© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 183/15 Vereinbarkeit der Funktion eines Europäischen Finanzministers mit dem Grundgesetz Verfassungsrechtliche Anforderungen an Aufsichts- und Kontrollrechte der Europäischen Union gegenüber nationalen Haushalten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 2 Vereinbarkeit der Funktion eines Europäischen Finanzministers mit dem Grundgesetz Verfassungsrechtliche Anforderungen an Aufsichts- und Kontrollrechte der Europäischen Union gegenüber nationalen Haushalten Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 183/15 Abschluss der Arbeit: 26. August 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Aufgabenstellung 4 2. Das Budgetrecht des Deutschen Bundestags 4 3. Übertragung von Hoheitsrechten – Maßstäbe und Grenzen 5 3.1. Begrenzte Einzelermächtigung, Kompetenz-Kompetenz und Integrationsverantwortung 6 3.2. Kontrollaufgabe des Bundesverfassungsgerichts 7 4. Das Budgetrecht als ein Kernbereich der Verfassungsidentität 8 4.1. Kernbereichskonkretisierung in der Lissabon-Entscheidung 8 4.2. Verfassungsrelevante Kompetenzübertragungen – Maastricht und die Verselbstständigung der Währungspolitik 9 4.3. Grundsätzlich asymmetrische Ausrichtung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) 10 5. Nationale Haushaltspolitik – WWU und Finanzkrise der Euroländer 11 5.1. Grundsätze: Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitik 11 5.2. Verfassungsrechtlich zulässige Selbstbeschränkung des Haushaltsgesetzgebers 12 5.3. Überwachung durch EU-Organe nur innerhalb der unionsrechtlichen Zuständigkeit 13 5.4. Zulässigkeit der Loslösung vom Prinzip der Eigenständigkeit nationaler Haushalte? 14 5.4.1. Durchgehende Legitimationskette 14 5.4.2. Begrenzung der Haftung der Höhe nach? 15 6. Grenzen des Grundgesetzes für haushaltsrelevante Aufsichts- und Kontrollrechte der Europäischen Union 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 4 1. Aufgabenstellung Die Frage ist, ob die Funktion eines Euro-Finanzministers mit Aufsichts- und Kontrollrechten gegenüber nationalen Haushalten mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Um sich der Fragestellung zu nähern, werden im Folgenden die verfassungsrechtlichen Grundsätze der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung (Budgetrecht) des Deutschen Bundestags (2.) und die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Übertragung von Hoheitsrechten (3.) in ihren Grundzügen kursorisch dargestellt und in einem weiteren Schritt aufeinander bezogen (4.). Hierauf folgt eine Untersuchung der die Thematik betreffenden neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (5.), an die sich eine abschließende Bewertung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Aufsichts- und Durchgriffsrechten der Europäischen Union gegenüber dem nationalen Haushalt anschließt (6.). 2. Das Budgetrecht des Deutschen Bundestags Das in Art. 110 GG verfassungsrechtlich normierte parlamentarische Budgetrecht1 ist eines der wesentlichen Instrumente der parlamentarischen Regierungskontrolle, die die rechtsstaatliche Demokratie entscheidend prägt2 und zu den Kernfunktionen des Parlaments gehört3. Die Entscheidung über den Haushaltsplan ist zugleich wirtschaftliche Grundsatzentscheidung für zentrale Bereiche der Politik4. Über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand entscheidet der Bundestag in Verantwortung gegenüber dem Volk5. Das Budgetrecht des Parlaments gehört zu den Grundlagen der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat6. Es stellt ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar7: In dem vom Parlament beschlossenen Haushaltsplan aktualisiert sich – mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts – „der Grundsatz der Gleichheit der Bürger bei der Auferlegung öffentlicher Lasten als eine wesentliche Ausprägung rechtsstaatlicher Demokratie“8. 1 Vgl. hierzu statt vieler Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar 7. Auflage 2014, Art. 110 Rn. 11 ff. 2 BVerfGE 49, 89 (125); 55, 274 (303); 70, 324 (356). 3 Vgl. nur BVerfGE 70, 324 (381). 4 BVerfGE 45, 1 (32); 70, 324 (355); 130, 318 (342). 5 BVerfGE 130, 318 (343). 6 BVerfGE 123, 267 (359); 129, 124 (177); 130, 318 (343). 7 BVerfGE 70, 324 (355 f.); 79, 311 (329); 129, 124 (177); 130, 318 (343). 8 BVerfGE 70, 324 (355 f.); 79, 311 (329); 129, 124 (177; 130, 318 (343). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 5 3. Übertragung von Hoheitsrechten – Maßstäbe und Grenzen Mit der Feststellung des Haushaltsplans durch das Haushaltsgesetz nach Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG erlässt der Bundestag einen staatsleitenden Hoheitsakt in Gesetzesform9 und übt Hoheitsrechte aus: Unter Hoheitsrechten im Sinne der Art. 23 Abs. 1 Satz 1, Art. 24 Abs. 1 GG ist die Ausübung öffentlicher Gewalt im innerstaatlichen Bereich durch Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung zu verstehen10. Das Grundgesetz ermöglicht seit seinem Inkrafttreten in Art. 24 Abs. 1 die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen11. Bis 1992 war die Europäische Integration Hauptanwendungsgebiet dieser Bestimmung12. Aus Anlass des Vertrages über die europäische Union13 wurde 1992 mit Art. 23 GG eine neue Rechtsgrundlage für die europäische Integration geschaffen14. Diese verdrängt die Regelung des Art. 24 Abs. 1 GG für seit ihrem Inkrafttreten ergangene Maßnahmen im Zusammenhang mit der europäischen Integration15, wenngleich die zu Art. 24 Abs. 1 GG entwickelten Grundsätze auch für die Anwendung des Art. 23 GG von Bedeutung bleiben16. In Übereinstimmung mit den zu Art. 24 Abs. 1 GG entwickelten Grundsätzen bedeutet die Übertragung von Hoheitsrechten die Öffnung „der deutschen Rechtsordnung derart, dass der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird“17. 