einen Bargeldbedarf (§ 3 Absatz 1) sichergestellt werden solle55. Auch in der Literatur wird vertreten, dass das soziokulturelle Existenzminimum eine Geldleistung voraussetzt56. Nur die das physische Existenzminimum gewährleistenden Grundleistungen, nicht aber das Taschengeld dürfe auch als Sachleistungen gewährt werden57. Im Hinblick auf die erst kürzlich erfolgte Umstellung des Sach- auf das Geldleistungsprinzips im AsylbLG müsste jedenfalls für eine Gewährleistung der einfachrechtlichen Zulässigkeit zunächst wieder eine Gesetzesänderung erfolgen58. Deibel zufolge ist auch in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung ungeklärt , ob die Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Minimums zwingend in Form von Geld bewilligt werden müssen oder ob die unabweisbar gebotenen Leistungen auch in Form von Sachleistungen, Wertgutscheinen oder sonstigen unbaren Abrechnungen erfolgen dürfen59. Auch soweit gute Gründe für eine Unzulässigkeit der generellen Gewährleistung des Existenzminimums ausschließlich durch Sachleistungen im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des 53 BVerfGE 132, 134 (176). 54 Vgl. hierzu ausführlich den Sachstand, Das Sachleistungsprinzip im Asylbewerberleistungsgesetz, WD 6: Arbeit und Soziales – 127/15, 4. September 2015, S. 8 ff. 55 Vgl. BT-Drucks 18/2592, S. 20. 56 Birk, Das neue Asylbewerberleistungsgesetz, info also 2/2015, 51 (51). 57 Birk, in: Bieritz-Hader/Conradis/Thie (Hrsg.), Sozialgesetzbuch XII Kommentar, 10. Auflage 2015,§ 1a AsylbLG, Rn. 9. 58 Möglicherweise beziehen einige das Sachleistungsprinzip ablehnende Stimmen in der Literatur dessen Unzulässigkeit auf eben diese Gesetzesnovellierung. Dies klingt jedenfalls in Birk, das neue Asylbewerberleistungsgesetz , info also 2/2015, 51 (52) an, wenn er schreibt, dass aufgrund des Asylkompromisses vom September 2014 das Primat der Gewährung von Sachleistungen durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern (RechtStVerbG) aufgegeben worden sei und nunmehr außerhalb von Erstaufnahmeeinrichtungen alle Leistungen als Geldleistungen zu gewähren seien. 59 Vgl. hierzu Deibel, Leistungsbeschränkungen im Asylbewerberleistungsrecht, ZFSH SGB 2013, 249 (253). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 12 Menschen sprechen, lässt sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wohl nicht eindeutig entnehmen, dass eine (Wieder)Umstellung auf das Sachleistungsprinzip verfassungswidrig wäre. In der Entscheidung zum AsylbLG wiederholt das Gericht das bereits zuvor in der Entscheidung zur Verfassungsgemäßheit von Hartz IV Leistungen Ausgedrückte als Obiter Dictum: Ob der Gesetzgeber das Existenzminimum (ohne Differenzierung zwischen physischem oder soziokulturellen ) durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichere, bleibe grundsätzlich ihm überlassen60. Auf die insoweit in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Stellungnahme sachkundiger Dritter, der zufolge die Existenz durch Sachleistungen und unbare Leistungen nicht menschenwürdig gesichert werde61, geht das Gericht in seinen Entscheidungsgründen nicht ein62. In der Entscheidung wird zudem festgestellt, dass durch die eigens vorgesehenen Übergangsregelungen die Entscheidung des Gesetzgebers, vorrangig Sachleistungen vorzusehen, nicht berührt werde. Die mögliche Zulässigkeit des Prinzips einschränkend heißt es infolge lediglich: „Unter der Voraussetzung und in der Annahme, dass Sachleistungen aktuell das menschenwürdige Existenzminimum tatsächlich decken, greift die Übergangsregelung nicht in die Regelungssystematik des Asylbewerberleistungsgesetzes hinsichtlich der Art der Leistungen ein“63. Vor diesem Hintergrund wird auch in der Literatur vielfach vertreten, dass eine Ersetzung durch Bereitstellen von Gutscheinkontingenten erfüllt werden könnte64. 