Deutscher Bundestag Beweisverwertung durch den Untersuchungsausschuss Besteht ein Beweisverwertungsverbot im Hinblick auf durch rechtmäßige Eingriffe in das Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis erlangte Erkenntnisse? Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 194/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 2 Beweisverwertung durch den Untersuchungsausschuss Besteht ein Beweisverwertungsverbot im Hinblick auf durch rechtmäßige Eingriffe in das Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis erlangte Erkenntnisse? Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 194/12 Abschluss der Arbeit: 4. September 2012 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Verbot der Beweiserhebung aus Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG 4 3. Verbot der Beweisverwertung aus Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG 5 3.1. Erneuter Eingriff 5 3.2. Reichweite der Verbotswirkung 6 3.2.1. Wortlaut 6 3.2.2. Systematik 7 3.2.3. Sinn und Zweck 8 3.2.4. Entstehungsgeschichte 9 3.3. Zwischenergebnis 10 4. Einzelfragen 11 5. Fazit 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 4 1. Einleitung Untersucht werden soll, ob aus Art. 44 Abs. 2 S. 2 des Grundgesetzes (GG)1 ein absolutes Beweisverwertungsverbot in Bezug auf rechtmäßig erhobene2 Erkenntnisse aus Eingriffen in das Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis folgt. Insbesondere wird die Frage aufgeworfen, ob dem Untersuchungsausschuss entsprechende Unterlagen vorgelegt werden dürfen und ob der Untersuchungsausschuss im Rahmen der Beweisaufnahme oder in der Berichterstellung auf Erkenntnisse aus Fernmeldeüberwachungsmaßnahmen zurückgreifen darf, die ihm von der zuständigen Behörde vorgelegt worden sind. Für den Fall, dass der Untersuchungsausschuss derartige Erkenntnisse nicht verwerten dürfte, wird ferner die praktische Frage aufgeworfen, ob das Sekretariat vor der Verteilung von Akten an die Ausschussmitglieder überprüfen müsste, ob diese Erkenntnisse aus Fernmeldeüberwachungsmaßnahmen enthalten, und ob bereits verteilte Akten mit derartigem Inhalt wieder zurückgefordert werden müssten. 2. Verbot der Beweiserhebung aus Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG Es ist zu differenzieren zwischen der Frage, inwieweit der Untersuchungsausschuss selbst Beweise erheben darf (Beweiserhebung), und der Frage, inwieweit er anderweitig erhobene Beweise verwerten darf (Beweisverwertung). Art. 44 Abs. 2 GG bestimmt für die Beweiserhebung durch den Untersuchungsausschuss: „Auf Beweiserhebungen finden die Vorschriften über den Strafprozess sinngemäß Anwendung. Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bleibt unberührt.“ Hieraus folgert die ganz überwiegende, wenn auch nicht einhellige Auffassung im Schrifttum, dass dem Untersuchungsausschuss jedenfalls unmittelbare Eingriffe in den Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 GG verwehrt sind.3 Die Gegenauffassung versteht den zweiten Satz des Art. 44 Abs. 2 GG als bloß klarstellenden Hinweis auf die Pflicht des Untersuchungsausschusses zur Beachtung des Art. 10 GG, misst dem Satz also lediglich deklaratorischen Charakter bei.4 Dem ist entgegenzuhalten, dass die Bindung des Untersuchungsausschusses an die Grundrechte und damit auch an Art. 10 GG bereits aus Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG folgt. Die Gegenauffassung vermag nicht zu erklären, warum gerade der Schutzbereich des Art. 10 GG deklaratorisch gesondert in Bezug genommen werden sollte , nicht aber der anderer Grundrechte. Der Regelungsgehalt des Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG kann sinnvollerweise nur im systematischen Zusammenhang mit Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG gesehen werden, nämlich dahingehend, dass die durch 1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 11. Juli 2012 (BGBl. I S. 1478) geändert worden ist. 2 Auf die Verwertung rechtswidrig erlangter Unterlagen, bspw. von Unterlagen des MfS, wird im Folgenden nicht eingegangen. Vgl. hierzu die Verweise bei Versteyl, in: von Münch, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 44 Rn. 44. 