© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 190/20 Verfassungsrechtliche Fragen zu Vorsorgeuntersuchungen bei Jugendlichen und Drogentests Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 2 Verfassungsrechtliche Frage zu Vorsorgeuntersuchungen bei Jugendlichen und Drogentests Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 190/20 Abschluss der Arbeit: 7. September 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Teilnahme an Jugenduntersuchung als Voraussetzung für Kindergeld 4 2.1. Begriff, Inhalt Regelungen der Jugenduntersuchungen J1 und J2 4 2.2. Geltendes Kindergeldrecht und verfassungsgerichtliche Vorgaben 5 2.3. Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Regelung der Teilnahme an Jugenduntersuchungen als Voraussetzung für die Fortzahlung des Kindergeldes 7 2.3.1. Gesetzgebungskompetenz für die Jugenduntersuchungen 7 2.3.2. Gesetzgebungskompetenz für das Kindergeld 8 2.4. Vereinbarkeit mit den Grundrechten und sonstigem Verfassungsrecht 8 2.4.1. Verfassungsmäßigkeit eines vollständigen Wegfalls des Kindergeldes 9 2.4.1.1. Gebot zur Sicherung des Existenzminimums 9 2.4.1.2. Allgemeiner Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG (in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG) 10 2.4.2. Verfassungsmäßigkeit verbindlicher Jugenduntersuchungen 11 2.4.2.1. Allgemeines Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG 11 2.4.2.1.1. Schutzbereich 11 2.4.2.1.2. Eingriff 11 2.4.2.1.3. Rechtfertigung 11 2.4.2.2. Elterliches Erziehungsrecht, Art. 6 Abs. 2 GG 13 3. Drogentest als Bestandteil der Jugenduntersuchungen 13 3.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes 14 3.2. Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG 14 3.2.1. Eingriff in den Schutzbereich 14 3.2.2. Rechtfertigung 14 3.3. Recht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG 17 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 4 1. Fragestellung Die Ausarbeitung befasst sich mit unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Aspekten in Bezug auf die Jugendgesundheit und Drogentests bei Jugendlichen. Gefragt wurde, ob zwei verschiedene Ideen einer Regelung durch den Bundesgesetzgeber zugänglich wären. Untersucht wird zunächst, ob es möglich ist, die Teilnahme an den Jugenduntersuchungen J1 und J2 zur Voraussetzung für die Fortzahlung des Kindergeldes zu machen. Im Anschluss daran geht die Ausarbeitung darauf ein, ob ein Drogentest zum festen Inhalt der J1- und J2-Untersuchung gemacht werden kann. 2. Teilnahme an Jugenduntersuchung als Voraussetzung für Kindergeld 2.1. Begriff, Inhalt Regelungen der Jugenduntersuchungen J1 und J2 Die Jugendgesundheitsuntersuchungen J1 und J2 werden durch einen Arzt der Kinder- und Jugendmedizin oder durch einen Allgemeinmediziner der eigenen Wahl durchgeführt. Die Jugenduntersuchungen schließen die Lücke zwischen den Früherkennungsuntersuchungen für Kinder (U1 bis U9) und den allgemeinen Vorsorgeuntersuchungen für Erwachsene. Die J1 findet im Alter zwischen 12 und 14 Jahren statt, die J2 im Alter zwischen 16 und 17 Jahren. Dabei werden unter anderem die Organe und das Skelett untersucht sowie Körpergröße und Blutdruck ermittelt. Auch der Impfstatus wird überprüft. Zudem wird ein vertrauliches Gespräch über die seelische und schulische Entwicklung sowie den Konsum von Suchtmitteln und eine gesunde Lebensweise geführt.1 Die J1-Untersuchung ist entsprechend § 26 Abs. 2 S. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V)2 durch eine Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses näher geregelt.3 Die J2-Untersuchung ist dagegen in den Richtlinien nicht vorgesehen. Sie wird von einigen Krankenkassen als Satzungsleistung freiwillig erbracht;4 anders als für die J1-Untersuchung übernehmen daher nicht alle Krankenkassen die Kosten für die J2-Untersuchung. Bisher bestehen keine Regelungen auf Bundesebene, die zur Teilnahme an den Jugendvorsorgeuntersuchungen verpflichten bzw. negative Konsequenzen an die Nichtteilnahme knüpfen. 1 Kingreen, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, 7. Auflage 2020, § 26 Rn. 3; Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Jugendgesundheitsuntersuchung in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. August 1998, zuletzt geändert am 21. Juli 2016 (BAnz AT 12.10.2016 B4), abrufbar unter: https://www.g-ba.de/downloads/62-492-1270/RL-JUG_2016-07-21_iK-2017-01-01.pdf (letzter Abruf 7. September 2020). 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (Art. 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482), zuletzt geändert durch Art. 311 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328). 3 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Jugendgesundheitsuntersuchung in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. August 1998, zuletzt geändert am 21. Juli 2016 (BAnz AT 12.10.2016 B4), (Fn. 1). 