5. Zulässigkeit einer Differenzierung nach Einwanderungsgruppen 5.1. Uneingeschränkte Unzulässigkeit des Unterschreitens des Existenzminimums Das Existenzminimum ist migrationspolitisch nicht relativierbar65. Soweit aus dem im Vorangegangenen Dargestellten der Schluss gezogen werden kann, dass mit dem gegenwärtig im AsylbLG Gewährleisteten bereits die Untergrenze des absoluten Existenzminimums erreicht ist, dürften die Leistungen auch für Asylbewerber, die regelmäßig keine Aussicht auf ein Bleiberecht haben, nicht gekürzt werden. 60 BVerfGE 132, 134 (161); Das Bundesverfassungsgericht hat die Zulässigkeit der Bereitstellung von auch soziokulturellen Leistungen durch den Gesetzgeber in Form von Gutscheinen wieder vorausgesetzt, vgl. Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – juris Rn. 134 für die Zulässigkeit von Kultur- und Freizeitleistungen durch Gutscheine. 61 BVerfGE 132, 134 (155). 62 BVerfGE 132, 134 (161) – wiederholt, weil dieses Dictum auch schon Gegenstand der Entscheidung zu Hartz IV war, vgl. BVerfGE 125, 175 (224). 63 BVerfGE 132, 134 (177 f.). 64 Deibel, Leistungsbeschränkungen im Asylbewerberleistungsrecht, ZFSH SGB 2013, 249 (253). 65 BVerfGE 132, 134 (173). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 13 Dem in der gegenwärtigen Debatte umfassend diskutierten Problem66 könnte insoweit nur durch eine schnellere Bearbeitung der Asylanträge von Ausländern aus diesen Herkunftsstaaten begegnet werden. 5.2. Differenzierungsmöglichkeiten über der Grenze des Existenzminimums Unter der Voraussetzung, dass das gegenwärtig im AsylbLG zur Verfügung gestellte noch nicht die absolute Untergrenze des Existenzminimums darstellt und/oder die Gewährleistung des Existenzminimums in Gestalt von Sach- statt Geldleistungen grundsätzlich zulässig ist, scheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber in seiner Einschätzungsprärogative unter engen Voraussetzung bestimmen dürfte, Ausländern, deren Asylanträge aufgrund ihrer Herkunftsländer in weit überwiegender Zahl abgelehnt werden, die Leistungen in geringerem Umfang oder statt in Geld- in Sachleistungen zur Verfügung zu stellen. Zwar gebietet der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dem Gesetzgeber damit aber nicht jede Differenzierung verwehrt. Insbesondere im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit kommt ihm für die Abgrenzung der begünstigten Personenkreise ein weiter Gestaltungsspielraum zu67. Das Bundesverfassungsgericht hat es auch in seiner Entscheidung zum AsylbLG aus 2012 nicht für grundsätzlich unzulässig erachtet, die begrenzte Leistungshöhe mit einer kurzen Aufenthaltsdauer zu rechtfertigen, sondern bemängelt, dass einerseits nicht ausreichend begründet wurde, warum und inwieweit sich die kurze Aufenthaltsdauer auf die existenzsichernden Bedarfe auswirke und andererseits nicht ersichtlich sei, dass die nach dem AsylbLG Leistungsberechtigten sich tatsächlich nur für kurze Zeit in Deutschland aufhielten68. Dies müsste bei einer zu schaffenden und den Leistungsanspruch differenzierenden gesetzlichen Regelung ausreichend berücksichtigt werden. Hierbei könnte in Betracht gezogen werden, dass das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Gewährleistung von Eltern- und Erziehungsgeld das Ziel des Gesetzgebers, den Elterngeldanspruch auf Personen zu beschränken, von denen erwartet werden könne, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben werden, als grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklichen Differenzierungsgrund angesehen hat69. Für die grundsätzliche Zulässigkeit der Differenzierung spricht auch, dass der Gesetzgeber in Bezug auf Organisation und Verfahren in Asylangelegenheiten auch darauf reagieren darf, dass Asyl nicht nur massenhaft beantragt, sondern auch oft ungerechtfertigt zu asylfremden Zwecken der Einwanderung begehrt wird; er hat insoweit dafür zu sorgen, dass der Staat den wirklich Verfolgten Schutz 66 Vgl. aus der umfangreichen Medienberichterstattung nur „Deutschland soll Bezüge für Flüchtlinge senken“, Interview mit Aleksandar Vucic, Ministerpräsident von Serbien, FAZ vom 26. August 2015 und Rossmann, Union gegen „falsche Signale“. Fraktion will Anreize für Flüchtlinge abbauen, Süddeutsche Zeitung vom 3. September 2015; für eine vergleichbare Diskussion in Schweden und Dänemark vgl. Bigalke, Offenes Land, verschlossenes Land, Süddeutsche Zeitung vom 1. September 2015. 