Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 3 - 183/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof Ausarbeitung WD 3 - 183/06 Abschluss der Arbeit: 10. Mai 2006 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. Inhalt 1. Einleitung 3 2. Zuständigkeit für Verfahren betreffend die Kompetenz- und Grundrechtskonformität von Gemeinschaftsrecht und Rechtsakten der Gemeinschaft 3 2.1. Sicht des BVerfG 4 2.2. Sicht des EuGH 5 3. Vorlageberechtigung und -verpflichtung nationaler Gerichte 5 - 3 - 1. Einleitung Sowohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) haben durch die sie konstituierenden Rechtssätze Kompetenzen zugewiesen bekommen. Die Zuständigkeit des BVerfG ist in Art. 93 Grundgesetz (GG) abschließend geregelt. Die Zuständigkeiten des EuGH sind in den Art. 226 ff. des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) geregelt. In Art. 240 EGV ist normiert , dass – soweit keine Zuständigkeit des Gerichtshofes auf Grund des EGV besteht – Streitsachen, bei denen die Gemeinschaft Partei ist, der Zuständigkeit der einzelstaatlichen Gerichte nicht entzogen sind. Es bestehen daher klare Kompetenzzuweisungen bezüglich Streitigkeiten, die entweder rein innerstaatlicher Natur sind oder bei denen die Gemeinschaft Partei ist. Problematisch sind jedoch die Fälle, in denen es um die Frage von Grundrechtskonformität von Gemeinschaftsrecht geht, namentlich welches Gericht in diesen Fällen die letzte Instanz darstellt. Daneben stellt sich die Frage, wann und inwieweit nationale Gerichte beim EuGH vorlageberechtigt oder sogar -verpflichtet sind. 2. Zuständigkeit für Verfahren betreffend die Kompetenz- und Grundrechtskonformität von Gemeinschaftsrecht und Rechtsakten der Gemeinschaft Dem EuGH ist nach Art. 220 EGV die Aufgabe zugewiesen, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern und nach Art. 230 EGV über die Rechtmäßigkeit von Rechtsakten der Gemeinschaft zu wachen. Über die – vormals durch Art. 24 GG, heute durch Art. 23 GG – erfolgte Übertragung von Rechtsschutzaufgaben auf die Gemeinschaft gelten jedoch die immanenten verfassungsrechtlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten auch insoweit. Der EuGH ist daher auf die ihm durch den Vertrag zugewiesenen Aufgaben beschränkt. 1 Zu diesen Aufgaben zählt auch die Entscheidung bei Rechtsstreitigkeiten darüber, ob sich Akte von Gemeinschaftsorganen innerhalb der Grenzen der ihnen übertragenen 1 Günter Hirsch, Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht – Kooperation oder Konfrontation , NJW 1996, 2457, [2462]. - 4 - Befugnisse halten oder ob es sich um unzulässige Überschreitungen handelt (so genannte ausbrechende Rechtsakte). Problematisch ist allerdings die Frage, ob Entscheidungen des EuGH der Kontrolle nationaler Gerichte unterliegen können, wenn beispielsweise Grundsätze der nationalen Verfassungen berührt werden. 2.1. Sicht des BVerfG Das BVerfG hat diese Problematik in verschiedenen Entscheidungen – angefangen mit dem „Solange I-Beschluss“2 1974 über den „Solange II-Beschluss“3 1986 bis hin zum „Maastricht-Urteil“4 1993 - behandelt und folgende Rechtsansicht entwickelt: Solange die EG, insbesondere durch die Rechtsprechung des EuGH, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft generell gewährleistet , der dem vom GG als unabdingbar gebotenen Schutz im Wesentlichen gleichzusetzen ist, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit nicht mehr ausüben und dieses (vom EuGH