9 BVerfGE 45, 1 (32); 70, 324 (355); 79, 311 (328); 129, 124 (178). 10 Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 7. Auflage 2014, Art. 23 Rn. 55. 11 Art. 24 Abs. 1 GG ist seit Inkrafttreten des Grundgesetzes unverändert geblieben, vgl. BGBl Teil I, Nr. 1 vom 23. Mai 1949, S. 4. 12 Vgl. nur Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 7. Auflage 2014, Art. 23 Rn. 3 f. der darauf hinweist, dass die bis 1992 erreichte Dichte der Integration in die Europäische Gemeinschaft angesichts der mageren Formulierung des Art. 24 Abs. 1 GG insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts möglich war, die sie durch „sachgerechte Auslegung“ die eigentümliche Verzahnung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht handhabbar machte; vgl. die zitierten Entscheidungen BVerfGE 22, 293 (296); 31, 145 (174); 37, 271 (277 f.), 58, 1 (40); 73, 339 (375); 75, 223 (240). 13 Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 13. Auflage 2014, Art. 23 Rn. 1, 3 mit Hinweis auf den 1992 unterzeichneten, 1993 in Kraft getretenen „Vertrag über die Europäische Union“(BGBl 1992 II 1251, 1993 II 1947). 14 Vgl. Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 7. Auflage 2014, Art. 23 Rn. 3 f. und Art. 24 Rn. 5. 15 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz Kommentar, 13. Auflage 2014, Art. 23 Rn. 4. 16 Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 7. Auflage 2014, Art. 24 Rn. 11. 17 Vgl. BVerfGE 58, 1 (28). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 6 3.1. Begrenzte Einzelermächtigung, Kompetenz-Kompetenz und Integrationsverantwortung Die Übertragung von Hoheitsrechten bewirkt einen Eingriff in und eine Veränderung der verfassungsrechtlich festgelegten Zuständigkeitsordnung und damit materiell grundsätzlich auch eine Verfassungsänderung18. Hieraus erhellt, dass das die Übertragung der Hoheitsrechte bewirkende Gesetz hinreichend bestimmt, genauer dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung entsprechen muss19; es besteht das „Erfordernis hinreichender gesetzlicher Bestimmung der eingeräumten Hoheitsrechte und damit der parlamentarischen Verantwortbarkeit dieser Rechtseinräumung “20. Von vornherein unzulässig ist weiterhin die Übertragung einer Kompetenz-Kompetenz auf die EU. Hoheitsrechte dürfen nicht derart übertragen werden, dass aus ihrer Ausübung heraus eigenständige weitere Zuständigkeiten für die Europäische Union begründet werden können21. In seinem im Zusammenhang mit der Einfügung des Art. 23 Abs. 1 in das Grundgesetz gefällten Maastricht -Urteil hat das Bundesverfassungsgericht weiterhin festgestellt, dass Art. 38 GG einer Übertragung von Hoheitsrechten an die EU entgegensteht, wenn die durch die Wahl bewirkte Legitimation und Einflussnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so entleert wird, dass das demokratische Prinzip, soweit durch Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird22. In seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon23 hat das Bundesverfassungsgericht diese Grundsätze bestätigt und weiter konkretisiert24. Tragender Grundsatz hierzu ist die dauerhafte Integrationsverantwortung , die den deutschen Verfassungsorganen obliegt und die darauf gerichtet ist, bei der Übertragung von Hoheitsrechten und der Ausgestaltung der europäischen Entscheidungsverfahren dafür Sorge zu tragen, dass sowohl das politische System der Bundesrepublik Deutschland als auch das der EU demokratischen Grundsätzen im Sinne des Art. 20 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG entspricht25. Die „integrationsfeste Verfassungsidentität“ des Grundgesetzes muss gewahrt bleiben26, nur in diesem Umfang dürfen gemäß Art. 23 Abs. 1 GG Hoheitsrechte 18 BVerfGE 58, 1 (36). 19 Hierfür BVerfGE 89, 155 (191, 209). Vgl. auch BVerfGE 134, 366 – juris, Rn. 20. 20 BVerfGE 89, 155 (194). 21 BVerfGE 89, 155 (187 f., 192, 199); vgl. auch BVerfGE 58, 1 (37); 104, 151 (210). 22 BVerfGE 89, 155 (186). 23 BVerfGE 123, 167. 24 Vgl. hierzu bereits grundlegend Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste, Durchgriffsrechte der EU-Kommission auf den Bundeshaushalt? Eine Bewertung des Übereinkommens über eine verstärkte Wirtschaftsunion, WD 3 – Verfassung und Verwaltung – 370/11, 21. Dezember 2011, 2011, S. 7 ff. 25 BVerfGE 123, 267 (356). 26 BVerfGE 123, 267 (347). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 7 übertragen werden. Aus der Ausübung bereits übertragener Kompetenzen dürfen keine weiteren Zuständigkeiten für die EU begründet und eine weitgehende Verselbstständigung politischer Herrschaft muss vermieden werden. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung enthält insoweit nationale Verfassungsprinzipien27. 3.2. Kontrollaufgabe des Bundesverfassungsgerichts Die Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung europäischer Rechtsakte sind beschränkt 28. Seine Kontrollaufgabe erstreckt sich darauf, ob Handlungen europäischer Organe und Einrichtungen auf ersichtlichen Kompetenzüberschreitungen beruhen (Ultra-vires Kontrolle)29 oder den nicht übertragbaren Bereich der Verfassungsidentität betreffen (Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 1 und Art. 20 GG)30. Auch das Vorliegen von Verstößen gegen Grundrechte durch unionsrechtlich determinierte Umsetzungsakte prüft das Bundesverfassungsgericht nach seiner Solange-Rechtsprechung31 zurückhaltend. Jedenfalls dort, wo das Unionsrecht den Mitgliedstaaten eigenverantwortlich auszufüllende Spielräume belässt, nimmt es diese Grundrechtsprüfung jedoch vor32. Die Ultra-vires-Kontrolle ist europarechtsfreundlich auszuüben33; sie kommt nur in Betracht, wenn ersichtlich ist, dass Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind34. Der Kompetenzverstoß muss dabei hinreichend qualifiziert sein; dies ist der Fall, wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in einer spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG)35. In seinem OMT-Vorlagebeschluss hat das Bundesverfassungsgericht jüngst betont, dass die nationale Ultra-vires Kontrolle im Hinblick auf Art. 20 Abs. 1 und 2 GG unverzichtbar ist, da andernfalls die Disposition über die vertraglichen Grundlagen auch insoweit auf die Organe und sonstigen Stellen der EU verlagert würde, als deren Rechtsverständnis im praktischen Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe36. 27 BVerfGE 123, 267 (350). 28 Vgl. hierzu bereits Ausarbeitung WD 3 – 370/11 (Fn. 24), S. 10 f. 29 BVerfGE 123, 267 (353); 134, 366, juris Rn. 22 ff. 30 BVerfGE 134, 366, juris Rn. 22, 27. 31 BVerfGE 37, 271 – Solange I; 73, 339 – Solange II. 32 BVerfGE 118, 79 (95). 33 BVerfGE 123, 267 (354); 126, 286 (303). 34 BVerfGE 123, 367 (353, 400); 128, 286 (304); 134, 366- juris, Rn. 24. 35 BVerfGE 126, 286 (304). 36 BVerfGE 134, 366 – juris Rn. 26 mit Hinweis auf BVerfGE 123, 267 (354 f.); 126, 286 (302 ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 8 Im Rahmen der Identitätskontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der Europäischen Union berührt sind37. Eine derartige Maßnahme kann nicht auf einer primärrechtlichen Grundlage beruhen , weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der EU keine Hoheitsrechte übertragen darf, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge38. 4. Das Budgetrecht als ein Kernbereich der Verfassungsidentität Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen39 müssen sich also in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten40 und den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG wahren41. 4.1. Kernbereichskonkretisierung in der Lissabon-Entscheidung Zur Konkretisierung dieser unantastbaren Kernbereiche hat das Bundesverfassungsgericht 2009 in seiner Lissabon-Entscheidung festgestellt, dass das Demokratieprinzip und das von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 strukturell geforderte Subsidiaritätsprinzip verlangen, gerade in zentralen politischen Bereichen des Raumes persönlicher Entfaltung und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse , die Übertragung und die Ausübung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union in vorhersehbarer Weise sachlich zu begrenzen42. Als in diesem Sinne besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates verweist das Bundesverfassungsgericht auf folgende fünf Kernbereiche: (1) Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht, (2) Verfügungen über das Gewaltmonopol polizeilich (innen) und militärisch (außen) (3) fiskalische Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand (4) die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie (5) kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften43. 37 BVerfGE 123, 267 (353 f.); 134, 366 – juris, Rn. 27. 38 BVerfGE 134, 366 – juris, Rn. 27. 39 Für alles BVerfGE 123, 267 (267 – Leitsatz; 353 f.). 40 Mit Hinweis auf BVerfGE 58, 1 ( 30 f.); 75, 223 (235, 242); 89, 155 (188). 41 Mit Hinweis auf BVerfGE 113, 273 (296). 42 BVerfGE 123, 267 (359). 43 BVerfGE 123, 267 (359). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 9 Das vorliegend interessierende Budgetrecht des Bundestages (3) ist nach diesen Kriterien in seinem substantiellen Bestimmungsgehalt verletzt, wenn die Festlegung über die Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde44. Nach den Grundsätzen der Lissabon-Entscheidung bedingen Demokratieprinzip (Art. 20 GG) und Wahlrecht (Art. 38 GG), dass der Deutsche Bundestag dem Volk gegenüber verantwortlich über die Summe der Belastungen der Bürger und wesentliche Ausgaben des Staates entscheiden muss45. Dabei stellt das Gericht fest, dass zwar nicht jede haushaltwirksame europäische oder internationale Verpflichtung die Gestaltungsfähigkeit des Bundestages als Haushaltsgesetzgeber gefährdet, da zu der vom Grundgesetz erstrebten Öffnung der Rechts- und Sozialordnung und zur europäischen Integration die Anpassung an Vorgaben und Bindungen gehört, die der Haushaltsgesetzgeber als nicht unmittelbar beeinflussbare Faktoren in die eigene Planung einstellen muss46. Es muss jedoch sichergestellt sein, dass Entscheidungen, die die Gesamtverantwortung betreffen, mit ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben noch im Deutschen Bundestag getroffen werden können47. 4.2. Verfassungsrelevante Kompetenzübertragungen – Maastricht und die Verselbstständigung der Währungspolitik Im Bereich der Währungspolitik hat das Bundesverfassungsgericht 1993 die umfassende Übertragung von Hoheitsrechten als verfassungsgemäß bestätigt. Mit dem Unionsvertrag wurden die Einflussmöglichkeiten des Bundestages und damit der Wähler auf die Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch europäische Organe insoweit nahezu vollständig zurückgenommen, als die Europäische Zentralbank mit Unabhängigkeit gegenüber der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten ausgestattet wurde48. Das Bundesverfassungsgericht sah hierein eine Einschränkung der von den Wählern in den Mitgliedstaaten ausgehenden demokratischen Legitimation, die das Demokratieprinzip berühre49. Diese sei jedoch mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar, da der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der Ergänzung des Art. 88 GG50 den Willen gehabt habe, für die im Unionsvertrag vorgesehene Währungsunion eine verfassungsrechtliche Grundlage zu schaffen, die Einräumung der damit 44 BVerfGE 123, 267 (361). 45 BVerfGE 123, 267 (361). 46 BVerfGE 123, 267 (361 f.). 47 BVerfGE 123, 267 (362); vgl. grundsätzlich zu diesen sich aus der Lissabon Entscheidung ergebenden Maßstäben WD 3 – Ausarbeitung 370/11 (Fn. 24), S. 8. 48 Vgl. insoweit Art. 107 EGV, BVerfGE 89, 155 (208). 49 BVerfGE 89, 155 (208). 50 Art. 88 GG in der bis 1992 gültigen Fassung lautete: „Der Bund errichtet eine Währungs- und Notenbank als Bundesbank.“ Art. 88 GG in der seit dem 25.12.1992 gültigen Fassung lautet: „Der Bund errichtet eine Währungs - und Notenbank als Bundesbank. Ihre Aufgaben und Befugnisse können im Rahmen der Europäischen Union der Europäischen Zentralbank übertragen werden, die unabhängig ist und dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 10 verbundenen Befugnisse jedoch auch auf diesen Fall zu begrenzen51. Diese Modifikation des Demokratieprinzips im Dienste der Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösungsvertrauens sei vertretbar, weil es der Besonderheit Rechnung trage, dass eine unabhängige Zentralbank den Geldwert und damit die allgemeine ökonomische Grundlage für die staatliche Haushaltspolitik sichere52. Ausdrücklich weist das Bundesverfassungsgericht jedoch darauf hin, dass die Verselbstständigung der Währungspolitik in die Hoheitskompetenz einer unabhängigen Europäischen Zentralbank nur insoweit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Modifizierung des Demokratieprinzips genüge53, sich diese Verselbstständigung jedoch nicht auf andere Politikbereiche übertragen lasse54. 4.3. Grundsätzlich asymmetrische Ausrichtung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) Die letztgenannten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Maastricht-Entscheidung deuten auf die Besonderheit der im Vertrag von Maastricht vorgesehenen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) hin55: Die Übertragung der Währungspolitik auf die Union erfolgte bei gleichzeitigem Verbleiben der Kompetenzen für die allgemeine Wirtschaftspolitik einschließlich der Finanzpolitik in den Händen der Mitgliedstaaten („asymmetrische Architektur“ der EU-Verträge )56. Die hierin angelegte Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft hat das Bundesverfassungsgericht zunächst 1993 als Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes bezeichnet57 und gleichzeitig festgestellt, dass der sachliche Zusammenhang zwischen der Währungs- und Wirtschaftsunion keine die Verfassungswidrigkeit des Zustimmungsgesetzes bedingende Unbestimmtheit des Vertragsinhalts begründe58. Die Ergänzung um eine Europäische Wirtschaftsunion, die über eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft hinausgehe, setze ein Vertragsänderungsverfahren mit weiterer parlamentarischer Zustimmung voraus59. Nach dem Vertrag über die Europäische Union sei eine aus der Währungsunion folgende Wirtschafts- und/oder politische Union nicht vorgesehen; hierzu bedürfe es einer Vertragsänderung, die ohne die Entscheidung der nationalen staatlichen Organe 51 BVerfGE 89, 155 (208). 52 BVerfGE 89, 155 (208). 53 Vgl. BVerfGE 89, 155 (209) mit Hinweis auf BVerfGE 30, 1 (24); 84, 90 (121). 54 BVerfGE 89, 155 (209). 