© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 196/19 Einstellung von Ermittlungsverfahren nach § 31a Betäubungsmittelgesetz bei „geringer Menge“ Cannabis zum Eigenverbrauch Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 196/19 Seite 2 Einstellung von Ermittlungsverfahren nach § 31a Betäubungsmittelgesetz bei „geringer Menge“ Cannabis zum Eigenverbrauch Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 196/19 Abschluss der Arbeit: 20. August 2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 196/19 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wird nach der verfassungsrechtlichen Beurteilung der unterschiedlichen Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften nach § 31a Abs. 1 S. 1 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) bei einer „geringen Menge“ Cannabis zum Eigenverbrauch. Im Fokus stehen dabei die je nach Bundesland unterschiedlichen Einstellungsgrenzen, die sich jeweils am Bruttogewicht des Cannabisprodukts orientieren. 2. Einstellung nach § 31a Abs. 1 S. 1 BtMG Der Gesetzgeber hat § 31a BtMG mit dem Ziel eingeführt, die Einstellungsmöglichkeit bei Besitz von Cannabis zum Eigenverbrauch zu vereinheitlichen.1 Die Staatsanwaltschaft kann gemäß § 31a Abs. 1 S. 1 BtMG in Fällen des § 29 Abs. 1, 2 oder 4 BtMG von der Strafverfolgung absehen und das Verfahren vorläufig einstellen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und der Täter die Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge anbaut, herstellt, einführt, ausführt, durchführt , erwirbt, sich in sonstiger Weise verschafft oder besitzt. Darüber hinaus kommt bei einer leichten Überschreitung der „geringen Menge“ oder bei – nicht drittgefährdendem – Besitz von Cannabis zu anderen Zwecken als dem Eigenverbrauch eine Einstellung unter den Voraussetzungen von § 153 oder § 153a StPO in Betracht, da § 31a BtMG deren Anwendbarkeit nicht sperrt.2 2.1. Definition der „geringen Menge“ i.S.v. § 31a BtMG Der Gesetzgeber hat trotz entsprechender Vorschläge im Gesetzgebungsverfahren die „geringe Menge“ i.S.v. § 31a BtMG nicht näher konkretisiert.3 Da die Einstellung in diesen Fällen durch die Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde erfolgt und die Entscheidung nicht gerichtlich überprüfbar ist4, liegt auch keine Rechtsprechung zu § 31a BtMG vor. Allerdings knüpft § 29 Abs. 5 BtMG die Möglichkeit der Einstellung durch das Gericht ebenfalls an das Vorliegen einer „geringen Menge“ Betäubungsmittel. Als Maßstab hat sich in der Rechtsprechung der Begriff der Konsumeinheit etabliert.5 Eine Konsumeinheit ist die Menge, die ein nichtabhängiger Konsument 1 Patzak, in: Körner/Patzak/Volkmer, Betäubungsmittelgesetz, 9. Aufl, 2019, § 31a Rn. 9. 2 Ganter, in: BeckOK Strafprozessordnung, 34. Edition, Stand: 1. Juli 2019, BtMG, § 31a Rn. 2; Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 14. 3 Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 4. 4 BayObLG, Beschluss vom 25. 1. 