3 Für die herrschende Meinung etwa Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 64. Ergänzungslieferung 2012, Art. 44 Rn. 219; Morlok, in: Dreier, GG, Band 2, 2. Aufl. 2006, Art. 44 Rn. 52; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 44 Rn. 9; Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 15. Edition 2012, Art. 44 Rn. 55. 4 Vgl. Schneider, in: Denninger/Hoffmann-Riem, AK-GG, Band 2, 3. Aufl. 2001, Art. 44 Rn. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 5 Satz 1 vermittelten Befugnisse im Hinblick auf das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis nicht gelten sollen. Die befugnisbegründende Verweisung auf die Strafprozessordnung (StPO)5 in Satz 1 wird hinsichtlich dieser Schutzbereiche durch Satz 2 wieder beschränkt. Dies hat zur Folge , dass die entsprechenden Eingriffsbefugnisse, namentlich der §§ 99 ff. StPO, für den Untersuchungsausschuss unanwendbar sind.6 Art. 10 GG wird gewissermaßen gegen Eingriffe durch den Untersuchungsausschuss „immunisiert“.7 Diese überwiegende Sichtweise hat mittlerweile auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausdrücklich bestätigt.8 Danach besteht für den Untersuchungsausschuss ein Beweiserhebungsverbot hinsichtlich aller Beweiserhebungen, die in den Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 GG eingreifen. 3. Verbot der Beweisverwertung aus Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, ob Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG auch eine Verwertung von Erkenntnissen, die die zuständigen Behörden rechtmäßigerweise erlangt und dem Untersuchungsausschuss vorgelegt haben, ausschließt. 3.1. Erneuter Eingriff Die Kenntnisnahme von Akteninhalten, die Ergebnisse vorangegangener Eingriffe in den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG enthalten, durch den Untersuchungsausschuss stellt einen neuen Eingriff in das Grundrecht dar.9 Denn Art. 10 GG schützt nicht nur den überwachungsfreien Kommunikationsvorgang als solchen, er schützt gerade auch die Vertraulichkeit des jeweiligen Kommunikationsinhaltes.10 Daher stellt nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG jede Kenntnisnahme und Verwertung von kommunikativen Daten durch staatliche Stellen einen Eingriff dar.11 Dass Daten anderen staatlichen Stellen bereits bekannt sind, hindert nicht an der Annahme eines erneuten Eingriffs. Denn durch die Ausdehnung des Kreises der Kenntnisnehmer erweitert sich die Eingriffswirkung.12 Die Kenntnisnahme durch den Ausschuss ist also an Art. 10 GG zu messen und bedarf einer Eingriffsbefugnis. Diese wäre wiederum in Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG zu sehen, falls Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG diese Befugnis insoweit nicht ebenfalls einschränkt, Art. 10 GG also auch hinsichtlich einer Zweitverwertung der Erkenntnisse „immunisiert“. 5 Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 21. Juli 2012 (BGBl. I S. 1566) geändert worden ist. 6 Vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 44 Rn. 9. 7 Vgl. Maunz/Dürig, GG, 64. Ergänzungslieferung 2012, Art. 44 Rn. 219. 8 BVerfGE 124, 78 (126 f.). 9 Hamburgisches VerfG, Urteil vom 26.04.1988, DÖV 1989, 119 (120); LG Kiel, Beschluss vom 9.8.1995 - 37 Os 69/95, NJW 1996, 1976. 10 BVerfGE 67, 157 (172). 11 BVerfGE 85, 386 (398). 12 BVerfGE 124, 78 (127). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 6 3.2. Reichweite der Verbotswirkung Ob Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG auch einen solchen „Zweiteingriff“ in Art. 10 GG in Gestalt einer Verwertung rechtmäßig erlangter Erkenntnisse durch den Untersuchungsausschuss ausschließen soll (Beweisverwertungsverbot), ist durch Auslegung zu ermitteln. In der Literatur ist diese Frage umstritten .13 3.2.1. Wortlaut Der Wortlaut der Vorschrift, nach dem die geschützten Grundrechte „unberührt“ bleiben, ist zunächst weder für die eine noch für die andere Auslegungsvariante zwingend. Ein Teil der Rechtsprechung und der Literatur vertritt, der Wortlaut spreche für ein umfassendes Verbot von Eingriffen und damit auch von Zweiteingriffen in Art. 10 