4 Kingreen, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, 7. Auflage 2020, § 26 Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 5 Auf Landesebene ist in den Schulgesetzen der Länder eine verpflichtende Schuleingangsuntersuchung vorgesehen.5 Weitere Vorsorgeuntersuchungen sind lediglich in Hessen, Bayern und Baden- Württemberg verpflichtend.6 Bayern knüpfte darüber hinaus den Bezug des Landeserziehungsgeldes an die Teilnahme an bestimmten Vorsorgeuntersuchungen.7 2.2. Geltendes Kindergeldrecht und verfassungsgerichtliche Vorgaben Die Leitplanken des geltenden Kindergeldrechts wurden durch das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zum sog. Familienleistungsausgleich gesetzt.8 Die in Beschlüssen vom 29. Mai 1990 und 12. Juni 19909 sowie folgenden Entscheidungen10 festgelegten Maßstäbe haben große Bedeutung für die gegenwärtige Gestalt und jede künftige Änderung des Kindergeldrechts. Nach dem Bundesverfassungsgericht muss der Staat das Einkommen eines Steuerpflichtigen insoweit steuerfrei belassen, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein, das heißt zur Sicherung seines Existenzminimums, benötigt wird, Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 1 GG. Unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG folge daraus, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder, also auch der Kinder, steuerfrei bleiben müsse.11 So müssten Familien von den Aufwendungen für die Kindererziehung entlastet werden. Die Höhe des Kinderexistenzminimums könne sich an der Höhe des allgemeinen sozialhilferechtlichen Existenzminimums orientieren. Es dürfe den sozialhilferechtlichen Mindestbedarf jedenfalls nicht 5 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Einführung verpflichtender Kindervorsorgeuntersuchungen?, 14. Februar 2019, WD 3 - 3000 - 013/19, S. 5. 6 Die Teilnahmepflicht in Hessen ist auf die Vorsorgeuntersuchungen für Kinder (U1 bis U9) beschränkt und umfasst damit nicht die J1-Untersuchung, vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 Kindergesundheitsschutz-Gesetz vom 14. Dezember 2007 (GVBl. I S. 856), zuletzt geändert durch Art. 1 G zur Änd. des KindergesundheitsschutzG und zur Aufhebung der VO zur Bestimmung des Hessischen Kindervorsorgezentrums vom 18.12.2017 (GVBl. S. 469). Ausführlich zum Ganzen: Netzer, Zulässigkeit ärztlicher Pflichtbehandlungen an Kindern, 2011; vgl. zur Übersicht Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Einführung verpflichtender Kindervorsorgeuntersuchungen?, 14. Februar 2019, WD 3 - 3000 - 013/19, S. 5 f. 7 Art. 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Gesetz zur Neuordnung des Bayerischen Landeserziehungsgeldes (Bayerisches Landeserziehungsgeldgesetz - BayLErzGG) vom 9. Juli 2007 (GVBl. S. 442), zuletzt geändert durch § 1 Abs. 173 der Verordnung vom 26. März 2019 (GVBl. S. 98). Seit der Überführung der Leistungen in das Familiengeld durch das Bayerische Familiengeldgesetz vom 24. Juli 2018 (GVBl. S. 613, 622, BayRS 2170-7-A) ist eine solche Bindung nicht mehr vorgesehen. 8 Vgl. zur Entwicklung des Kindergeldrechts auch Wissenschaftliche Dienste des Bundestags, Gründe für die Überführung der Kindergeldvorschriften in das Einkommensteuergesetz, 19. Juni 2017, WD 4 - 3000 - 057/17, S. 4-6. 9 BVerfGE 82, 60 und BVerfGE 82, 198. 10 Vor allem BVerfGE 87, 153; BVerfGE 89, 346; BVerfGE 91, 93; BVerfGE 99, 216; BVerfGE 99, 246. 11 „Der Betreuungsbedarf muß als notwendiger Bestandteil des familiären Existenzminimums (…) einkommensteuerlich unbelastet bleiben, ohne daß danach unterschieden werden dürfte, in welcher Weise dieser Bedarf gedeckt wird.“, BVerfGE 82, 60 (85). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 6 unterschreiten.12 Auch Bezieher höherer Einkommen müssten für die Aufwendungen für die Kindererziehung sachgerecht entlastet werden, weshalb auch bei ihnen das Existenzminimum des Kindes steuerfrei zu stellen ist.13 Der gebotene Ausgleich könne rein steuerrechtlich (Freibetrag), rein sozialrechtlich (Zahlung von Kindergeld) oder durch eine Kombination beider Modelle geschehen .14 Der Gesetzgeber hat mit der Reform des Jahres 199615 in Reaktion auf die Rechtsprechung den Familienleistungsausgleich im Einkommenssteuergesetz (EStG)16 neu geordnet. Dabei wurde die komplexe Kombination von steuerrechtlichem und sozialrechtlichem Modell gewählt.17 Im seitdem bestehenden System wird die steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes (sogenanntes steuerrechtliches Kindergeld) vollständig entweder durch einen Freibetrag nach § 32 Abs. 6 EStG (Kinderfreibetrag) oder durch das Kindergeld nach den §§ 62 bis 78 EStG geleistet, § 31 S. 1 EStG. Im Rahmen einer sogenannten Günstigerprüfung vergleichen die Finanzbehörden nach Ablauf des Kalenderjahres, ob die Gewährung des Kinderfreibetrages oder die Auszahlung des Kindergeldes für den Steuerpflichtigen günstiger ist. Ist die Steuerersparnis höher als das Kindergeld, bewirken die Freibeträge die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums.18 Ist die Steuerersparnis niedriger als der Kindergeldanspruch, entfällt der Anspruch auf die Freibeträge . In diesem Fall behält der Steuerpflichtige das gezahlte Kindergeld jedoch vollständig; der die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums übersteigende Betrag muss nicht zurückgezahlt werden. Er dient allgemein der Familienförderung und ist insoweit eine Sozialleistung, die der Abmilderung kindesbedingter Belastungen dient.19 Neben dem steuerrechtlichen Kindergeld steht ergänzend das sog. sozialrechtliche Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKKG).20 Dort sind Kindergeldansprüche von Eltern geregelt, 12 Vgl. BVerfGE 87, 153 (170 f). 13 Vgl. BVerfGE 99, 246 (264) m.w.N. 14 BVerfGE 82, 60 (84). 15 Jahressteuergesetz 1996, BGBl. I vom 20. Oktober 1995, S. 1250. 16 Einkommensteuergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Oktober 2009 (BGBl. I S. 3366, 3862), zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes vom 12. August 2020 (BGBl. I S. 1879). 17 Kaiser-Plessow, Funktion des Kindergelds, Familie Partnerschaft Recht (FÜR) 2003, S. 39 (S. 41). 18 Wissenschaftliche Dienste des Bundestags, Vereinbarkeit einer Indexierung von Kindergeldzahlung an EU-Ausländer mit dem Familienleistungsausgleich nach Einkommensteuergesetz, 1. März 2016, WD 4 - 3000 - 027/16, S. 4. 