1995 – 4 St RR 8/95, BayObLGSt 1995, S. 8 (11); Kotz/Oğlakcıoğlu, in: Mansdörfer /Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zu Strafgesetzbuch, Bd. 6, 3. Aufl., 2018, BtMG ,§ 31a Rn. 60; Malek , Betäubungsmittelstrafrecht, 4. Aufl., 2015, Kap. 3 Rn. 260; vgl. auch LG Oldenburg, Beschluss vom 2. Januar 2001 – 6 Qs 86/01, NStZ-RR 2002, S. 119 (119) – keine Ablehnung der Anklage unter Verweis auf gebotene Einstellung nach § 31a BtMG. 5 Dazu Aulinger, Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von Drogenkonsumenten, 1997, S. 23f. m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 196/19 Seite 4 für einen Rausch benötigt.6 Die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung7 und herrschende Meinung in der Literatur8 sieht bei einem nicht abhängigen Konsumenten eine Cannabismenge von bis zu drei Konsumeinheiten als gering an. Entscheidend ist dabei die Wirkstoffmenge. Bei Cannabisprodukten wird bis zu einem Wirkstoffgehalt von 0,045g THC von einer geringen Menge ausgegangen.9 Das entspricht ungefähr einem Bruttogewicht von 6g, wenn man zugunsten des Beschuldigten eine sehr schlechte Qualität mit einem Wirkstoffgehalt von unter 1 % zugrunde legt.10 Der Bundesgerichtshof hat 1995 in einem für die Auslegung von § 29 Abs. 5 BtMG nicht bindenden obiter dictum sogar „10 Gramm Haschisch, nämlich 10 Konsumeinheiten bei 1,5 % THC“ als "geringe Menge" bezeichnet.11 Dies entsprach einem Vorschlag der damaligen Bundesjustizministerin und des Bundesgesundheitsministers.12 Dies wurde in der folgenden oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung jedoch nicht aufgegriffen. Das Gericht kann bei einer Einstellung nach § 29 Abs. 5 BtMG davon absehen, die Wirkstoffmenge festzustellen, wenn nach richterlicher Überzeugung eine geringe Menge gegeben ist.13 In der Literatur wird die Übertragung dieser Grundsätze auf die Bestimmung einer „geringen Menge“ i.S.v. § 31a Abs. 1 S. 1 BtMG befürwortet .14 Da § 31a Abs. 1 BtMG der Entlastung der Staatsanwaltschaft dienen soll, wird es dabei als sachgerecht erachtet, wenn diese originär auf das Bruttogewicht des Cannabisprodukts abstellt.15 2.2. Unterschiedliche Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften Die Staatsanwaltschaften der einzelnen Bundesländer beurteilen die „geringe Menge“ bei Cannabisprodukten unterschiedlich.16 Die meisten Bundesländer haben Richtlinien für die Einstel- 6 Weber, Betäubungsmittelgesetz, 5. Aufl., 2017, § 29 Rn. 2109. 7 OLG Hamm, Beschluss vom 29. Juli 2014 – III-2 RVs 33/14, juris Rn. 21; OLG Oldenburg, Beschluss vom 11. Dezember 2009 – 1 Ss 197/09, StV 2010, S. 135 (135); BayObLG, Urteil vom 14. Februar 1995, StV 1995, 529 (530). Zusammenfassend: Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 22; Kotz/Oğlakcıoğlu, (Fn. 4), BtMG, Vor § 29 Rn. 202. 8 Kotz/Oğlakcıoğlu, (Fn. 4), BtMG, Vor § 29 Rn. 207; Malek, (Fn. 4), Kap. 3 Rn. 252; 268f.; Noltensmeier, in: Kotz/Rahlf (Hrsg.), Praxis des Betäubungsmittelstrafrechts, 2013, Kap. 5 Rn. 604; Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 23; Weber, (Fn. 6), § 29 Rn. 2118; § 31a Rn. 27. 9 Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 22. 10 Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 23. 11 BGH, Beschluss vom 20. Dezember 1995 – 3 StR 245/95, NJW 1996, S. 794 (797). 12 Körner, Vorliegen des Tatbestandsmerkmals “nicht geringe Menge”, NStZ 1996, 195 (196). 13 Kotz/Oğlakcıoğlu, (Fn. 4), BtMG, § 29 Rn. 1729. 14 Kotz/Oğlakcıoğlu, (Fn. 4), BtMG, § 31a Rn. 25; Malek, (Fn. 4), Kap. 3 Rn. 252; Weber, (Fn. 6), § 31a Rn. 27. 15 Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 22. 16 Zuletzt Heinrich/van Bergen, Grundzüge des deutschen Betäubungsmittelstrafrechts und seine Entkriminalisierungstendenzen , JA 2019, S. 321 (326); vgl. auch den Überblick bei Ganter, (Fn. 2), BtMG, § 31a Rn. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 196/19 Seite 5 lung von Strafverfahren nach § 31a BtMG durch die Staatsanwaltschaften erlassen. Diese unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf das Bruttogewicht17 des Cannabisprodukts, sondern auch danach, ob eine Einstellung obligatorisch oder fakultativ18 erfolgt. Die Staatsanwaltschaft kann das Verfahren derzeit in jedem Bundesland bis zu einem Bruttogewicht von 6g des Produkts nach § 31a Abs. 1 S. 1 BtMG einstellen. Vier Bundesländer19 lassen eine Einstellung auch bei Mengen bis 10g zu. Lediglich die Berliner Regelung enthält die Möglichkeit einer Einstellung bis zu einem Bruttogewicht von 15g. Das für eine „geringe Menge“ i.S.v. § 31a BtMG maßgebliche Bruttogewicht von Cannabisprodukten kann sich damit im bundesweiten Vergleich um bis zu 9g unterscheiden. Allerdings spielen auch andere Faktoren wie zum Beispiel die strafrechtliche Vorbelastung20 und das Alter des Täters oder eine mögliche Fremdgefährdung21 für die Einstellung eine maßgebliche Rolle. 3. Verfassungsrechtliche Bewertung der unterschiedlichen Einstellungspraxis 3.1. „Cannabis-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 in seiner „Cannabis-Entscheidung“22 die Strafandrohung für Cannabiskonsum im Bagatellbereich nur deswegen als mit dem Übermaßverbot vereinbar angesehen , weil dieser unter verfassungskonformer Anwendung der Einstellungsnormen tatsächlich nicht zur Bestrafung führt.23 Das Bundesverfassungsgericht billigte damit ausdrücklich die auch heute noch praktizierte strafprozessuale Entkriminalisierung konsumbezogener Bagatellkriminalität .24 In der Konsequenz dürfte eine Konsumeinheit die absolute Untergrenze bilden, für die eine Einstellung möglich sein muss, da sonst das Übermaßverbot verletzt wäre. Spezifische Vorgaben bezüglich der Höhe eines für die „geringer Menge“ i.S.v. § 31a BtMG maßgeblichen Bruttogewichts von Cannabisprodukten lassen sich nicht aus dem Beschluss entnehmen. Jedenfalls äußerte das Gericht keine Bedenken gegenüber den schon damals in der Rechtspre- 17 Siehe die Übersicht bei Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 43. 18 Siehe die Übersicht zu den Einzelheiten bei Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 46 ff. 19 Berlin, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Thüringen. 20 BVerfG, Beschluss vom 15. August 2006 – 2 BvR 1441/06, juris Rn. 6. 21 Siehe beispielsweise Schäfer/Paoli, Drogenkonsum und Strafverfolgungspraxis, 2006, S. 394. 22 BVerfG, Beschluss vom 9. März 1994 – 2 BvL 43/92, NJW 1994, S. 1577 (= BVerfGE 90, 145). 23 Aulinger, § 31a BtMG – Der Auftrag des BVerfG und die Rechtswirklichkeit, NStZ 1999, S. 111 (111); Kotz/Rahlf, Betäubungsmittelrechtliche Entscheidungen des BVerfG sowie der Ober- und Instanzgerichte in der Zeit vom 1. 7. 2003 bis 30. 6. 2004 - 1. Teil, NStZ-RR 2004, S. 193 (194); Kreuzer, Die Haschisch-Entscheidung des BVerfG, NJW 1994, S. 2400 (2400). 24 Aulinger, (Fn. 23), S. 111. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 196/19 Seite 6 chung der Oberlandesgerichte überwiegend zugrunde gelegten drei Konsumeinheiten oder 6g Haschisch .25 Das Gericht führte jedoch weiter aus, dass eine stark unterschiedliche Beurteilung des Vorliegens einer „geringen Menge“ durch die Staatsanwaltschaften verfassungsrechtlich bedenklich sei.26 Die Länder seien verpflichtet für eine im Wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften zu sorgen.27 Dies sei namentlich dann nicht der Fall, wenn die Länder durch ihre Behörden die Verfolgung nach abstrakt generellen Maßstäben unterschiedlich vorschrieben oder unterbänden.28 Nach Ansicht des Gerichts lagen zum Entscheidungszeitpunkt noch keine gesicherten Erkenntnisse zur Anwendung des 1992 eingeführten § 31a BtMG vor, „die auf eine dauerhaft unterschiedliche Handhabung auch dieser Vorschrift in den Ländern schließen ließen“29. Es sei jedoch bedenklich, wenn es bei einer so stark unterschiedlichen Einstellungspraxis in den verschiedenen Bundesländern bliebe, wie sie in einem Bericht30 der Bundesregierung für die Jahre 1985 bis 1987 festgestellt worden ist.31 Dieser konstatiert eine „auffallend unterschiedliche Entscheidungspraxis […] gegenüber sog. Cannabistätern mit kleinen Cannabismengen zum Eigenverbrauch“.32 Während in Bayern die Einstellungsquote bei 5,9 % lag, wurden in Berlin 75,6 % der Verfahren eingestellt.33 Auch die Unterschiede der für eine Einstellung zugrunde gelegten Bruttogewichtswerte waren zum Entscheidungszeitpunkt größer als heute. So erlaubte die damals geltende Richtlinie in Schleswig-Holstein34 eine Einstellung im Regelfall bei Cannabisprodukten mit einem Bruttogewicht von bis zu 30g, während dies etwa in Nordrhein Westfahlen nur bis 10g möglich war und in Baden-Württemberg gar keine Möglichkeit der Einstellung vorgesehen war.35 Daraus ergab sich eine Differenz der auch vor der Einführung von § 31a BtMG für die Einstellung als maßgeblich erachteten Bruttogewichte von Cannabisprodukten von bis zu 30g. Diese sah das 25 Kotz/Oğlakcıoğlu, (Fn. 4), BtMG, Vor § 29 Rn. 197. 26 So auch Kirchhof, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 8, 3. Aufl., 2010, § 181 Rn. 45. 27 Kritisch: Gusy, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 9. März 1994 – 2 BvL 43/92, JZ 1994, S. 862 (863). 28 BVerfG, (Fn. 22), S. 1583. 29 BVerfG, (Fn. 22), S. 1583. 30 BT Drs. 11/4329; kritisch gegenüber der vom BVerfG gewählten Beurteilungsgrundlage Weber, (Fn. 6), § 31a Rn. 77. 31 BVerfG, (Fn. 2222), S. 1582 f. 32 BT Drs. 11/4329, S. 26. 33 BT Drs. 11/4329, S. 15; S. 21. 34 Siehe Schneider, Haschisch im sanktionsfreien Raum – das Konsumverhalten im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, StV 1994, S. 390 (392). 35 Zusammenfassend: Kotz/Oğlakcıoğlu, (Fn. 4), BtMG, § 31a Rn. 9. Ausführlich: Klingner, Für einen rationalen Umgang mit Drogenkonsumenten - Zur Umsetzung des § 31a BtMG durch eine bundeseinheitliche Richtlinie, NJW 1994, S. 2977 (2978) und Lehmann/Exner, Cannabisprobleme in Ost und West – Zur Lage nach dem Haschisch -Beschluß des BVerfG, NJ 1995, S. 173 (176f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 196/19 Seite 7 Bundesverfassungsgericht als verfassungsrechtlich bedenklich an. Darüber hinaus enthält die Cannabis-Entscheidung keine weiteren konkreten Vorgaben für die Einheitlichkeit der Ausgestaltung der Einstellungspraxis durch die Länder. 3.2. Entwicklung seit der „Cannabis-Entscheidung“ Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 entschieden, dass der Gesetzgeber abwarten dürfe, „ob der neugeschaffene, speziell auf Konsumentenvergehen im Betäubungsmittelrecht zugeschnittene Tatbestand des § 31a BtMG zu einer im wesentlichen gleichmäßigen Rechtsanwendung führt oder ob weitere gesetzliche Konkretisierungen der Einstellungsvoraussetzungen erforderlich sind.