67 Vgl. für alles BVerfGE 111, 160 (169) und 111, 176 (184) mit Hinweis auf BVerfGE 99, 165 (178); 106, 166 (175 f.). 68 Vgl. hierzu insgesamt BVerfGE 132, 134 (171 ff.). 69 BVerfGE 111, 160 ff.; 111, 176 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 199/15 Seite 14 vor politischer Verfolgung gewähren kann70. Auch eine Typisierung ist im Rahmen unterschiedlicher Gewährleistung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht grundsätzlich unzulässig: „In der Typisierung und Generalisierung von Sachverhalten, deren der Gesetzgeber anders nur schwer Herr werden kann“ liege „ein ausreichender Differenzierungsgrund für eine ansonsten nicht gerechtfertigte gesetzgeberische Benachteiligung“71; dieser Grundsatz gelte „insbesondere für Massenerscheinungen im Sozialleistungsrecht72. Andererseits darf die mit dieser Typisierung verbundene Belastung nur hingenommen werden, wenn die mit ihr verbundenen Härten nicht besonders schwer wögen und nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären73. Zudem sind auch dann strengere Anknüpfungen an eine an die Zugehörigkeit zu einer Personengruppe anknüpfende Unterscheidung zu stellen, wenn der Einzelne das Vorliegen des Differenzierungsmerkmals nicht durch eigenes Verhalten beeinflussen kann74. Ob eine Ausnahme von Ausländern aus bestimmten Herkunftsländern hinsichtlich der Berechtigung zum Empfang der Leistungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar wäre, hängt also davon ab, ob für die getroffene Differenzierung Gründe von solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigten könnten75. Angesichts der engen Grenzen, die das Bundesverfassungsgericht für ein zulässiges Abstellen auf den Aufenthaltsstatus formuliert hat76, wäre eine derartige Regelung nicht ohne weiteres verfassungsrechtlich unbedenklich. Insoweit erscheint auch problematisch, die unterschiedliche Leistungsbehandlung erst im AsylbLG anzusetzen, da dieses Gesetz an den Status anknüpft und sich insoweit auf Feststellungen bezieht, die in anderen Verfahren auf Grundlage anderer Gesetze getroffen wurden.77 Insgesamt müsste der Gesetzgeber in diesem besonders sensiblen Bereich und im Hinblick auf die jüngste Bundesverfassungsgerichtsentscheidung äußerst behutsam bei der generellen Leistungsbegrenzung vorgehen. Ende der Bearbeitung 70 Will, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 7. Auflage 2014, Art. 16a Rn. 12 mit Hinweis auf BVerfGE 94, 166 (200), diese wiederum mit Hinweis auf BVerfGE 54, 341 (357); 76, 143 (157 ff.); 80, 315 (333). 71 BVerfGE 111, 176 (188) mit Hinweis auf BVerfGE 103, 310 (319). 72 BVerfGE 111, 176 (188) mit Hinweis auf BVerfGE 51, 115 (122 f.) – anders wohl BVerfGE 63, 119 (128). 73 BVerfGE 111, 176 (188) mit Hinweis auf BVerfG, DVBl 2004, S. 1104 (1105 f.). 74 BVerfGE 111, 160 (169 f.). 75 Für eine ähnliche Formulierung BVerfGE 111, 160 (170). 76 Vgl. BVerfGE 132, 134 (164): „Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.“ 77 Dietz schlägt insoweit vor, in § 1a AsylbLG eine (wiederlegbare) Vermutungsregelung aufzunehmen, nach der für Ausländer aus sicheren Herkunftsstaaten im Sinne des Art. 16a Abs. 3 GG die Einreise aus diesen Herkunftsstaaten missbräuchlich im Sinne des § 1a Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG erfolgt ist, vgl. Dietz, Leistungseinschränkungen nach § 1a AsylbLG für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten, DÖV 2015, 727 (732 f.).