55 Vgl. grundsätzlich zu dieser Errichtung Infobrief der Wissenschaftlichen Dienste zu Überwachungs- und Sanktionsmechanismen der Wirtschafts- und Währungsunion, WD 11 – Europa – 140/10, 16. Juni 2010, 2010, S. 6 ff. 56 Vgl. zu dieser eigentlich vorgesehenen Grundstruktur Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste, Instrumente zur Stabilitätssicherung und Haushaltskontrolle in der EU, WD 11 – Europa – 53/12, 20. März 2012, 2012, S. 4 ff. 57 Vgl. BVerfGE 89, 155 (205). 58 BVerfGE 89, 155 (206). 59 BVerfGE 89, 155 (206). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 11 einschließlich des Deutschen Bundestages nicht zustande kommen könne60. Eine solche Entscheidung sei dann im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen politisch zu verantworten61. 5. Nationale Haushaltspolitik – WWU und Finanzkrise der Euroländer 5.1. Grundsätze: Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitik Um dem (vorhersehbaren)62 Spannungsverhältnis zwischen national gesteuerter Wirtschafts- und unional verantworteter Währungspolitik zu begegnen, sehen die Europäischen Verträge vor, die Mitgliedstaaten zu einer Koordinierung ihrer Wirtschaftspolitik zu verpflichten63. Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) soll die Konvergenz zwischen der vergemeinschafteten Geld- und Währungspolitik und den nationalen Wirtschaftspolitiken nach den Art. 119 bis 126 sichergestellt werden64. Hierzu bestimmt der Vertrag, dass die Mitgliedstaaten die grundlegenden Prinzipien der WWU einhalten, ihre nationalen Wirtschaftspolitiken koordinieren (Art. 121 Abs. 1 AEUV) und übermäßige öffentliche Defizite vermeiden müssen (Art. 126 Abs. 1 AEUV). Eine besondere Funktionsteilung zwischen den Organen und Institutionen der EU sowie die Regelungen des Verfahrens zur Feststellung und Beseitigung eines übermäßigen öffentlichen Defizits (Art. 126 Abs. 3 bis 13 AEUV), sollen diese Konvergenzbemühungen institutionell und prozedural absichern65. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise haben sich seit 2009 die Versäumnisse der Mitgliedstaaten bei der Einhaltung ihrer Verpflichtungen zur Koordinierung ihrer Wirtschafts- und Haushaltspolitik sowie zur Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite gezeigt66. Um dieser Krise zu begegnen, wurden auf EU-Ebene wie völkerrechtlich 60 BVerfGE 89, 155 (207). 61 BVerfGE 89, 155 (207). 62 Für „gewichtige Stimmen“, die bereits 1993 darauf hingewiesen haben, dass eine Währungsunion zwischen Staaten, die auf eine aktive Wirtschaft- und Sozialpolitik ausgerichtet sind, letztlich nur gemeinsam mit einer politischen, alle finanzwirtschaftlichen wesentlichen Aufgaben umfassenden Union, nicht aber unabhängig davon verwirklicht werden könne vgl. die Ausführungen in BVerfGE 89, 155 (206 f.). 63 Vgl. BVerfGE 89, 155 (204 f.) für die Beschreibung dieser Koordinierungs- und Kontrollfunktionen nach den Normen des bis zum 30. November 2009 gültigen Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV). 64 Vgl. Infobrief, WD 11 – 140/10 (Fn. 55), S. 7 f. 65 Vgl. im Einzelnen Infobrief, WD 11 – 140/10 (Fn. 55), S. 7. 66 Vgl. im Einzelnen Infobrief, WD 11 – 140/10 (Fn. 55), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 12 in den letzten Jahren verschiedene Reformpakete verabschiedet67, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz Gegenstand zahlreicher Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen war68. 5.2. Verfassungsrechtlich zulässige Selbstbeschränkung des Haushaltsgesetzgebers Die Verpflichtung des Haushaltsgesetzgebers auf eine bestimmte Haushalts- und Fiskalpolitik ist nicht von vornherein demokratiewidrig69. Mit der tatbestandlichen Konkretisierung und sachlichen Verschärfung der Regeln für die Kreditaufnahme von Bund und Ländern (vgl. Art. 109 Abs. 3, Abs. 5, Art. 109a, Art. 115 GG) hat der verfassungsändernde Gesetzgeber im Interesse langfristiger Erhaltung der demokratischen Gestaltungsfähigkeit seine Selbstbindung festgestellt 70. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Selbstbeschränkung in der Gegenwart als legitimes verfassungsgesetzgeberisches Ziel beurteilt, mit dem sich der Haushaltsgesetzgeber auf eine bestimmte Haushalts- und Fiskalpolitik verpflichte71. Diese Verpflichtung kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich auch auf der Basis des Unions- oder Völkerrechts erfolgen72. Die im AEUV niedergelegten Anforderungen an eine tragfähige Haushaltswirtschaft (Art. 123 bis Art. 126 und Art. 136 AEUV) und das unionale Sekundärrecht (Sixpack- Verordnungen73) begrenzten zwar den Spielraum des nationalen Gesetzgebers bei der Wahrnehmung seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung74; es stehe der Bundesrepublik jedoch frei, noch strengere staatliche Regelungen für die Haushaltspolitik einzuführen und sich auch entsprechend vertraglich zu verpflichten75: Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des 67 Vgl. die Darstellungen der Funktionen der Reformpakete insbesondere in Sachstand - WD 11 – 53/12 (Fn. 56); siehe auch Ausarbeitung WD 3– 370/11 (Fn. 24) und Infobrief, WD 11– 140/10 (Fn. 55). 