“36 Die in direkter Reaktion auf die Cannabis-Entscheidung durch die Länder erlassenen bzw. geänderten Richtlinien zur Einstellung nach § 31a BtMG wichen weiterhin voneinander ab. Insbesondere der Grenzwert der geringen Menge variierte zwischen 10g und 30g.37 Eine Einigung auf der Justizministerkonferenz schien aufgrund der unterschiedlichen Grundanschauungen zur Drogenpolitik nicht möglich.38 Eine Studie kam 1997 zu dem Ergebnis, dass trotz weiter bestehender beträchtlichen Unterschiede bei den Grenzwerten jedenfalls für Cannabisprodukte mit einem Bruttogewicht bis zu 10g von einer im Wesentlichen einheitlichen Rechtsanwendung auszugehen sei.39 2004 hielt das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss über die Unzulässigkeit einer Vorlage des AG Bernau die Ausführungen der „Cannabis-Entscheidung“ aufrecht.40 Das anfragende Gericht habe keine neuen Tatsachen vorgelegt, die ausgehend von der „Cannabis-Entscheidung“ eine abweichende Entscheidung ermöglichten.41 Insbesondere wären die Ausführungen des AG Bernau zu einer uneinheitlichen Einstellungspraxis „in sich widersprüchlich und daher nicht geeignet, die gesetzliche Konzeption in Zweifel zu ziehen.“42 Damit hat das Bundesverfassungsgericht trotz Gelegenheit die unterschiedliche Einstellungspraxis zumindest nicht beanstandet.43 Teilweise wird die Entscheidung so verstanden, dass das Bundesverfassungsgericht keinen Anlass zum Eingreifen gesehen hat, da sich eine Praxis entwickelt hat, die unter den Bedingungen 36 BVerfG, (Fn. 22), S. 1583. 37 Hellebrand, Machtwechsel in der Drogenpolitik?, ZRP 1997, S. 60 (64). 38 Hellebrand, (Fn. 37), S. 64. 39 Aulinger, (Fn. 23), S. 116 unter Verweis auf Aulinger, (Fn. 5), S. 321. Kurz dargestellt bei Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 64. 40 BVerfG, Beschluss vom 29. Juni 2004 – 2 BvL 8/02, NJW 2004, S. 3620 (3622). 41 BVerfG, (Fn. 40), S. 3621. 42 BVerfG, (Fn. 40), S. 3622. 43 Kotz/Rahlf, (Fn. 23), S. 194; Kotz/Oğlakcıoğlu, (Fn. 4), BtMG, § 31a Rn. 197 (Fn. 472); Schäfer/Paoli, (Fn. 20), S. 6; S. 393 ff.; Weber, (Fn. 6), § 31a Rn. 105. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 196/19 Seite 8 eines Bundesstaates dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit entspricht.44 Andere Stimmen wollen aus der Entscheidung nur bedingte Schlüsse ziehen, da diese lediglich die Unzulässigkeit der Vorlage betraf.45 Das Bundesverfassungsgericht bestätigte auch im Jahr 200546 und 200647 die Verfassungsmäßigkeit von § 29 BtMG ohne auf die unterschiedliche Einstellungspraxis einzugehen . Eine weitere Studie kam 2006 zu der Bewertung, dass jedenfalls bis zu einer Höchstmenge von 6g Cannabisprodukt eine weitgehend einheitliche Einstellungspraxis existiere.48 2008 haben sich die Bundesländer auf der Justizministerkonferenz – mit Ausnahme von Berlin und Nordrhein- Westfalen – darauf verständigt, bis zu einem Bruttogewicht von 6g von der Verfolgung abzusehen .49 Stimmen in der Literatur sprechen seitdem von einer weitgehenden Einigkeit bezüglich der Einstellung bei einem Bruttogewicht von bis zu 6g.50 2016 lehnte der Bayerische Verfassungsgerichtshof eine Vorlage der Vorschriften des BtMG an das Bundesverfassungsgericht mit der Begründung ab, die Strafbewehrung des Erwerbs und Besitzes von Cannabisprodukten zum Eigenverbrauch verstoße nach dem „Cannabis-Beschluss“ und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2004 nicht gegen das Übermaßverbot .51 Eine abweichende