19 Vgl. BVerfGE 45, 104 (131). 20 Bundeskindergeldgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. Januar 2009 (BGBl. I S. 142, 3177), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 29. Juni 2020 (BGBl. I S. 1512). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 7 die wegen Bestehens lediglich beschränkter Einkommensteuerpflicht keinen Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG geltend machen können, aber wegen der gebotenen Förderung der Familie gleichwohl Kindergeld erhalten sollen.21 2.3. Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Regelung der Teilnahme an Jugenduntersuchungen als Voraussetzung für die Fortzahlung des Kindergeldes 2.3.1. Gesetzgebungskompetenz für die Jugenduntersuchungen Die Gesetzgebungskompetenz steht so lange den Ländern zu, wie das Grundgesetz für den Bund keine Gesetzgebungskompetenz regelt, Art. 70 Abs. 1 GG. Zu prüfen ist zunächst, ob dem Bund im Bereich der Vorsorgeuntersuchungen für Jugendliche eine Gesetzgebungskompetenz zukommt. In Betracht kommt der Kompetenztitel der öffentlichen Fürsorge nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Der Begriff der öffentlichen Fürsorge wird durch das Bundesverfassungsgericht weit ausgelegt. Er umfasst (präventive) Maßnahmen zum Ausgleich von Notlagen und besonderen Belastungen sowie Vorkehrungen, um Hilfsbedürftigkeit zu verhindern.22 Auch der Jugendschutz wird unter die öffentliche Fürsorge subsumiert, soweit nicht andere speziellere Kompetenzen vorgehen.23 Die Untersuchungen von Jugendlichen dienen nach § 26 Abs. 1 S. 1 und S. 2 SGB V der Früherkennung von Krankheiten, die die körperliche, geistige oder psycho-soziale Entwicklung in nicht geringfügigem Maße gefährden. Zudem sollen gesundheitliche Risiken erfasst und bewertet werden und auf diese bezogen präventionsorientiert beraten werden. Insofern ist das Ziel der Jugenduntersuchungen nicht der Ausgleich von Notlagen oder Belastungen. Es geht hierbei vielmehr um die allgemeine Gesundheitsvorsorge. Die Früherkennung von Krankheiten unter den Begriff der Vorkehrungen für die Verhinderung der Hilfsbedürftigkeit zu fassen, würde diesen überstrapazieren. Mithin lassen sich die Jugenduntersuchungen nicht als Teil der öffentlichen Fürsorge fassen.24 Auch der Umstand, dass der Anspruch auf Vorsorgeuntersuchungen im Bundesrecht in § 26 SGB V geregelt ist, führt zu keiner Kompetenz für eine Teilnahmeverpflichtung. Diese Regelung betrifft allein die Komponente der Kostenübernahme für bestimmte Vorsorgeuntersuchungen durch die gesetzlichen Krankenversicherungen. Sie kann sich daher auf die Kompetenznorm 21 Vgl. Familienkasse Direktion, Durchführungsanweisung zum Bundeskindergeldgesetz von 2018, DA 101.0 Abs. 1 S. 2, abrufbar unter: https://www.arbeitsagentur.de/datei/fw-bkgg_ba013283.pdf (letzter Abruf 7. September 2020). 22 BVerfGE 88, 203 (329 f.); Maunz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 90. EL, Februar 2020, Art. 74 Rn. 106; Netzer, Zulässigkeit ärztlicher Pflichtbehandlungen an Kindern, 2011, S. 44. 23 BVerwGE 19, 94 (96); Axer, in: Kahl/Waldhoff (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Band 15, 202. EL Februar 2020, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 31. 24 So im Ergebnis auch Netzer, Zulässigkeit ärztlicher Pflichtbehandlungen an Kindern, 2011, S. 48; Stellungnahme der Bunderegierung zu den Entschließungen des Bundesrates zur verpflichtenden Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen , BR-Drs. 240/07, S. 1 f.; Siekmann, Die Zuständigkeit des Bundes zum Erlass umfassender Rauchverbote nach In-Kraft-Treten der ersten Stufe der Föderalismusreform, NJW 2006, S. 3382 (S. 3384); a. A. allerdings Ehrmann/Breitfeld, Besserer Kinderschutz nach Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes?, FPR 2012, S. 418 (S. 420), wobei diese Ansicht weder begründet noch durch Nachweise belegt wird. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 8 des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (Sozialversicherungen) stützen. Diese Kompetenznorm kommt für die mit der Teilnahmepflicht verbundene Zielsetzung aber nicht in Betracht. Die allgemeine Gesundheitsvorsorge liegt im Bereich der Gesetzgebungskompetenz der Länder. Die Vorgabe des Grundgesetzes, nach dem der Bund nur für spezifische Einzelfragen im Gesundheitswesen die Gesetzgebungskompetenz hat, darf nicht durch eine zu weite Auslegung anderer Kompetenztitel, wie dem der öffentlichen Fürsorge, umgangen werden.25 Auch die Bundesregierung hat im Jahr 2007 keine Anknüpfungspunkte für eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes gesehen, um die Teilnahme an den Kinderuntersuchungen verpflichtend ausgestalten zu können.26 2.3.2. Gesetzgebungskompetenz für das Kindergeld Eine Gesetzgebungskompetenz kommt dem Bund auch nicht aus seiner Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Kindergeldrecht zu. In der Literatur ist die Bundeskompetenz für das sozialrechtliche Kindergeld in seiner jetzigen Ausgestaltung nicht unumstritten;27 das Bundesverfassungsgericht hat diese bisher nicht problematisiert.28 Bei der hier zu betrachtenden Regelung steht die Förderung der Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen im Vordergrund, der Wegfall des Kindergeldes bei Nichtteilnahme ist dagegen nur Mittel zum Zweck. Im Überschneidungsbereich von Bundes- und Landeskompetenzen kommt es nach dem Bundesverfassungsgericht auf den stärkeren Sachzusammenhang an.29 Dieser ist vorliegend im Bereich der Gesundheitsvorsorge zu verorten. Es steht dem Gesetzgeber frei, eine entsprechende Bundeskompetenz durch Verfassungsänderung zu schaffen. 