WD 3 - 3000 - 198/20 (28. August 2020) © 2020 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Es wird gefragt, ob die Einführung einer Pflichtberatung als Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer institutionellen Hilfe zur Selbsttötung verfassungsgemäß wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 den § 217 Strafgesetzbuch, der die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe stellte, für verfassungswidrig und nichtig erklärt .1 Eine institutionelle Hilfeleistung zur Selbsttötung kann infolge des Urteils nicht generell unter Strafe gestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht erkennt allerdings ein Recht des Gesetzgebers an, die „Suizidhilfe“ zu regulieren.2 „Die verfassungsrechtliche Anerkennung des Einzelnen als zur Selbstbestimmung befähigten Menschen“ verlange aber „eine strikte Beschränkung staatlicher Intervention auf den Schutz der Selbstbestimmung, der durch Elemente der medizinischen und pharmakologischen Qualitätssicherung und des Missbrauchsschutzes ergänzt werden“ könne.3 Das Gericht macht selbst Vorschläge für Ansatzpunkte der gesetzlichen Regulierung: „Zum Schutz der Selbstbestimmung über das eigene Leben steht dem Gesetzgeber in Bezug auf das Phänomen organisierter Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen. Sie reichen von der positiven Regulierung prozeduraler Sicherungsmechanismen, etwa gesetzlich festgeschriebener Aufklärungs- und Wartepflichten über Erlaubnisvorbehalte, die die Zuverlässigkeit von Suizidhilfeangeboten sichern, bis zu Verboten besonders gefahrträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe entsprechend dem Regelungsgedanken des § 217 StGB.“4 Jede einschränkende Regelung müsse aber sicherstellen, dass sie dem Recht der Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung aus dem Leben zu scheiden, auch faktisch genügend Raum zur Umsetzung belasse.5 1 BVerfG, NJW 2020, 905. 2 BVerfG, NJW 2020, 905 (920 f. Rn. 338). 3 BVerfG, NJW 2020, 905 (921 Rn. 338). 4 BVerfG, NJW 2020, 905 (921 Rn. 339). 5 BVerfG, NJW 2020, 905 (921 Rn. 341). Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Verfassungsmäßigkeit einer Pflichtberatung vor Inanspruchnahme einer institutionellen Hilfe zur Selbsttötung Kurzinformation Verfassungsmäßigkeit einer Pflichtberatung vor Inanspruchnahme einer institutionellen Hilfe zur Selbsttötung Fachbereich WD 3 (Verfassung und Verwaltung) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 Das Gericht führt aus, dass eine freie Suizidentscheidung von vier wesentlichen Voraussetzungen abhänge: von der Fähigkeit seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden und nach dieser Einsicht handeln zu können, von der Kenntnis aller entscheidungserheblicher Gesichtspunkte, von dem Fehlen unzulässiger äußerer Einflussnahme oder äußeren Drucks und von der Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit des Entschlusses.6 Vor dem Hintergrund, dass ein Sterbeverlangen häufig ambivalent und wechselhaft sei, benennt das Bundesverfassungsgericht eine unzureichende Aufklärung als eine erhebliche Gefahr für eine freie Suizidentscheidung.7 Eine freie Entscheidung setze „zwingend eine umfassende Beratung und Aufklärung hinsichtlich möglicher Entscheidungsalternativen voraus, um sicherzustellen, dass der Suizidwillige nicht von Fehleinschätzungen geleitet, sondern tatsächlich in die Lage versetzt wird, eine realitätsbezogene, rationale Einschätzung der eigenen Situation vorzunehmen“.8 Da nach den Ausführungen des Gerichts eine Beratung zwingend erforderlich ist, um einen freien Entschluss zur Selbsttötung zu fassen und somit selbstbestimmt zu handeln, wäre die gesetzliche Einführung einer Beratungspflicht vor der Inanspruchnahme einer institutionellen Hilfe bei der Selbsttötung grundsätzlich verfassungsgemäß. Ein konkreter Regelungsvorschlag dazu findet sich bei Lindner, Sterbehilfe in Deutschland – mögliche Regelungsoptionen, in: ZRP 2020, 66 Anlage. Der Vorschlag sieht zur Gewährleistung eines freiverantwortlich gefassten Entschlusses zur Selbsttötung unter Zuhilfenahme Dritter eine verpflichtende ärztliche Begutachtung der Entschließungsfreiheit und -fähigkeit vor, ferner eine psychosoziale und palliativmedizinische Beratung zum Leben sowie eine Überdenkungsfrist im Anschluss an die Beratung. *** 6 BVerfG, NJW 2020, 905 (921 Rn. 240 ff.). 7 BVerfG, NJW 2020, 905 (921 Rn. 244, 246). 8 BVerfG, NJW 2020, 905 (921 Rn. 246).