GG in Gestalt einer Überlassung von Abhörprotokollen und Verbindungsdaten an den Untersuchungsausschuss.14 Entsprechend stelle § 18 Abs. 1 PUAG die Pflicht der Behörden auf Herausgabe von Akten und anderen Beweismitteln unter einen verfassungsrechtlichen Vorbehalt.15 Zwingend ist ein solches Verständnis jedoch nicht. Auch eine Auslegung des Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG, der zufolge nur unmittelbare Eingriffe durch den Untersuchungsausschuss selbst in Form eines Beweiserhebungsverbotes umfasst sind, wäre mit dem Wortlaut der Norm vereinbar. Denn der Anspruch des Untersuchungsausschusses auf Aktenherausgabe ergibt sich, wie das BVerfG im Flick-Urteil betont hat, bereits aus Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG.16 Auch bezieht sich § 18 Abs.1 PUAG wohl eher auf die von der Verfassungsrechtsprechung entwickelten verfassungsrechtlichen Grenzen, wie der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung oder die Gefährdung des Staatswohls.17 Vor diesem Hintergrund erscheint eine Auslegung, nach der die Einschränkung des Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG nur auf unmittelbare Grundrechtseingriffe durch den Ausschuss bezogen ist, mindestens ebenso vertretbar. 13 Für ein umfassendes Verwertungsverbot etwa Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 64. Ergänzungslieferung 2012, Art. 44 Rn. 221; Versteyl, in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 44 Rn. 44, je m.w.N.; gegen ein Verwertungsverbot Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 44 Rn. 9; LG Kiel, Beschluss vom 9.8.1995 - 37 Os 69/95, NJW 1996, 1976; Damann, Nutzung der Stasi-Funkaufklärung durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse , NJW 1996, 1946 (beide für rechtswidrige Aufzeichnungen); differenzierend Brocker, in: Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 2. Aufl. 2011, § 15 Rn. 9. 14 Für den damaligen gleichlautenden Art. 25 Abs. 2 S. 2 (jetzt Art. 26) der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg Hamburgisches VerfG, Urteil vom 26.04.1988, DÖV 1989, 119 (120); Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 15. Edition 2012, Art. 44 Rn. 55; im Ergebnis differenzierend Brocker, in: Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 2. Aufl. 2011, § 15 Rn. 9. 15 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 64. Ergänzungslieferung 2012, Art. 44 Rn. 221. 16 BVerfGE 67, 100 (128 ff.), zuletzt bestätigt in BVerfGE 124, 78 (126). 17 S. hierzu Glauben in: Glauben/Brocker, PUAG Kommentar, 1. Aufl. 2011, § 18 Rn. 10 ff., der in seiner Kommentierung auf die Problematik des Art. 10 GG gar nicht eingeht. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 7 3.2.2. Systematik Anhaltspunkte liefert hingegen die Systematik des Art. 44 GG. Eine systematische Auslegung der Vorschrift legt nahe, dass diese nur unmittelbare Eingriffe durch den Ausschuss ausschließen will. Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG begrenzt die befugnisbegründende Bestimmung des Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG, nach der grundsätzlich die Eingriffsbefugnisse der StPO für die Beweiserhebung entsprechende Anwendung finden. Der Aktenherausgabeanspruch gegenüber der Bundesregierung und nachgeordneten Behörden folgt aber, wie erwähnt, bereits aus Art. 44 Abs. 1 GG.18 Insoweit hat bereits diese Bestimmung und nicht erst Art. 44 Abs. 2 GG befugnisbegründende Wirkung. Für das Aktenherausgabeverlangen gegenüber staatlichen Stellen bedarf es der sinngemäßen Anwendung der strafprozessualen Eingriffsbefugnisse auch gar nicht, da diese keine Grundrechtsträger sind.19 Dann aber spricht aus systematischer Sicht einiges dafür, dass Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG nicht Absatz 1, sondern nur Satz 1 des Absatzes 2 und damit nur die eigene, unmittelbare Beweiserhebung durch den Ausschuss selbst beschränken soll. Diese Sichtweise liegt auch einer Entscheidung des BVerfG von 2009 zugrunde. Darin wird ausgeführt , dass Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG den Untersuchungsausschuss mit den Zwangsmitteln der StPO ausstatte und