2.4. Vereinbarkeit mit den Grundrechten und sonstigem Verfassungsrecht Zu prüfen ist, ob die vorgeschlagene Verknüpfung der Fortzahlung des Kindergeldes an die Teilnahme an den Jugenduntersuchungen J1 und J2 mit den Grundrechten und sonstigen Verfassungsrecht vereinbar wäre. 25 Seiler, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 43. Edition, Stand: 15. Mai 2020, Art. 74 Rn. 25. 26 Stellungnahme der Bunderegierung zu den Entschließungen des Bundesrates zur verpflichtenden Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen, BR-Drs. 240/07, S. 1 f. 27 Vgl. dazu Reimer, Keine Bundeskompetenz für das Kindergeldrecht, NJW 2012, S. 1927 (S. 1930). 28 BVerfGE 43, 108 ff.; vgl. auch Maunz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 90. EL, Februar 2020, Art. 74 Rn. 113. 29 Vgl. die Rechtsprechungshinweise Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 16. Aufl., 2020, Art. 2 Rn. 8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 9 2.4.1. Verfassungsmäßigkeit eines vollständigen Wegfalls des Kindergeldes Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung sind das Kindergeld als existenzsichernde Entlastung und das Kindergeld als Sozialleistung scharf zu trennen. Denn bei der Ausgestaltung des entlastenden Bestandteils besteht ein sehr enger, bei der Ausgestaltung der Sozialleistungen ein weiter Gestaltungsspielraum.30 2.4.1.1. Gebot zur Sicherung des Existenzminimums Ein vollständiger Wegfall des steuerrechtlichen Kindergeldes als Sanktion wäre bei sonst gleich bleibender Rechtslage verfassungsrechtlich sehr problematisch. Denn damit würde die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes, welche im jetzigen System des Familienleistungsausgleichs allein durch das Kindergeld erreicht wird (siehe oben 2.2.), in diesen Fällen gar nicht mehr geleistet. Das Gebot der steuerlichen Freistellung des Einkommens des Steuerpflichtigen insoweit, als es Mindestvoraussetzung eines menschenwürdigen Daseins ist (Existenzminimum), ergibt sich aus der Menschenwürdegarantie gem. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG.31 Dass dies auch für die Kinder gelten muss, ergibt sich unter Berücksichtigung des besonderen Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG. Zudem erfüllt der Gesetzgeber durch den Familienleistungsausgleich seine Schutzpflicht bzw. das allgemeine Förderungsgebot gegenüber der Familie, welches aus Art. 6 Abs. 1 GG fließt.32 Es spricht viel dafür, dass ein Wegfall des so stark verfassungsrechtlich abgesicherten steuerrechtlichen Kindergeldes inklusive des existenzsichernden Anteils auch zur Verfolgung wichtiger Gemeinschaftsziele – soweit kein anderweiter Ausgleich vorgenommen werden würde – verfassungswidrig wäre.33 Ein Wegfall ausschließlich des sozialrechtlichen Förderungsteils des steuerrechtlichen Kindergeldes (siehe oben 2.2.) scheint auch bei sonst gleichbleibender Rechtslage zumindest denkbar. Das steuerrechtlich zu verschonende Existenzminimum würde dadurch nicht berührt. Das allgemeine Familienförderungsgebot gem. Art. 6 Abs. 1 GG würde wohl nicht verletzt, da aus diesem kein Anspruch auf eine Leistung in bestimmter Höhe abgeleitet werden kann.34 Aus denselben Gründen wäre ein Wegfall des nach dem BKKG geleisteten sozialrechtlichen Kindergeldes (siehe oben 2.2.) als Sanktion grundsätzlich denkbar. Verletzt sein könnte aber der allgemeine Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG. 30 Vgl. Selder, in: Heuermann/Brandis (Hrsg.), Blümich, Einkommenssteuergesetz – Körperschaftssteuergesetz – Gewerbesteuergesetz, Kommentar, 152. EL Mai 2020, § 31 EStG Rn. 24 m.w.N. 31 BVerfGE 82, 60 (85); BVerfGE 99, 216 (233). 32 Vgl. Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Auflage 2018, Art. 6 Rn. 9 m.w.N. 33 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Zur Zulässigkeit, die Vorsorgeuntersuchungen U 1 bis U 9 sowie J 1 bei Kindern und Jugendlichen verpflichtend zu machen, 24. Januar 2006, WD 3 - 355/05, S. 14 und S. 16; ähnlich Netzer, Zulässigkeit ärztlicher Pflichtbehandlungen an Kindern, 2011, S. 184. 34 Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Auflage 2018, Art. 6 Rn. 9 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 10 2.4.1.2. Allgemeiner Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG (in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG) Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn im Wesentlichen vergleichbare Sachverhalte ungleich behandelt werden. Nach der hier zu prüfenden Regelungsidee sollen die Eltern den Anspruch auf Kindergeld verlieren, deren Kinder die Jugenduntersuchungen J1 und J2 nicht besucht haben. Wie oben ausgeführt, ist im derzeitigen System des Familienleistungsausgleichs nur eine Streichung des sozialrechtlichen Kindergeldes denkbar. Ein Streichen nur des sozialrechtlichen Kindergeldes würde dazu führen, dass es eine Gruppe von Familien gibt, die von der Sanktion betroffen wäre. Dabei handelt es sich erstens um beschränkt steuerpflichtige Eltern, die sonst das sozialrechtliche Kindergeld nach dem BKKG erhalten würden. Zweitens fallen darunter unbeschränkt steuerpflichtige Eltern, insoweit als ihnen ein überschießender Teil des Kindergeldes als allgemeine Familienförderung erteilt wird. Dagegen würde die Gruppe der unbeschränkt steuerpflichtigen Eltern, denen kein überschießender Kindergeldteil zur Familienförderung geleistet wird, und deren Kinder die Jugenduntersuchungen J1 und J2 nicht besucht haben, nicht