© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 187/18 Fragen zum Vorschlagsrecht gem. Art. 63 Abs. 1 GG Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Die erste Wahlphase, in der der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache gewählt wird, ist in Art. 63 Abs. 1 und 2 GG geregelt. Zur Abgabe des Wahlvorschlags ist der Bundespräsident verpflichtet.1 Aus Art. 63 Abs. 1 und 2 GG lässt sich keine Frist zur Ausübung des Vorschlagsrechts entnehmen. Teilweise wird in der Literatur jedoch vertreten, dass der Bundespräsident in Analogie zur Frist aus Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG spätestens 3 Monate nach der Wahl einen Vorschlag unterbreiten muss, um nicht die Verfassung zu verletzen.2 Auch ohne eine ausdrückliche Frist folgt nach Ansicht in der Literatur zumindest die Pflicht des Bundespräsidenten, sein Vorschlagsrecht innerhalb einer angemessenen Frist auszuüben.3 Für diese Sichtweise sprechen auch die korrespondierenden Fristen für die Wahlphasen zwei und drei aus Art. 63 Abs. 3 und 4 GG, deren Ziel eine möglichst schnelle Regierungsbildung ist. Welcher Zeitraum als angemessen angesehen wird, wird in der Literatur nicht ausdrücklich benannt . Die konkrete Zeitspanne hängt im Einzelnen von den Schwierigkeiten ab, die sich bei der Regierungsbildung oder der Suche nach einem geeigneten Kandidaten ergeben. Der Bundespräsident hat insoweit einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich des Zeitraumes, in dem er von seinem Vorschlagsrecht Gebrauch macht.4 Er hat sich zwar grundsätzlich an dem Ziel einer zügigen Bildung einer stabilen Regierung zu orientieren.5 Faktisch wird er sich zumeist aber am Ablauf stattfindender Koalitionsverhandlungen orientieren und deren Ausgang abwarten. Sobald diese abgeschlossen sind und sich eine eindeutige Mehrheit für einen Kandidaten ergibt, hat der Bundespräsident seinen Vorschlag unverzüglich zu erstellen.6 Ein längeres Unterbleiben des Vorschlags wurde zumindest bisher noch nicht verfassungsrechtlich beanstandet. Bei den Regierungsbildungen im Jahr 2005 und 2013 machte der Bundespräsident erst bis zu drei Monate nach der Wahl von seinem Vorschlagsrecht Gebrauch. Nach der Bundestagswahl 2017 vergingen 171 Tage bis zur Wahl der Bundeskanzlerin. 1 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, 81. Lfg 2017, Art. 63 GG Rn 16. 2 Schneider, in Stein/Denninger/Hoffmann-Riem, GG, 3. Aufl. 2001, Art. 63 GG Rn 2. 3 Schröder, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 63 GG Rn 26. 4 Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 166. Ergänzungslieferung 2014, Art. 63 Rn 68. 5 Hermes, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2015, Art. 63 Rn 21. 6 Schneider, in Stein/Denninger/Hoffmann-Riem, 3. Aufl. 2001, Art. 63 GG Rn 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 187/18 Seite 4 3. Verstoß gegen die Vorschlagspflicht Unterlässt der Bundespräsident den Vorschlag oder nimmt er diesen nicht in einer angemessenen Frist vor, kann das BVerfG die Verfassungswidrigkeit des Verhaltens im Wege eines vom Bundestag angestrengten Organstreitverfahrens gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG feststellen. Außerdem kommt eine Präsidentenklage gem. Art. 61 GG in Betracht.7 Um dem Bedürfnis nach einer raschen Regierungsbildung Rechnung zu tragen, kann bei Unterbleiben des Vorschlags der Bundestag auch direkt in die zweite Wahlphase gem. Art. 63 Abs. 3 GG eintreten.8 4. Vereinbarkeit der Vorschlagspraxis mit dem Demokratieprinzip Ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip durch die Vorschlagspraxis drängt sich nicht auf. Zwar ist der Begriff der „angemessenen Frist“ unbestimmt und unterliegt dem Beurteilungsspielraum des Bundespräsidenten. Jedoch dient dieser von der Verfassung offen gehaltene Zeitraum dazu, eine stabile Regierungsbildung zu ermöglichen und einen mehrheitsfähigen Kandidaten zu finden. Das Ziel einer stabilen Regierungsbildung steht offenkundig mit dem Demokratieprinzip im Einklang . Im Übrigen würden auch zeitlich engere Vorgaben bei politisch schwierigen Konstellationen kaum zu einer Erleichterung der Regierungsbildung führen. Die Regierungsbildung müsste dann ggf. noch vor Abschluss möglicher Koalitionsverhandlungen erfolgen. Es ist nicht unwahrscheinlich , dass bei einer solchen Verfahrensweise die Regierungsbildung mangels Mehrheit gänzlich scheitern würde oder lediglich kurzlebige Übergangsregierungen gebildet werden würden. 5. Reformvorschläge Konkrete Reformvorschläge zu Art. 63 Abs. 1 sind der Literatur – soweit ersichtlich – nicht zu entnehmen. *** 7 Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 166. Ergänzungslieferung 2014, Art. 63 GG Rn. 69. 8 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, 81. Lfg 2017, Art. 63 GG Rn 16.