Deutscher Bundestag Fragen zur Souveränitätsverlagerung auf die Europäische Union Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 181/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 2 Fragen zur Souveränitätsverlagerung auf die Europäische Union Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 181/12 Abschluss der Arbeit: 10. Juli 2012 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 3 1. Einleitung Der Deutsche Bundestag hat am 29. Juni 2012 den Gesetzentwurf zum Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion1 (im Folgenden : Fiskalvertrag) in der vom Haushaltsausschuss geänderten Fassung2 angenommen. Desweiteren wurde der Gesetzentwurf zum Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus3 (ESM) in der vom Haushaltsausschuss geänderten Fassung4 angenommen . Ebenfalls zugestimmt hat der Deutsche Bundestag dem ESM-Finanzierungsgesetz5 und der Änderung des Art. 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Noch am Abend des 29. Junis wurden diverse Verfassungsbeschwerden und Organklagen beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sowie Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen diese Gesetze eingereicht, so u.a. von Abg. Peter Gauweiler (CSU), der Bundestagsfraktion „DIE LINKE.“ und dem Verein „Mehr Demokratie e.V.“. Das BVerfG hat für den 10. Juli eine mündliche Verhandlung über die Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz angesetzt. Der Bundespräsident hat zugesagt, bis zur Entscheidung über die Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz die Gesetze weder zu unterzeichnen noch ausfertigen sowie im Falle der völkerrechtlichen Verträge nicht die Ratifikationsurkunde zu hinterlegen. In den anderen EU-Mitgliedstaaten ist das parlamentarische Ratifizierungsverfahren zu ESM und Fiskalvertrag nur zum Teil beendet.6 Die Ausarbeitung untersucht diverse Fragen der Souveränitätsverlagerung, die sich im Zusammenhang mit der Verabschiedung der o.g. Gesetze stellen. 2. Legitimieren die Staatsvölker noch die EU oder überlagert die Fiskalunion die endgültige Souveränitätsverlagerung auf die EU? Seit Beginn der Eurokrise taucht in den politischen Diskussionen immer wieder der Begriff der „Fiskalunion“ auf. So hat Bundesfinanzminister Schäuble beim G-20-Treffen der Finanzminister und Notenbankgouverneure in Paris angekündigt, dass Deutschland zur Bekämpfung der Eurokrise Änderungen der EU-Verträge durchsetzen wolle, die „in Richtung einer Fiskalunion“ gehen .7 Bei der „Fiskalunion“ handelt es sich nicht um einen feststehenden Rechtsbegriff, vielmehr 1 BT-Drs. 17/9046. 2 BT-Drs. 17/10125, 17/10171. 3 BT-Drs. 17/9045. 4 BT-Drs. 17/10126, 17/10172. 5 BT-Drs. 17/9048. Vom Haushaltsausschuss geänderte Fassung BT-Drs. 17/10126, 17/10172. 6 Siehe Übersicht in den Kurzmitteilungen aus Brüssel Nr. 2/2012 vom 29.06.2012 des Referats PA 1. 7 Schubert, Christian, „Schäuble für europäische Fiskalunion“, FAZ Wirtschaft online vom 15. Oktober 2011, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/g-20-treffen-schaeuble-fuer-europaeische-fiskalunion-11494236.html (letzter Abruf 31. Oktober 2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 4 werden verschiedene Konzepte diskutiert, um Instrumente zu finden, die zu einer stärkeren Disziplin der EU-Mitgliedstaaten in der Fiskalpolitik führen sollen.8 Ein Vorschlag sieht vor, den EU-Währungskommissar mit denselben Befugnissen auszustatten wie den EU-Wettbewerbskommissar. Damit könnten Entscheidungen im Defizit- und sog. Ungleichgewichtsverfahren direkt von der zuständigen EU-Behörde getroffen werden. Nach einem anderen Vorschlag sollte ein EU-Währungskommissar auch befugt sein, Defizitsünder unter bestimmten Bedingungen vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu bringen. Ein noch weitergehender Vorschlag würde den EU-Währungskommissar ermächtigen, direkt in die Haushaltspolitik von Mitgliedstaaten einzugreifen, die internationale Hilfskredite erhalten.9 Ob und in welcher Form eine sogenannte Fiskalunion kommen wird, ist bisher nicht absehbar. Der Fiskalvertrag selbst beinhaltet nicht die Gründung einer Fiskalunion. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich mit dem Fiskalvertrag unter anderem dazu, dass ihre staatlichen Haushalte ausgeglichen sind oder einen Überschuss aufweisen.10 Das jährliche strukturelle Defizit darf generell nicht 0,5% des nominellen Bruttoinlandsprodukts überseigen.11 Eine auf Verfassungs- oder vergleichbarer Ebene in den einzelstaatlichen Rechtsordnungen verankerte „Schuldenbremse“ soll einen automatischen Korrekturmechanismus enthalten, der im Fall von Abweichungen auszulösen ist.12 Wenn der Schuldenstand eines Vertragsstaates mehr als 60% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt, verpflichtet sich dieser Vertragsstaat pro Jahr ein Zwanzigstel des über diese Grenze hinausgehenden Schuldenstandes abzubauen.13 3. Kann der souveräne Staat im Ergebnis der europäischen Staatsschuldenkrise ohne Transfer seines Budgetrechts auf die EU die heutigen Probleme nicht mehr lösen? Bisher gibt es keinen Transfer des Budgetrechts der einzelnen Mitgliedstaaten auf die EU. Vielmehr versuchen die Mitgliedstaaten durch Maßnahmen wie die Euro-Rettungsschirme und den Fiskalvertrag die wirtschaftliche Situation in den Griff zu bekommen. 