sich „hierauf“ (also gerade nicht auf Absatz 1) die in Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG vorgesehene Einschränkung beziehe.20 Diese Einschränkung bedeute, dass einem Untersuchungsausschuss „die Möglichkeiten des unmittelbaren Eingriffs in die Grundrechte aus Art. 10 GG […] nicht zur Verfügung stehen“.21 Diesen Formulierungen ist zu entnehmen, dass das BVerfG die Kenntnisnahme von Akteninhalten , die Erkenntnisse aus entsprechenden Überwachungsmaßnahmen enthalten, als von Art. 44 Abs. 1 GG gedeckt und als mittelbaren Eingriff gerade nicht durch Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG ausgeschlossen betrachtet. In Übereinstimmung mit diesem Befund stellt das Gericht weiter ausdrücklich klar, dass dem Ausschuss „aber nicht jeglicher Zugriff auf Akten prinzipiell schon dann verwehrt [ist], wenn sich in den Akten Ergebnisse vorausgegangener Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 10 GG finden und die Kenntnisnahme seitens des Untersuchungsausschusses einen neuen Eingriff darstellen würde“. Im Anschluss geht das Gericht auf die Frage der Verwertbarkeit von durch die zuständigen Behörden rechtswidrig erlangten Erkenntnissen ein. Das BVerfG legt zugunsten des Untersuchungsausschusses einen großzügigeren als den sonst im Strafverfahrensrecht geltenden Maßstab an, wonach selbst rechtswidrig erlangte Erkenntnisse, hinsichtlich derer ansonsten ein Verwertungsverbot besteht, für einen Untersuchungsausschuss verwertbar sein sollen. Hierfür spricht, wie das Gericht selbst andeutet, auch der Gesichtspunkt präventiver Vermeidung künftiger Rechtsverstöße . Während mit diesem Gesichtspunkt generell Verwertungsverbote begründet werden, um die Behörden zu rechtskonformem Verhalten zu motivieren und einen etwaigen Nutzen des 18 BVerfGE 67, 100 (128 ff.); 124, 78 (126). 19 Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG kann insoweit allerdings befugnisbegrenzende Wirkung entfalten, vgl. BVerfGE 76, 363 (387), was insbesondere in Verbindung mit § 96 StPO der Fall ist. 20 BVerfGE 124, 78 (126). 21 BVerfGE 124, 78 (127), Hervorhebung d. Verf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 8 Rechtsverstoßes entfallen zu lassen, gilt im Fall des Untersuchungsausschusses angesichts der Aufklärungsfunktion gerade Gegenteiliges: Hier kann der Gesichtspunkt der Prävention gerade für eine Verwertbarkeit sprechen. 3.2.3. Sinn und Zweck Dieses Ergebnis wird auch durch eine an Sinn und Zweck der Vorschrift orientierte teleologische Auslegung gestützt. Sinn des Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG ist eine – aus welchen Beweggründen auch immer erfolgte – Privilegierung des Art. 10 GG gegenüber anderen Grundrechten im Rahmen des Untersuchungsausschussrechts. Dieser Normzweck steht in einem natürlichen Spannungsverhältnis mit dem übergeordneten Grundsatz wirksamer parlamentarischer Kontrolle. Wie das BVerfG mehrfach betont hat, gebietet der Gewaltenteilungsgrundsatz im Hinblick auf die starke Stellung der Regierung eine Auslegung des Grundgesetzes dahingehend, dass parlamentarische Kontrolle wirksam sein kann.22 Dürften dem Untersuchungsausschuss keine Akten zugänglich gemacht werden, die Erkenntnisse aus rechtmäßigen Eingriffen in Art. 10 GG enthalten, so wäre dieses Wirksamkeitspostulat empfindlich eingeschränkt. Gerade angesichts möglicher Fernwirkungen behördlicher Erkenntnisse in den Akten besteht die Gefahr, dass dem Untersuchungsausschuss umfangreiches Untersuchungsmaterial vorenthalten würde, und dies, ohne dass er die Entscheidungsgrundlage überprüfen könnte. Das Enquêterecht würde entscheidend geschwächt, wenn Behörden stets unter Berufung auf etwaige Fernwirkungen von Erkenntnissen aus Eingriffen in Art. 10 GG die Aktenvorlage verweigern könnten. Das Recht auf Aktenvorlage aber gehört zum Wesenskern des Untersuchungsrechts .23 Selbst wenn die Akten dem Untersuchungsausschuss vorgelegt würden, er die fraglichen Erkenntnisse aber nicht verwerten dürfte, würde die Wirksamkeit des Untersuchungsrechts empfindlich geschwächt. Denn in diesem Fall obläge es dem Ausschusssekretariat, die betroffenen Erkenntnisse (einschließlich ihrer Fernwirkungen) aus den Akten auszusortieren, was schon inhaltlich schwierig, organisatorisch und zeitlich aber kaum leistbar sein dürfte. Vor allem aber spricht aus teleologischer Sicht gegen eine derartige Restriktion, dass eine Missstandsenquête gerade auf eine bestimmte Behördenpraxis bei Überwachungsmaßnahmen gerichtet sein kann. Es wäre dem Untersuchungsausschuss faktisch unmöglich, etwaige systematische Rechtsbrüche im Zusammenhang mit Eingriffen in Art. 10 GG zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, wenn ihm in diesem Bereich keine Akten betreffend Überwachungsmaßnahmen vorgelegt werden dürften. Einen derart zentralen und grundrechtssensiblen Bereich der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen, kann nicht Sinn des Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG sein. Dem mit der Bestimmung offensichtlich intendierten stärkeren Schutz des Grundrechts dient es vielmehr gerade , auch in diesem Bereich das Handeln der Exekutive einer umfassenden parlamentarischen Kontrolle zugänglich zu machen. Der Sinn und Zweck der Privilegierung dürfte das Recht des Untersuchungsausschusses auf eine Zweitverwertung der erlangten Erkenntnisse also geradezu gebieten. Dies entspricht der bereits erwähnten Argumentation des BVerfG im jüngsten Urteil, nach der der Präventionsgedanke, der ansonsten für ein Beweisverwertungsverbot streitet, zu- 22 BVerfGE 67, 100 (130); 124, 78 (121). 23 BVerfGE 67, 100 (132); 124, 78 (116 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 9 gunsten von Untersuchungsausschüssen gerade umgekehrte Wirkung entfaltet.24 Auch nach Ansicht einiger Stimmen in der Literatur25 schließe Art. 44 Abs. 2 S.2 GG die Beweisverwertung von rechtswidrig erhobenen Erkenntnissen aus Eingriffen in Art. 10 GG zwar grundsätzlich aus. Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG enthalte aber eine normimmanente Schranke dergestalt, dass dieser Ausschluss nicht in Fällen gelte, in denen die Kenntnisnahme und Verwertung von durch Überwachungsmaßnahmen erlangten Daten für den Untersuchungsausschuss geradezu zwingende Voraussetzung für die Erfüllung des Untersuchungsauftrages sei. Insbesondere wenn das Ziel die Aufdeckung von Rechtsverstößen gerade bei der Durchführung solcher Überwachungsmaßnahmen sei, müssten dem Untersuchungsausschuss diese Daten zugänglich sein. Denn nur dann sei dem Ausschuss die effektive Klärung und Beurteilung der Verantwortlichkeit möglich. Auch eine teleologische Auslegung des Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG spricht nach alledem dafür, dass den Untersuchungsausschüssen zumindest dann, wenn ihr Untersuchungsauftrag auch die Durchführung von Überwachungsmaßnahmen nach Art. 10 GG betreffen, die Verwertung von durch die zuständigen Behörden rechtmäßig erlangten Erkenntnissen aus diesen Überwachungsmaßnahmen möglich sein muss. 3.2.4. Entstehungsgeschichte Es sind schließlich auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Parlamentarische Rat Art. 10 GG so weitreichend privilegieren wollte, dass dessen Schutzbereich völlig unantastbar gegenüber den Tätigkeiten des Untersuchungsausschusses gestellt würde. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass den Beratungen des Parlamentarischen Rates ein von heutiger Grundrechtsdogmatik abweichendes Eingriffsverständnis zugrundelag. Nach dem damaligen „klassischen“ Eingriffsbegriff galten nur final und unmittelbar auf Grundrechtsbeeinträchtigungen zielende und mit Befehl und Zwang durchsetzbare staatliche Akte als Eingriffe. Die bloße Zweitkenntnisnahme von Überwachungsprotokollen durch den Ausschuss wäre nach damaliger Grundrechtsdogmatik kaum als Eingriff gewertet worden. Insoweit dürfte sich auch die Frage einer Erstreckung des Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG auf Zweitverwertungen überhaupt nicht gestellt haben . Es liegt vielmehr nahe, dass es dem Untersuchungsausschuss lediglich verwehrt werden sollte, selbst Überwachungsmaßnahmen anzuordnen. Denn dies entspricht auch den jeweiligen Funktionen der Staatsgewalten: Die Exekutive nimmt im Einzelfall grundrechtsrelevante Eingriffe gegenüber dem Bürger vor, während die Legislative hierfür den Rahmen setzt und die Exekutive kontrolliert. Dass Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG nicht den Anspruch des Untersuchungsausschusses auf Aktenvorlage einschränken soll, erhellt auch aus einem Vergleich mit der Vorgängerfassung des Art. 44 GG im Herrenchiemsee-Entwurf (HChE). Art. 57 Abs. 2 HChE lautete: 24 Vgl. BVerfGE 124, 78 (127). 