sanktioniert. Dem Gesetzgeber ist nicht jede Differenzierung verwehrt. Für die getroffene Differenzierung müssten sachliche Gründe von solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können. Dem Gesetzgeber kommt im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit für die Abgrenzung der begünstigten Personenkreise ein Gestaltungsspielraum zu.35 Es ergeben sich aber umso engere Grenzen, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann.36 Hier ist der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Für eine Durchbrechung eines in der Erfüllung seines sozialstaatlichen Schutzauftrags aus Art. 6 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber geschaffenen Systems bedürfte es besonders gewichtiger Gründe.37 Eine einseitige Belastung nur dieser beiden Gruppen von Eltern und Kinder bei der Nichtteilnahme an den Jugenduntersuchungen J1 und J2 stößt auf gewichtige Bedenken. Denn die Nichtteilnahme an den Untersuchungen würde bei allen Familien im Hinblick auf den Gesundheitsschutz grundsätzlich gleich gefährdend wirken. Nicht zuletzt würde das Kindergeld gerade nur für jene Familien potenziell gekürzt werden oder wegfallen, für die dieses besonders wichtig ist – jene mit niedrigem oder gar keinem Einkommen.38 Es ist kein sachlicher Grund für eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Familien ersichtlich, nach der der gleiche Verstoß bei manchen sanktioniert werden sollte, bei anderen aber nicht. 35 BVerfGE 99, 165 (178); BVerfGE 106, 166 (175 f.). 36 Vgl. BVerfGE 82, 126 (146); BVerfGE 88, 87 (96); BVerfGE 106, 166 (176). 37 BVerfGE 111, 160 (173). 38 „Das Kindergeld als Sozialleistung ist für Eltern umso wichtiger, je niedriger ihr Einkommen und je höher ihre Kinderzahl ist.“, BVerfGE 111, 160 (173). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 11 2.4.2. Verfassungsmäßigkeit verbindlicher Jugenduntersuchungen Die hier zu untersuchende Regelungsidee könnte zudem in die Grundrechte der Jugendlichen und der Eltern eingreifen. Es kommt hier insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Jugendlichen nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie das elterliche Erziehungsrecht gem. Art. 6 Abs. 2 GG in Betracht. 2.4.2.1. Allgemeines Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG 2.4.2.1.1. Schutzbereich Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die Privat- und Intimsphäre des Menschen.39 Es schützt in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung grundsätzlich auch vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter.40 Minderjährige genießen als Grundrechtsträger uneingeschränkt den allgemeinen Schutz der Grundrechte und damit auch des allgemeinen Persönlichkeitsrechts..41 2.4.2.1.2. Eingriff Eine ausdrückliche Rechtspflicht zur Teilnahme an den Jugenduntersuchungen J1 und J2 würde die zwangsweise Erhebung von Befunden über den Gesundheitszustand darstellen und damit einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Soweit die Regelung zwar keine ausdrückliche Rechtspflicht zur Teilnahme an den Jugenduntersuchungen J1 und J2 vorsieht, aber die Nichtteilnahme mit dem Wegfall der Kindergeldzahlungen sanktioniert, ist auch von einem Eingriff auszugehen . Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch dann vorliegen, wenn unmittelbare oder mittelbare negative Folgen an die Nichtteilnahme an einer Untersuchung geknüpft werden.42 2.4.2.1.3. Rechtfertigung Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht absolut geschützt. So muss jeder Bürger staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit auf gesetzlicher Grundlage unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots getroffen werden, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen.43 Das Gesetz muss einem Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit standhalten.44 Es muss ein legitimer Zweck mit geeigneten, 39 BVerfGE 120, 180 (197); BVerfGE 120, 224 (238). 40 BVerfGE 89, 69 (82); BVerfGE 32, 373 (378 ff.); BVerfGE 44, 353 (372 f.). 41 Vgl. bspw. BVerfGE 97, 228 (252); siehe auch Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 16. Auflage 2020, Art. 19 Rn. 13 m.w.N. 42 Zum Eingriff aufgrund nachteiliger Folgen bei Nichtteilnahme an einer Untersuchung vgl. BVerfGE 89, 69 (84). 43 BVerfGE 89, 69 (84); BVerfGE 32, 273 (279); BVerfGE 65, 1 (44). 44 BVerfGE 33, 367 (376 f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 16. Auflage 2020, Art. 2 Rn. 62 m.w.N Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 12 erforderlichen und angemessenen Mitteln verfolgt werden. Da es für die Verhältnismäßigkeit entscheidend auf die konkreten Erwägungen ankommt, die der Regelung zugrunde liegen, kann hier nur eine vorläufige Prüfung der sich im Rahmen der Rechtfertigung stellenden Fragen vorgenommen werden. Die J1- und J2-Vorsorgeuntersuchungen sind darauf ausgerichtet, den allgemeinen Gesundheitszustand und Entwicklungsstand von Jugendlichen bewerten zu können, um so frühzeitig gesundheitlichen Problemen oder Entwicklungsstörungen entgegenwirken und rechtzeitig konkrete Therapievorschläge unterbreiten zu können. Dies dient dem Gesundheitsschutz von Jugendlichen und ist als solches ein legitimer Gesetzeszweck. Eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahmepflicht für die Jugenduntersuchungen J1 und J2 muss zudem zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet, d.h. dem Zweck förderlich sein.45 An der Geeignetheit bestehen vorliegend keine Zweifel. Der Eingriff muss zudem erforderlich sein, d.h. es darf kein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel zur Verfügung stehen.46 Grundrechtsschonenderes Mittel wäre das in manchen Bundesländern praktizierte sog. appellative Verfahren, mittels dessen zu den Vorsorgeuntersuchungen ausdrücklich eingeladen wird.47 Es spricht allerdings einiges dafür, dass das appellative Verfahren zur Zielerreichung nicht ebenso effektiv wäre. Zumindest kommt dem Gesetzgeber bei unsicherer Tatsachengrundlage ein weiter Einschätzungsund Beurteilungsspielraum zu.48 Die Regelung müsste zuletzt einen angemessenen Ausgleich der verfolgten Allgemeininteressen mit dem betroffenen Persönlichkeitsrecht des Einzelnen darstellen. Hierfür muss das Gewicht der verfolgten Ziele mit der Schwere des Persönlichkeitseingriffs in Beziehung gesetzt werden. Der grundrechtliche Schutz ist umso intensiver, je näher erhobene Daten der Intimsphäre des Betroffenen stehen, die als unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung gegenüber aller staatlichen Gewalt Achtung und Schutz beansprucht.49 Der angestrebte Gesundheitsschutz hat ein hohes Gewicht (vgl. auch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Demgegenüber stellt das Interesse des Jugendlichen, nicht gegen seinen Willen untersucht werden zu müssen, einen gewichtigen Teil seines Selbstbestimmungsrechts dar. An dieser Stelle sei zudem darauf hingewiesen, dass die Jugenduntersuchung J2 im Gegensatz zur Jugenduntersuchung J1 noch keine generelle Regelung durch eine Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 26 SGB V erfahren hat (siehe oben 2.1.). Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass die Vorsorgeuntersuchungen mit zunehmendem Alter der Heranwachsen- 45 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 20 Rn. 314. 46 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 16. Auflage 2020, Vorb. vor Art. 1 Rn. 46, Art. 20 Rn. 119. 47 Vgl. dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Einführung verpflichtender Kindervorsorgeuntersuchungen ?, 14. Februar 2019, WD 3 - 3000 - 013/19, S. 5 f. m.w.N. 48 Klatt/Meister, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, JuS 2014, 193 (195) m.w.N. 49 BVerfGE 89, 69 (82 f.); BVerfGE 32, 373 (378 f.); BVerfGE 65, 1 (45 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 13 den auch ein geringeres Gewicht für den Gesundheitsschutz hat. Jedenfalls hat die Jugenduntersuchung J2 noch nicht dieselbe rechtliche Anerkennung als gesundheitsfördernde Maßnahme erhalten. Es bedarf weiterer Prüfung, inwiefern die J1 und J2 ein solches Gewicht für den Gesundheitsschutz haben, dass ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht als angemessen erscheinen kann. 2.4.2.2. Elterliches Erziehungsrecht, Art. 6 Abs. 2 GG Weiter könnte eine Teilnahmepflicht an den J1- und J2-Untersuchungen auch in das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG eingreifen. Art. 6 Abs. 2 GG garantiert den Eltern gegenüber dem Staat den Vorrang als Erziehungsträger.50 Ein unmittelbarer oder mittelbarer Zwang zur Teilnahme an den Jugenduntersuchungen J1 und J2 nimmt den Eltern die Entscheidung über die Form der Gesundheitsvorsorge für ihre Kinder ab und ist damit ein Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht .51 Dieser müsste wiederum als verhältnismäßig gerechtfertigt sein. Eine Teilnahmepflicht bzgl. der Früherkennungsuntersuchungen für Kinder wurde in der Vergangenheit bereits rechtspolitisch diskutiert. Politischer Hintergrund und Ziel der vorgeschlagenen Regelung war die Aufdeckung von Kindesmisshandlung und -verwahrlosung. Der Eingriff wurde zum Teil für angemessen gehalten52, soweit nicht die Grenze der Errichtung eines umfassenden Kontroll- und Überwachungssystems überschritten werden würde.53 Vorliegend ist zwar zu berücksichtigen, dass dem Aspekt der Vorbeugung von Kindesmisshandlung bzw. -verwahrlosung bei den J1- und J2- Untersuchungen eine geringere Rolle zukommen dürfte. Es gehört auch nicht zum Wächteramt, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Entwicklung des Kindes zu sorgen.54 Gleichwohl kommt auch dem bezweckten Gesundheitsschutz für Jugendliche ein großes Gewicht zu, das geeignet sein kann, das Elternrecht zu beschneiden. Es bedarf auch hier einer weiteren Prüfung , inwiefern die J1- und J2-Untersuchung ein solches Gewicht für den Gesundheitsschutz haben, dass sie als angemessen für einen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht erscheinen. 3. Drogentest als Bestandteil der Jugenduntersuchungen Zu prüfen ist, ob es mit der Verfassung vereinbar wäre, wenn bei den J1- und J2-Untersuchungen ein Drogentest vorgeschrieben werden würde. Ein Drogentest kann auf unterschiedliche Art und 50 Badura, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Bd. I, 90. EL Februar 2020, Art. 6 Rn. 107 m.w.N. 51 Vgl. Lindner, Verpflichtende Gesundheitsvorsorge für Kinder?, ZRP 2006, S. 115 (S. 116) m.w.N. 52 So Lindner, Verpflichtende Gesundheitsvorsorge für Kinder?, ZRP 2006, S. 115; Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Zur Zulässigkeit, die Vorsorgeuntersuchungen U 1 bis U 9 sowie J 1 bei Kindern und Jugendlichen verpflichtend zu machen, 24. Januar 2006, WF III – 355/05 (abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/413220/ebdc51d8cb7d42652c6e4abe946fb81b/wf-iii-355-05-pdf-data.pdf, letzter Abruf 7. September 2020), S. 8 ff. 53 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Zur Zulässigkeit, die Vorsorgeuntersuchungen U 1 bis U 9 sowie J 1 bei Kindern und Jugendlichen verpflichtend zu machen, 24. Januar 2006, WF III – 355/05 (Fn. 52), S. 11, S. 16. 