68 Vgl. seit der Lissabon-Entscheidung nur BVerfGE 125, 358 (einstweilige Anordnung - eA); 126, 158 (eA) und 129, 124 (Hauptsache) zum Euro-Rettungsschirm; BVerfGE 129, 284 (eA) und 130, 318 (Hauptsache) zum Stabilisierungsmechanismus ; BVerfGE 131, 152 zu Unterrichtungspflichten des Bundestags im Zusammenhang mit dem ESM; BVerfGE 132, 195 (eA) und 135, 317 (Hauptsache) zum ESM sowie den OMT-Vorlagebeschluss BVerf GE 134, 366, über den nach der EuGH-Entscheidung (EuGH, Urteil vom 16.06.2015, C-62/14, Celex-Nr. 62014CJ0062) eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch aussteht. 69 BVerfGE 79, 311 (331 ff.); 119, 96 (137 ff.); 132, 195 (245). 70 BVerfGE 129, 124 (170); siehe auch BVerfGE 135, 317 – juris, Rn. 169. 71 Vgl. BVerfGE 135, 317 – juris, Rn. 168: Die Verpflichtung des Haushaltsgesetzgebers auf eine bestimmte Haushalts - und Fiskalpolitik ist – ungeachtet des auf prinzipielle rechtliche Reversibilität angelegten Demokratieprinzips aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG – nicht von vornherein demokratiewidrig, mit Hinweis auf BVerfGE 79, 311 (331 ff.); 119, 96 (137 ff.); 132, 195 (244 f.). 72 BVerfGE 132, 195 (245 f.). 73 Vgl. zu diesen näher die Ausführungen in Sachstand – WD 11 – 53/12 (Fn. 56); Ausarbeitung – WD 3 – 370/11 (Fn. 24) und Infobrief – WD 11 – 140/10 (Fn. 55). 74 BVerfGE 132, 195 (245 f.); 135, 317, juris Rn. 170 ff. 75 BVerfGE 132, 195 (246). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 13 Deutschen Bundestages werde seit dem Eintritt in die Dritte Stufe der WWU durch die Bestimmungen des Vertrages über die Europäische Union (EUV) und des AEUV abgesichert76. Diese Bestimmungen stünden der nationalen Haushaltsautonomie als einer wesentlichen, nicht entäußerbaren Kompetenz der unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamente der Mitgliedstaaten nicht entgegen, sondern setzten sie voraus77. 5.3. Überwachung durch EU-Organe nur innerhalb der unionsrechtlichen Zuständigkeit Zentrale Begründung für die Zulässigkeit derartiger, die Haushaltsautonomie einschränkender Selbstbindungen ist die Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft78, für deren Gewährleistung das Bundesverfassungsgericht verschiedene, auf Unionsebene geregelte Ge- und Verbote nennt79. In diesem Umfang seien auch Kontrollbefugnisse der EU-Organe – insbesondere der Europäischen Kommission und des Rates – verfassungsrechtlich zulässig und mit der Haushaltsautonomie des Bundestages vereinbar80. Der OMT-Vorlagebeschluss des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht jedoch, dass die im Rahmen der Kontrolle der Wirtschaftspolitik der Kommission und dem Rat zustehenden Kontrollbefugnisse (jedenfalls ohne Änderung des Primärrechts) nicht verfassungsrechtlich zulässig auf andere Europäische Institutionen übertragen werden könnten81. In dieser Entscheidung verweist das Bundesverfassungsgericht darauf, dass die Europäische Zentralbank (EZB) über ein grundsätzlich auf die Währungspolitik beschränktes Mandat verfüge82 und sich der OMT-Beschluss als überwiegend wirtschaftspolitische Maßnahme darstelle83. Vor diesem Hintergrund liege in dem OMT-Beschluss ein gegen das Grundgesetz verstoßender Ultra-vires Akt84. 76 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 167. 77 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 167 mit Hinweis auf BVerfGE 132, 195 (243), Rn. 114 ff. 78 BVerfGE 129, 124 (181). 79 BVerfGE 129, 124 (181): Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln öffentlicher Einrichtungen durch die EZB; Verbot der Haftungsübernahme und die Stabilitätskriterien für eine tragfähige Haushaltswirtschaft. 80 Vgl. für die verfassungsrechtlich zulässige Überwachungstätigkeit von Kommission (Art. 126 Abs. 2 Satz 1 AEUV) und Rat (Art. 126 Abs. 5 bis Abs. 14 AEUV) BVerfGE 134, 366 – juris, Rn. 75. 81 Vgl. die gesamte Entscheidung BVerfGE 134, 366. 82 BVerfGE 134, 366 – juris Rn. 56 ff. 83 Vgl. im Einzelnen BVerfGE 134, 366 – juris Rn. 69 ff. 84 Vgl. BVerfGE 134, 366 – juris Rn. 36 ff. für hinsichtlich des Vorliegens eines Ultra-vires Aktes geltenden Maßstäbe ; Rn. 55 ff. für die Subsumtion. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 14 5.4. Zulässigkeit der Loslösung vom Prinzip der Eigenständigkeit nationaler Haushalte? Im Interesse ihrer grundsätzlichen Stabilitätsausrichtung hat das Bundesverfassungsgericht jüngst auch die Umgestaltung der ursprünglichen Wirtschafts- und Währungsunion in begrenztem Umfang für verfassungsrechtlich zulässig erklärt85. Während in den Entscheidungen aus September 2011 zum Euro-Rettungsschirm86 und Januar 2014 zum OMT87 die konstitutive Eigenständigkeit der nationalen Haushalte für die gegenwärtige Ausgestaltung der Währungsunion88 betont wird, sieht das Bundesverfassungsgericht in der Aufnahme von Art. 136 Abs. 3 AEUV und der Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus eine grundlegende Umgestaltung der ursprünglichen Wirtschafts- und Währungsunion, „weil sich diese damit von dem bislang charakterisierenden Prinzip der Eigenständigkeit der nationalen Haushalte“ löse89. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sei diese Umgestaltung jedoch nur unter engen Voraussetzungen (hierzu sogleich) und im Hinblick darauf zulässig, dass mit ihr „die stabilitätsgerichtete Ausrichtung der Wirtschafts- und Währungsunion“ nicht aufgegeben werde90. 