25 Brocker, in: Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern , 2011, § 15 Rn. 9 mit Verweis auf Lucke, Strafprozessuale Schutzrechte und parlamentarische Aufklärung in Untersuchungsausschüssen mit strafrechtlich relevantem Verfahrensgegenstand, 2009, S. 378. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 10 (2) 1Der Untersuchungsausschuß und die von ihm ersuchten Behörden können in entsprechender Anwendung der Strafprozeßordnung die erforderlichen Beweise erheben, auch Zeugen und Sachverständige vorladen, vernehmen, beeidigen und das Zwangsverfahren gegen sie durchführen. 2Das Postgeheimnis bleibt unberührt. 3Die Gerichtsund Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, einem Ersuchen des Ausschusses um Beweiserhebung, Beweissicherung , Auskunft oder Aktenvorlage Folge zu leisten. Absatz 2 Satz 2 bestimmt wie die heutige Formulierung in Art. 44 Abs. 2 GG, dass das Postgeheimnis „unberührt“ bleibt. Die Satzstellung verdeutlicht, dass damit nur das eigenständige Beweiserhebungsrecht des Ausschusses, wie es Satz 1 regelt, beschränkt werden sollte. Den Anspruch auf Aktenvorlage regelte erst Satz 3, auf dessen Regelungsgehalt sich Satz 2 ersichtlich nicht bezog. Satz 3 erhielt im weiteren Verlauf der Beratungen im Parlamentarischen Rat zwischenzeitlich die Fassung „Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, einem Ersuchen des Ausschusses um Aktenvorlage und Rechtshilfe Folge zu leisten“. Im Allgemeinen Redaktionsausschuss, über dessen Erörterungen keine Protokolle vorhanden sind, kam schließlich die heute als Art. 44 Abs. 3 GG gültige Formulierung zustande: „Gerichte und Verwaltungsbehörden sind zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet.“ Sinn dieser redaktionellen Änderung, die schließlich ohne Aussprache vom Parlamentarischen Rat angenommen wurde, war es nicht, die Befugnisse des Untersuchungsausschusses einzuschränken.26 Das Recht zur Aktenvorlage wurde vielmehr für selbstverständlich gehalten. Angesichts dieser Entstehungsgeschichte kann nicht davon ausgegangen werden, dass die unberührt bleibenden Grundrechte den Aktenvorlageanspruch einschränken sollten. 3.3. Zwischenergebnis Während sich dem Wortlaut des Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG keine eindeutigen Festlegungen entnehmen lassen, sprechen systematische, teleologische und historische Gründe gegen eine Auslegung der Norm, die dem Untersuchungsausschuss eine Zweitverwertung rechtmäßig erlangter Überwachungserkenntnisse verwehrt. Eine systematische, teleologische und entstehungsgeschichtliche Auslegung der Bestimmung ergibt vielmehr, dass eine solche Verwertung durch den Untersuchungsausschuss zumindest zulässig ist, soweit der Untersuchungsauftrag im Rahmen einer Missstandsenquête auch die Durchführung entsprechender Maßnahmen betrifft. Ein Teil der Literatur versteht den Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG zwar im Sinne eines umfassenden Beweisverwertungsverbotes .27 Diese Auffassung stützt sich aber letztlich nur auf den Wortlaut der Vorschrift, nach dem die Verfassung das Post- und Fernmeldegeheimnis generell höher werte als den Untersuchungsauftrag des Parlaments.28 Eine solche Wertung widerspräche aber gerade der besonderen Bedeutung der parlamentarischen Kontrolle auch für den Grundrechtsschutz in diesem Bereich. Das hier gefundene Ergebnis wird zudem durch die bereits zitierte Entscheidung des BVerfG von 26 BVerfGE 67, 100 (132). 27 Vgl. insbesondere Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 64. Ergänzungslieferung 2012, Art. 44 Rn. 221; Achterberg /Schulte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 44 Abs. 2, Rn. 173; Magiera, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 44 Rn. 24; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 44 Rn. 52. 