54 BVerfGE 60, 79 (91); BVerfGE 107, 104 (117 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 14 Weise vorgenommen werden. Bzgl. des Testmaterials kann unterschieden werden zwischen solchen die auf Urin-, Haar-, Blut- oder Speichelproben beruhen.55 3.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Wie oben unter 2.3. ausgeführt, gibt es derzeit keine Gesetzgebungskompetenz für den Bund zur inhaltlichen Ausgestaltung der Jungenduntersuchungen. Für eine bundesrechtliche Regelung müsste daher zunächst eine entsprechende Kompetenznorm im Grundgesetz geschaffen werden. 3.2. Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG Die Aufnahme eines Drogentests in die Untersuchungsmaßnahmen der J1- und J2-Untersuchungen würde insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG betreffen, das die Privat- und Intimsphäre des Menschen56 sowie – in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung – grundsätzlich auch vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter schützt.57 3.2.1. Eingriff in den Schutzbereich Soweit die Teilnahme an den Untersuchungen J1 und J2 und insbesondere auch der vorgesehene Drogentest verbindlich ausgestaltet werden würde oder negativen Folgen an die Nichtteilnahme geknüpft werden, ist von einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht auszugehen.58 Durch eine Speicherung, Sammlung oder Weitergabe der durch die Untersuchung gewonnenen Daten läge zudem ein eigenständiger Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor.59 3.2.2. Rechtfertigung Ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG steht unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Eine entsprechende gesetzliche Regelung müsste verhältnismäßig sein, d.h. es muss ein legitimer Zweck mit geeigneten, erforderlichen und angemessenen Mitteln verfolgt werden.60 Da es für die Verhältnismäßigkeit entscheidend auf die konkreten Erwägungen ankommt, die der Regelung zugrunde liegen, kann hier nur eine vorläufige Prüfung vorgenommen werden. 55 Rebler, Das Drogenscreening im Fahrerlaubnisrecht, Straßenverkehrsrecht (SVR) 2016, S. 241 (S. 245). 56 BVerfGE 120, 180 (197); BVerfGE 120, 224 (238). 57 BVerfGE 89, 69 (82); BVerfGE 32, 373 (378 ff.); BVerfGE 44, 353 (372 f.). 58 Zum Eingriff aufgrund nachteiliger Folgen bei Nichtteilnahme an einer Untersuchung vgl. BVerfGE 89, 69 (84). 59 Vgl. BVerfGE 65, 1 (43); vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 16. Auflage 2020, Art. 2 Rn. 53 m.w.N. 60 BVerfGE 33, 367 (376 f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 16. Auflage 2020, Art. 2 Rn. 62 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 15 Die Einführung von Drogentests bei Jugendvorsorgeuntersuchungen steht im Zusammenhang mit der Suchtprävention und Suchtbekämpfung. Den Zweck, die menschliche Gesundheit sowohl des Einzelnen wie der Bevölkerung im Ganzen vor den von Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren zu schützen und die Bevölkerung, vor allem Jugendliche, vor Abhängigkeit von Betäubungsmitteln zu bewahren, erkennt das Bundesverfassungsgericht als legitim an.61 Das Mittel muss zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet, d.h. dem Zweck förderlich sein.62 Es liegt nahe, dass mit der Testsituation selbst sowie gegebenenfalls durch das Gespräch mit dem Arzt über einen festgestellten Drogenkonsum eine psychologische Abschreckungswirkung einhergeht , die einen gewissen Einfluss auf den Drogenkonsum unter Kindern und Jugendlichen haben kann. Nicht zuletzt können auf der Grundlage eines sicheren Wissens vom Drogenkonsum des Untersuchten konkrete Therapien angeboten werden, die zur individuellen Suchtbekämpfung beitragen können. In den Fällen, in denen der Untersuchte den Drogenkonsum aus freiem Willen nicht offenlegt, wäre ein solches konkretes Hilfsangebot dagegen nicht möglich. Die Regelung ist somit dem verfolgten Zweck förderlich. Der Eingriff muss erforderlich sein, d.h. es darf kein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel zur Verfügung stehen.63 Es kommen verschiedene mildere Mittel in Betracht: So könnte nur die Selbstauskunft nach dem Drogenkonsum des Jugendlichen als Teil der Vorsorgeuntersuchungen J1 und J2 verbindlich geregelt werden. Allerdings ist davon auszugehen, dass nicht jeder Teilnehmer von sich aus die Frage wahrheitsgemäß beantworten wird und gerade gefährdete Jugendliche geneigt sein werden, ihren Drogenkonsum zu verheimlichen. Ein etwaiger Abschreckungseffekt wäre zudem nur stark abgeschwächt denkbar. Eine Selbstauskunft würde sich zwar milder auswirken, wäre aber offensichtlich nicht gleich gut geeignet. Denkbar wäre auch den Drogentest statt bei beiden Jugenduntersuchungen ausschließlich bei einer der beiden Untersuchungen anzuordnen. Mit der geringeren Häufigkeit des Drogentests ginge aber eine geringere Effektivität einher. Schließlich könnte die Anordnung eines Drogentests gegenüber Teilnehmern an den Jugenduntersuchungen J1 und J2 im Einzelfall möglich gemacht werden.64 Dies könnte etwa dann gelten, wenn Hinweise auf den Konsum eines Jugendlichen bestehen , dieser den Konsum im Gespräch aber nicht offenlegt. Allerdings erscheint eine solche differenzierte Praxis nicht gleich effektiv, um alle gefährdeten Jugendlichen zu erreichen, da nicht in jedem Fall Verdachtsmomente im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen J1 und J2 entstehen und erkennbar sein werden. Die Regelung müsste schließlich einen angemessenen Ausgleich der verfolgten Allgemeininteressen mit dem betroffenen Persönlichkeitsrecht des Einzelnen darstellen. Hierfür muss das Gewicht der verfolgten Ziele mit der Schwere des Persönlichkeitseingriffs in Beziehung gesetzt werden. Der 61 So BVerfGE 90, 145 (174); BVerwGE 112, 314 (318). 