5.4.1. Durchgehende Legitimationskette Die im Anschluss an Art. 136 Abs. 3 AEUV eröffnete Möglichkeit, auf völkerrechtlicher Grundlage einen Stabilitätsmechanismus zu errichten, erklärt das Bundesverfassungsgericht lediglich deswegen als zulässig, weil der Bundestag keine haushaltspolitischen Ermächtigungen auf andere Akteure übertrage91. Um dies zu gewährleisten, müsse sichergestellt werden, dass der Bundestag zur Wahrnehmung seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung unmittelbaren Einfluss auf den deutschen Vertreter im Gouverneursrat nehme92 und der Legitimationszusammenhang zwischen dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und dem Parlament unter keinen 85 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 178. 86 BVerfGE 128, 124. 87 BVerfGE 134, 366. 88 Vgl. BVerfGE 129, 124 (181); ähnlich diese Grundlagen wiederholend BVerfGE 134, 366 – juris Rn. 39. 89 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 180. 90 BVerfGE 135, 317 – juris, Rn. 180; als in diesem Sinne verfassungsrechtlich wesentliche Bestandteile der Währungsunion nennt das Bundesverfassungsgericht die Unabhängigkeit der EZB (Art. 130 AEUV), die Verpflichtung der EZB auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität (Art. 127 AEUV), das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung (Art. 123 AEUV) und die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Haushaltsdisziplin (Art. 126, 136 Abs. 1 AEUV). 91 BVerfGE 132, 195 (249). 92 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 191. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 15 Umständen unterbrochen werde93. Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit von einer „verfassungsrechtlich geforderten Vetoposition“ Deutschlands94. Die Entscheidung verdeutlicht, dass bei einer Verlagerung haushaltspolitischer Entscheidungen auf die intergouvernementale Ebene eine ständige Legitimationskette zwischen Bundestag und Europäischem Entscheidungsorgan (bspw. über einen Deutschen gouvernementalen Vertreter) gewährleistet sein muss95. Zur Verwirklichung und Sicherstellung dieser Kontrollrechte hat das Bundesverfassungsgericht auch verlangt, dass eine umfassende Unterrichtung des Bundestages über die Vorgänge innerhalb des ESM sichergestellt werden muss96. Hieraus erhellt, dass auch für zukünftige Verlagerungen haushaltspolitischer Entscheidungen auf die EU-Ebene, die die nationale Gesamtverantwortung und die konstitutive Eigenständigkeit der Haushalte der EU-Mitgliedstaaten betreffen, sichergestellt werden muss, dass der Bundestag einen bestimmenden Einfluss auf das Handeln des Kontrollorgans der Europäischen Union nehmen kann97. Entscheidungen, die für die haushaltspolitische Gesamtverantwortung eine Rolle spielen, müssen über eine unmittelbare parlamentarische Rückkopplung verfügen98. Diese ständigen Beteiligungsrechte müssen mit der Vertragsentwicklung Schritt halten, so dass die effektive Wahrnehmung der parlamentarischen Haushalts- und Integrationsverantwortung in jedem Fall sichergestellt ist99; hierzu gelten die allgemeinen Grundsätze für demokratische Legitimation der Exekutive100. 5.4.2. Begrenzung der Haftung der Höhe nach? Im Hinblick darauf, dass es mit Demokratieprinzip und haushaltspolitischer Gesamtverantwortung unvereinbar wäre, wenn der Bundestag seine Budgetverantwortung durch haushaltspolitische Ermächtigungen vollständig auf andere Akteure übertragen würde101, müssen Zustimmungsund Ablehnungsrechte sowie Kontrollbefugnisse des Bundestages umso wirksamer ausgestaltet 93 BVerfGE 132, 195 (264); 135, 317 – juris Rn. 190 94 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 193. 95 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 196 ff., vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Verpflichtung der Bundestages, rechtzeitige Zahlungen sicherzustellen, um eine Aussetzung seines Stimmrechts zu vermeiden, Rn. 200. Das BVerfG stellt an dieser Stelle auf die faktischen Möglichkeiten und Verpflichtungen des Bundestages zur Leistung der Liquidität ab. 96 BVerfGE 132, 195 (257 ff.). 97 BVerfGE 123, 267 (356, 344 ff.), 135, 317 – juris Rn. 224. 98 Vgl. für diese unmittelbare parlamentarische Rückkopplung durch den Vertreter der Bundesregierung im Gouverneursrat des ESM, der dem Bundestag verantwortlich ist BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 225. 99 BVerfGE 132, 195 (272); 135, 317 – juris Rn. 226. 100 BVerfGE 135, 317 – juris, Rn. 237 ff. 101 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 163. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 16 werden, je größer das finanzielle Ausmaß von Haftungsübernahmen oder Verpflichtungsermächtigungen ist102. Insbesondere darf sich der Bundestag keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern , die – sei es aufgrund ihrer Gesamtkonzeption, sei es aufgrund einer Gesamtwürdigung der Einzelmaßnahmen – zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können103. Hierüber hinausgehend hat das Bundesverfassungsgericht jedoch auch in seiner jüngsten Entscheidung offen gelassen, ob und inwieweit sich unmittelbar aus dem Demokratieprinzip eine justiziable Begrenzung der Übernahme von Zahlungsverpflichtungen oder Haftungszusagen entnehmen lässt104. Eine unmittelbar aus dem Demokratieprinzip folgende Obergrenze könne allenfalls dann überschritten sein, wenn die Haushaltsautonomie des Bundestages zumindest für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch vollständig leerliefe 105. Dies komme jedoch nur bei einer evidenten Überschreitung äußerster Grenzen in Betracht 106. Den insoweit bestehenden weiten Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers habe das Bundesverfassungsgericht zu respektieren107. 