Bewertung auf Grund neuer Erkenntnisse dränge sich insoweit nicht auf. Die Justizministerkonferenz der Länder bestätigte 2018 ihren Standpunkt von 2008 erneut in ihrer Empfehlung an das Bundesministerium der Justiz.52 3.3. Bewertung der aktuellen Einstellungspraxis anhand der Vorgaben der Cannabis-Entscheidung Die Differenz zwischen den für die Einstellung in den einzelnen Bundesländern maßgeblichen Bruttogewichtsgrenzen hat sich seit der „Cannabis-Entscheidung“ stark verringert. Teilweise 44 Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 41; Weber, (Fn. 6), § 31a Rn. 105. 45 So Endriß, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 29 Juni 2004 – 2 BvL 8/02, StraFo 2004, S. 312 (312). 46 BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2005 – 2 BvR 1772/02, PharmR 2005, 374 (374f.). 47 BVerfG, (Fn. 20), Rn. 2; BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006 – 2 BvR 1163/06, juris Rn. 4. 48 Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 65 unter Verweis auf Schäfer/Paoli, (Fn. 20). 49 Kotz/Oğlakcıoğlu, (Fn. 4), BtMG, § 31a Rn. 9. Ausführlich: Patzak/Goldhausen, Die aktuellen Wirkstoffgehalte von Cannabis, NStZ 2011, S. 76 (78). 50 Noltensmeier, (Fn. 8), Kap. 5 Rn. 604. 51 BayVerfGH, Entscheidung vom 21.Januar 2016 – Vf. 66-IX-15, NVwZ-RR 2016, 321 (322). 52 Siehe https://www.justiz.nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/2018/Fruehjahrskonferenz_2018/II-21-BW---Geringe- Menge-im-Sinne-des-_-31a-BtMG.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 196/19 Seite 9 werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts damit als erfüllt angesehen.53 Die Länder müssten sich zwar auf ein einheitliches Grundkonzept bei den Einstellungen einigen. Die einzelnen Regelungen müssten aber nicht deckungsgleich sein. Ferner müssten diese die Unterschiede im Strafrahmen zwischen den einzelnen Ländern nicht vollends beseitigen.54 Die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den Ländern müssten beachtet werden.55 Andere Stimmen bewerten diese Differenz noch immer als zu groß, um die Einstellungspraxis bundesweit als „wesentlich gleich“ anzusehen.56 Zumindest „das Ziel, die Fälle des passiven Konsums überall gleich zu behandeln“, sei immer noch nicht ganz erreicht.57 Teilweise wurde auch explizit gefordert, dass Einigkeit darüber bestehen müsse, bis zu welcher Grenze eine geringe Menge anzunehmen sei.58 Bei einem Bruttogewicht des Cannabisprodukts bis zu 6g dürfte nunmehr eine bundesweit wesentlich gleiche Einstellungspraxis bezüglich § 31a BtMG bestehen. Sofern einige Bundesländer darüber hinaus auch bis 10 bzw. 15g die Möglichkeit der Einstellung nach § 31a BtMG eröffnen, führt dies jedenfalls nicht zur Verfassungswidrigkeit von § 31a oder § 29 BtMG, da das Übermaßverbot nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade gebietet, konsumbezogene Bagatellfälle (zumindest prozessual) unter bestimmten Umständen zu entkriminalisieren. Eine Mindestschwelle ab der die Strafbarkeit von Cannabiskonsum strafrechtlich verfolgt werden müsste, hat das Bundesverfassungsgericht gerade nicht aufgestellt. *** 53 Kotz/Oğlakcıoğlu, (Fn. 4), BtMG, § 31a Rn. 9; Weber, (Fn. 6), § 31a BtMG Rn. 105f. 54 Kreuzer, (Fn. 23), S. 2400f.; Patzak, (Fn. 1), § 31a Rn. 41. 55 Weber, (Fn. 6), § 31a BtMG Rn. 78. 56 Malek, (Fn. 4), Kap. 3 Rn. 253. 57 Heinrich/van Bergen, (Fn. 16), S. 326. 58 Lehmann/Exner, (Fn. 35), S. 176.