62 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 20 Rn. 314. 63 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 16. Auflage 2020, Vorb. vor Art. 1 Rn. 46, Art. 20 Rn. 119. 64 So ähnlich im Verkehrsrecht, vgl. dazu BVerfGE 89, 69; BVerfG NJW 2002, 2378 (2380); BVerwG NJW 1997, 269; BVerwG NJW 2002, 78. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 16 grundrechtliche Schutz ist umso intensiver, je näher erhobene Daten der Intimsphäre des Betroffenen stehen, die als unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung gegenüber aller staatlichen Gewalt Achtung und Schutz beansprucht.65 Die in einem Drogentest erhobenen Befunde sind höchstpersönlich und stehen dem Bereich der Intimsphäre nahe.66 Dementsprechend müssen besonders gewichtige Gründe vorliegen, die den Eingriff rechtfertigen. Der angestrebte Gesundheitsschutz hat ein hohes Gewicht (vgl. auch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Nicht zuletzt wurde der Schutz dieses Gemeinschaftsgutes vom Bundesverfassungsgericht als wichtig genug eingestuft, um ein strafbewehrtes Verbot des Umgangs mit Cannabisprodukten zu rechtfertigen .67 Zu bedenken ist auch, dass dem Staat gegenüber Kindern und Jugendlichen eine erhöhte Schutzpflicht zukommt (Art. 6 Abs. 2 GG).68 Vom Drogenkonsum gehen erhöhte Gefahren gerade für Kinder und Jugendliche aus, deren Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig gestört werden kann.69 Fürsorgliche Eingriffe in die Freiheit zu selbstschädigendem Verhalten können eher Kindern und Jugendlichen gegenüber gerechtfertigt werden.70 Für die Beurteilung der Angemessenheit kommt es letztlich auch auf die Eingriffsintensität an. Als Kriterien für die Beurteilung der Eingriffsintensität lassen sich die Zahl der Betroffenen, der Umstand, welche Nachteile Betroffene befürchten müssen, sowie die Frage, ob die Betroffenen Anlass für den Eingriff gegeben haben, heranziehen.71 Verbindliche Drogentests bei den J1- und J2-Untersuchungen hätten eine außerordentlich große Streuweite. Demnach würden jedenfalls nach einer gewissen Übergangszeit ausnahmslos alle jungen Menschen in Deutschland zweimal in ihrem Leben einem anlasslosen Drogentest unterzogen. Würde die Regelung so pauschal ausgestaltet – als gebundene Entscheidung ohne Ermessen – fehlten jegliche Vorkehrungen zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall. Es würde gezwungenermaßen eine sehr große Anzahl von jungen Menschen erfasst, die noch nie Drogen konsumiert haben und bei denen es keinerlei Anzeichen für einen solchen Konsum gibt. Die verpflichtende Offenlegung von Daten, die dem höchstpersönlichen Bereich der Privatsphäre zugerechnet werden, muss besonders für jene Personen schwer wiegen, die keinerlei Anlass für diese Erhebung gegeben haben. Dies kann durchaus auch dann intensiv wirken, wenn die Offenlegung ausschließlich gegenüber dem behandelnden Arzt 65 BVerfGE 89, 69 (82 f.); BVerfGE 32, 373 (378 f.); BVerfGE 65, 1 (45 f.). 66 Vgl. BVerfGE 89, 69 (82 f.). 67 BVerfGE 90, 145 (171, 174, 181, 186 ff.) 68 Vgl. ausführlich Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Bd. I, 90. EL Februar 2020, Art. 2 Abs. 1 Rn. 208 ff. m.w.N. 69 BVerfGE 90, 145 (180) m.w.N. 70 Vgl. Lorenz, in: Kahl/Waldhoff (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 202. EL Februar 2020, Art. 2 Rn. 155 m.w.N. 71 Vgl. BVerfGE 115, 320 (347); BVerfGE 118, 168 (197). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 190/20 Seite 17 geschieht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in Urteilen von 199372 und von 200273 zu verfassungsrechtlichen Grenzen der Anordnung von Drogentests im Zusammenhang mit dem Verdacht auf Cannabiskonsum geäußert74 und festgestellt, dass ein „gänzlicher Verzicht auf hinreichende Verdachtsindikatoren ist in einem Rechtsstaat jedenfalls bei einem für die persönliche Lebensführung gewichtigen Eingriff ausgeschlossen [ist]. (…) Die gesetzlichen Anforderungen an die Art und Intensität des Verdachts, der solche Folgen auslösen kann, müssen allgemein und ihre Rechtsanwendung muss im Einzelfall dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht werden. Die Beschränkungen sind nur angemessen, wenn die Behörde im Zuge der Ausübung der gesetzlichen Ermächtigung zur Fahreignungsüberprüfung hinreichend konkrete Verdachtsmomente feststellt, die einen Eignungsmangel als nahe liegend erscheinen lassen.“75 Da die den Urteilen zugrundeliegende Sachverhalte und Regelungen sehr unterschiedlich sind, sind die Ausführungen des Gerichts nicht direkt übertragbar. Die Entscheidungen machen aber deutlich, dass das Bundeverfassungsgericht bei der Anordnung von Drogentests Vorkehrungen für die Wahrung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall fordert. Insofern bestehen Zweifel an einer anlasslosen Pflicht zur Teilnahme an einem Drogentest. 3.3. Recht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Bei der Anordnung eines zwangsweisen Drogentests mittels Beibringung einer Blutprobe läge auch ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vor.76 Der Eingriff wäre für sich betrachtet nur von geringem Gewicht, aber aus den ausgeführten Verhältnismäßigkeitserwägungen wohl nicht zu rechtfertigen. *** 72 BVerfGE 89, 69. 73 BVerfG NJW 2002, 2378. 74 Vgl. daran anschließend BVerwG NJW 1997, 269; BVerwG NJW 2002, 78. 75 BVerfG NJW 2002, 2378 (2380), Hervorhebungen nur hier. 76 Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 16. Auflage 2020, Art. 2 Rn. 87 m.w.N.