28 Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 44 Rn. 52. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 11 2009 gestützt.29 Auch Stimmen der jüngeren Literatur entsprechen vermehrt der hier vertretenen vermittelnden Auffassung.30 4. Einzelfragen Bei dieser Verwertung ist der Untersuchungsausschuss allerdings an die fallbezogene Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gebunden. Denn die Tatsache, dass Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG kein Verwertungsverbot enthält, dispensiert den Untersuchungsausschuss nicht von der Pflicht, die dem Art. 10 GG immanenten Schranken-Schranken zu beachten, insbesondere nur verhältnismäßige Eingriffe vorzunehmen. Daher muss im Einzelfall abgewogen werden, ob die Verwertung gerechtfertigt ist. Jede Verbreitung der erlangten Erkenntnisse stellt eine Vertiefung des Eingriffes in die betroffenen Grundrechte dar. Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses haben daher dafür Sorge zu tragen, dass keine Weitergabe der Erkenntnisse erfolgt. Dies gilt angesichts der Gefahr unkontrollierter Verbreitung insbesondere bei digitalisierten Akten. Die Wahrung der Verhältnismäßigkeit kann es zudem gebieten, von entsprechenden Vorschriften zur Geheimhaltung bzw. zum Ausschluss der Öffentlichkeit bei Verlesung entsprechender Akten oder Verwertung entsprechender Erkenntnisse Gebrauch zu machen.31 Insbesondere kommen bei tiefgehenden Eingriffen in die Privatsphäre oder gar Intimsphäre der Betroffenen – soweit es sich hierbei überhaupt noch um rechtmäßig erlangte Beweismittel handelt – auch eine Schwärzung personenbezogener Passagen oder eine Anonymisierung in Betracht. In die gebotene Abwägung ist, wie das BVerfG betont, allerdings auch die besondere Bedeutung der Öffentlichkeit für die parlamentarische Aufklärung einzustellen.32 5. Fazit Aus Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG folgt nach alledem kein absolutes Beweisverwertungsverbot in Bezug auf durch rechtmäßige Eingriffe in das Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis erlangte Erkenntnisse . Dem Untersuchungsausschuss dürfen Unterlagen jedenfalls dann vorgelegt werden, wenn derartige Erkenntnisse Gegenstand des Untersuchungsauftrages sind. Der Ausschuss darf dann zu Zwecken der Beweisaufnahme oder der Berichterstellung auch grundsätzlich auf Erkenntnisse aus entsprechenden Überwachungsmaßnahmen zurückgreifen. Bei der Verwertung rechtmäßig erlangter Erkenntnisse, die aus einem Eingriff in das Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis resul- 29 BVerfGE 124, 78 (126 f.). 30 So insbesondere Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 44 Rn. 9, der unter Bezugnahme auf BVerf GE 124, 78 (127 f.) in der Bestimmung „kein Verwertungsverbot“ sieht; auch Bergmann, in: Seifert/Hömig, GG, 9. Aufl. 2010, Art. 44 Rn. 9, meint, das BVerfG verwehre dem Untersuchungsausschuss „mit Recht“ nicht jeden Zugriff auf Akten, die Erkenntnisse aus Eingriffen in Art. 10 GG enthalten; ebenfalls mit Blick auf diese Rechtsprechung sieht Brocker, in: Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 2011, § 15 Rn. 9, eine normimmanente Schranke des Verwertungsverbots. 31 Vgl. insbesondere §§ 14 und 15 des Untersuchungsausschussgesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl. I S. 1142), das durch Artikel 4 Absatz 1 des Gesetzes vom 5. Mai 2004 (BGBl. I S. 718) geändert worden ist, sowie die Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages (Anlage 3 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, BGBl. I 1980, 1237) vom 25. Juni 1980 (BGBl. I S. 1237, 1256), die durch die Bekanntmachung vom 30. Mai 2001 (BGBl. I S. 1203) geändert worden ist. 32 BVerfGE 124, 78 (125 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 194/12 Seite 12 tieren, ist jedoch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dieser kann eine Anonymisierung der Akten oder auch deren Einstufung in einen Geheimhaltungsgrad durch den Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses gebieten.