6. Grenzen des Grundgesetzes für haushaltsrelevante Aufsichts- und Kontrollrechte der Europäischen Union Die Ausübung von Aufsichtsrechten durch die Europäische Union ist verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden. Die Zulässigkeit lässt sich insoweit bereits mit dem in Art. 4 Abs. 3 EUV festgeschriebenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit begründen. Bestehende Aufsichtsrechte insbesondere der EU-Kommission hat das Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz vereinbar bestätigt (vgl. 5.3.). Auch gegen die Übertragung der Aufsichtsrechte auf andere, möglicherweise neu zu schaffende EU-Organe, bestehen jedenfalls keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Anders verhält es sich mit umfassenden Kontrollrechten der Europäischen Union insbesondere gegenüber den nationalen Haushalten. Wenngleich das Bundesverfassungsgericht in jüngster Rechtsprechung unter den aufgezeigten (vgl. 5.4.) strengen Bedingungen die partielle Loslösung vom Prinzip der Eigenständigkeit der nationalen Haushalte als noch mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hat, verdeutlichen auch die jüngsten Entscheidungen108, dass ein unmittelbarer 102 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 163. 103 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 163. 104 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 174. 105 BVerfGE 129, 124 (183); 132, 195 (242). 106 BVerfGE 135, 317 – juris, Rn. 174. 107 Vgl. hierzu BVerfGE 135, 317 – juris, Rn. 184. 108 Vgl. für die Rechtsprechung bis Ende 2011 – BVerfGE 129, 284: Ausarbeitung WD 3 – 370/11 (Fn. 24). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 17 Durchgriff von EU-Organen auf die nationale Haushaltsgesetzgebung mit dem Grundgesetz unvereinbar wäre109. Auch in einem System intergouvernementalen Regierens müssen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Repräsentanten des Volkes die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten110. „Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden“111. Der Bundestag muss der Ort bleiben, an dem – auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten – eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird112, das Parlament darf insoweit nicht in die Rolle des bloßen Nachvollzugs haushaltspolitischer Entscheidungen geraten113. Eine unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigung anderer Akteure wäre verfassungswidrig114. Eine notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Freiräume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG) besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmungen seitens der Europäischen Organe und anderer Mitgliedstaaten der EU trifft und dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse bleibt115. Danach ist auch eine nur teilweise Übertragung der Budgetverantwortung ausgeschlossen116: Organen der EU die Befugnis zu verleihen, an den Bundestag bindende Vorgaben für die Gestaltung des Haushalts zu machen117, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Die hierin liegende Übertragung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung ist der Kompetenz des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen118. Dass etwa ein Kommissionsmitglied als „Währungskommissar“ das Recht erhielte, einen Bundeshaushalt zurückzuweisen, lässt das Grundgesetz nicht zu119. 109 BVerfGE 132, 195 (283, 285). 110 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 162. 111 BVerfGE 129, 124 (180). 112 BVerfGE 129, 124 (177); 130, 318 (344); 131, 152 (205 f.); 132, 195 (239). 113 BVerfGE 129, 124 (178 f.); 130, 318 (344 f.); 132, 195 (240). 114 BVerfGE 135, 317 – juris Rn. 163. 115 BVerfGE 129, 124 (179 f.); 132, 195 (240 f.); 135, 317 – juris Rn. 164. 116 Vgl. für die Europäische Kommission BVerfGE 132, 195 (285). 117 Vgl. ebenfalls für die Europäische Kommission BVerfGE 135, 317 – juris, Rn. 244. 118 Vgl. Huber, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 7. Auflage 2014, Art. 146 Rn. 18, der darauf hinweist , dass diese Hoheitsübertragung der unmittelbaren Legitimation durch das Volk bedürfte. 119 Hölscheidt, Parlamentarische Kontrolle in der Eurokrise, in: Zeh (Hrsg.), Parlamentarische Kontrolle und Europäische Union, 2013, 105 (122). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 183/15 Seite 18 Derartiges könnte allenfalls unter den Voraussetzungen einer Verfassungsänderung nach Art. 146 GG zulässig sein120. Ende der Bearbeitung 120 Vgl. hierzu umfassend Ausarbeitung WD 3– 370/11 (Fn. 24), S. 12 ff.