gesprochene) Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des GG überprüfen.5 Das BVerfG behält sich jedoch vor, bei in tatsächlicher Hinsicht nicht ausreichendem Grundrechtsschutz selbst die letztinstanzliche Entscheidungsbefugnis zu besitzen. Im „Maastricht-Urteil“ spricht das BVerfG von einer Art Kooperationsverhältnis zum EuGH, wobei eine Art Arbeitsteilung vorgenommen wird.6 Danach garantiert der EuGH den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte EU-Gebiet, das BVerfG beschränkt sich auf die generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards .7 Für unabdingbar hält das BVerfG dabei den Wesensgehalt der Grundrechte. 2 BVerfGE 37, 271. 3 BVerfGE 73, 339. 4 BVerfGE 89, 155. 5 BVerfGE 73, 339. 6 Hirsch, NJW 1996, 2459. 7 BVerfG NJW 1993, 3047, [3048]. - 5 - 2.2. Sicht des EuGH Aus Sicht des EuGH kann dem EG-Recht keine nationale Rechtsvorschrift vorgehen, auch keine Verfassungsnorm und insofern auch keine Rechtsprechung eines nationalen Gerichtes. Dies wird damit begründet, dass die EG eine eigene Rechtsordnung, eigene Organe, eine eigene Rechts- und Geschäftsfähigkeit sowie internationale Handlungsfähigkeit und eigene Hoheitsrechte besitzt. Die Entscheidungen des EuGH sind demnach als endgültig zu betrachten. 3. Vorlageberechtigung und -verpflichtung nationaler Gerichte Wie bereits ausgeführt, ist der EuGH der letztinstanzliche Entscheidungsträger darüber, wie Gemeinschaftsrecht anzuwenden und auszulegen ist. Nationale Gerichte haben daher die Möglichkeit, zum Zwecke einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedsstaaten bei Auslegungs- und Anwendungsfragen von Gemeinschaftsrecht über das so genannte Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EGV die Frage dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen. Handelt es sich bei dem nationalen Gericht um ein Gericht, gegen dessen Entscheidung mit innerstaatlichen Rechtsmitteln nicht mehr vorgegangen werden kann, ist das nationale Gericht sogar zur Vorlage beim EuGH verpflichtet. Diese Verpflichtung trifft auch Gerichte, welche die entscheidungserhebliche Norm des Gemeinschaftsrechts für ungültig halten,8 da die nationalen Gerichte keine Verwerfungskompetenz von EG-Recht haben.9 Eine weitere Ausnahme liegt vor, wenn das Gericht die Aussetzung der Vollziehung eines auf sekundärem Gemeinschaftsrecht beruhenden nationalen Verwaltungsakts anordnen will. Hier muss dem EuGH vorgelegt werden, damit dieser die Frage nach der Gültigkeit des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsaktes behandeln kann.10 Das BVerfG hat die Verpflichtung zur Vorlage zwar grundsätzlich anerkannt; es hat bislang jedoch in keinem Fall eine Notwendigkeit dazu gesehen.11 8 EuGH Slg. 1987, 4199 = NJW 1988,1451, „Foto-Frost-Entscheidung“. 9 Vgl. http://www.jurawelt.com/studenten/skripten/eur/1823?stylelite=1 (Stand: 08.05.2006). 10 EuGH Slg. 1991 Band I, 415, „Zuckerfabrik Suderdithmarschen-Entscheidung“. 11 Martin Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgesetz, Köln 2005, 248. - 6 - Eine ausnahmsweise Befreiung von der Vorlagepflicht eines letztinstanzlich entscheidenden Gerichtes liegt vor, wenn die Rechtsfrage bereits vom EuGH entschieden wurde oder die Auslegung derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt.12 Weitere Voraussetzung für eine Vorlage ist, dass die an den EuGH zu stellende Rechtsfrage für die Entscheidung des nationalen Gerichts entscheidungserheblich ist. 12 EuGH Slg. 1982, 3415 = NJW 1983, 1257, „CILFIT-Entscheidung“.