8 Siehe Mussler, Werner, „Richtung Fiskalunion“, FAZ vom 20. Oktober 2011; Münchau, Wolfgang, „Die Fiskalunion muss kommen“, Financial Times Deutschland vom 3. August 2011. 9 Mussler, Werner, „Richtung Fiskalunion“, FAZ vom 20. Oktober 2011. 10 Art. 3 Abs. 1 Bst. a) Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalvertrag). 11 Art. 3 Abs. 1 Bst. b) Fiskalvertrag. 12 Art. 3 Abs. 2 Fiskalvertrag. 13 Art. 4 Fiskalvertrag. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 5 4. Wie weit darf Deutschland nach dem Grundgesetz bei der Entwicklung der EU mitwirken, wenn das Budgetrecht vom Nationalstaat auf die EU übergeht? Fraglich ist, ab welchem Stadium davon ausgegangen werden müsste, dass ein „europäischer Bundesstaat“ unter Aufgabe nationaler Staatlichkeit gegründet würde. In der rechtswissenschaftlichen Literatur finden sich für die Beantwortung dieser Frage wenig konkrete Anhaltspunkte. Es wird jedoch – auch vom BVerfG14 – ein systematischer Zusammenhang zwischen der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG und Art. 146 GG hergestellt: Art. 146 GG erlaube, was Art. 79 Abs. 3 GG verbiete.15 Geht man – wie auch Huber16 und Voßkuhle17 – von dieser Prämisse aus, könnten die vom BVerfG in seinen Lissabon- und Rettungsschirm-Urteilen herausgearbeiteten „europafesten “ Teile der Verfassung, die die Verfassungsidentität ausmachen und der Ewigkeitsgarantie unterliegen, nur durch Verfassungsablösung über eine neue Verfassung letztlich auf die EU übertragen werden. In materieller Hinsicht gestattet Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG nur die Übertragung einzelner Hoheitsrechte , nicht aber der allein einem Staat zukommenden umfassenden Hoheitsgewalt.18 Somit ist eine Selbstaufgabe der Bundesrepublik Deutschland als souveräner Staat zugunsten eines europäischen Bundesstaates ausgeschlossen.19 Die auf die EU übertragenen Hoheitsrechte müssen hinreichend in den Verträgen bestimmt sein und im Zustimmungsgesetz hinreichend normiert sein.20 Die Erteilung einer Kompetenz-Kompetenz ist nicht erlaubt. Das BVerfG hat in seinem Maastricht-Urteil festgestellt, dass Art. 38 GG einer Übertragung von Hoheitsrechten an die EU stets dann entgegensteht, wenn die durch die Wahl bewirkte Legitimation und Einflussnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so entleert wird, dass das demokratische Prinzip, soweit es durch Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird. Dem Deutschen Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben.21 In seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon22 hat das BVerfG diese Grundsätze bestätigt und wei- 14 BVerfGE 123, 267 (349) = NJW 2009, S. 2267, Rn. 232: „Nach Maßgabe der Integrationsermächtigung des Art. 23 I GG in Verbindung mit der Präambel, Art. 20, Art. 79 III und Art. 146 kann es für die europäische Unionsgewalt kein eigenständiges Legitimationssubjekt geben, das sich unabgeleitet von fremden Willen und damit aus eigenem Recht gleichsam auf höherer Ebene verfassen könnte.“ 15 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, 2. Aufl. 2008, Art. 146 Rn. 16; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, 11. Aufl. 2011, Art. 146, Rn. 5; von Campenhausen/Unruh, in: von Mangold/Klein/Starck, GG Kommentar, Band 3, 6. Aufl. 2010, Art. 146 Rn. 16. 16 Huber, Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof als Hüter der Gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung , Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 1991, S. 210 (250). 17 Focus vom 7. November 2011, „Wir können uns nicht wegducken“, Interview mit Andreas Voßkuhle. 18 Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 23 Rn. 10. 19 BVerfGE 123, 267, 347 f. 20 BVerfGE 75, 223, 242; 89, 155, 194 ff; 123, 267, 349 ff. 21 BVerfGE 89, 155, 186. 22 BVerfGE 123, 267. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 6 ter ausgeformt. Tragender Gedanke hierzu ist die dauerhafte Integrationsverantwortung, die den deutschen Verfassungsorganen obliegt und die darauf gerichtet ist, bei der Übertragung von Hoheitsrechten und der Ausgestaltung der europäischen Entscheidungsverfahren dafür Sorge zu tragen, dass sowohl das politische System der Bundesrepublik Deutschland als auch das der EU demokratischen Grundsätzen im Sinne des Art. 20 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG entspricht .23 Die „integrationsfeste Verfassungsidentität“ des GG muss gewahrt bleiben,24 nur in diesem Umfang dürfen gemäß Art. 23 Abs. 1 GG Hoheitsrechte übertragen werden. Aus der Ausübung bereits übertragener Kompetenzen dürfen keine weiteren Zuständigkeiten für die EU begründet und eine weitgehende Verselbstständigung politischer Herrschaft muss vermieden werden . Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung enthält insoweit nationale Verfassungsprinzipien .25 Ob diese gewahrt bleiben, ist der Kontrolle des BVerfG unterworfen.26 Der Deutsche Bundestag muss Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht behalten, oder die ihm politisch verantwortliche Bundesregierung muss maßgeblichen Einfluss auf die europäischen Entscheidungsverfahren auszuüben vermögen.27 Allerdings bedeute die vom Demokratieprinzip geforderte Wahrung der Souveränität für sich genommen nicht, dass eine von vornherein bestimmbare Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben müssten.28 Art. 23 Abs. 1 GG gestatte die Mitwirkung Deutschlands an der Entwicklung der EU, dies umfasse auch die Bildung einer Wirtschafts- und Währungsunion und einer politischen Union. Allerdings müsse in den Mitgliedstaaten ausreichender Raum zur poltischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse verbleiben.29 Das BVerfG arbeitet in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon heraus, dass - Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht, die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen, - die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand, - die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen, - kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen, z. B. im Familienrecht, Bildungssystem, - oder der Umgang mit religiösen Gemeinschaften, besonders sensibel für die Fähigkeit zur demokratischen Selbstgestaltung eines Verfassungsstaates sind.30 Für jeden dieser Bereiche zeigt das BVerfG auf, wo die Grenzen der Verfassungsiden- 23 BVerfGE 123, 267, 356. 24 BVerfGE 123, 267, 347. 25 BVerfGE 123, 267, 350. Siehe auch Nettesheim, Ein Individualrecht auf Staatlichkeit? Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG, NJW 2009, 2867 (2868). 26 BVerfGE 123, 267, 354 f. 27 BVerfGE 123, 267, 356. 28 BVerfGE 123, 267, 357. 29 BVerfGE 123, 267, 358. 30 BVerfGE 123, 267, 359 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 7 tität liegen, die weder durch den Vertrag von Lissabon noch durch zukünftige Vertragsänderungen angegriffen werden dürfen. Zum Budgetrecht des Deutschen Bundestages hat das BVerfG in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon ausgeführt, dass „eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in seinem substantiellen Bestimmungsgehalt verletzende Übertragung [vorliege], wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde“.31 Allerdings gefährde nicht jede haushaltswirksame europäische oder internationale Verpflichtung die Gestaltungsfähigkeit des Bundestages als Haushaltsgesetzgeber. Entscheidend sei, dass die Gesamtverantwortung mit ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben noch beim Deutschen Bundestag liege.32 5. Wird die Währungsunion letztendlich durch eine Bankenunion, eine Fiskalunion und eine Politische Union ergänzt? Es gibt vielfältige politische Bestrebungen, die Währungsunion durch eine Bankenunion, eine Fiskalunion und eine (umfassende) Politische Union zu ergänzen. So hat z.B. der EU-Ratspräsident Van Rompuy in Zusammenarbeit mit den Präsidenten der EU-Kommission, der EZB und der Eurogruppe am 26. Juni 2012 einen Bericht „Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion “ vorgelegt, in der er die Vision einer künftigen Fiskal- und Bankenunion zeichnet.33 Ob und wann diese Pläne letztendlich umgesetzt werden, bedarf nicht nur weiterer Verhandlungen auf europäischer Ebene, sondern ist auch eine Frage der innerstaatlichen Zustimmung und Vereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht. Im Hinblick auf die Fiskalunion siehe Antwort zu Punkt 2. Ob eine Bankenunion bereits mit den Beschlüssen des letzten Europäischen Rates vom 28./.29. Juni 2012 beschlossen wurde, ist im Moment Gegenstand einer Kontroverse zwischen der Bundesregierung und ca. 190 Wirtschaftswissenschaftlern, die einen offenen Brief verfasst haben.34 Hierin bezeichnen die Wissenschaftler die Entscheidungen des Gipfels als falsch und warnen vor einem Schritt in die Bankenunion, die eine kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Eurosystems bedeute. Nach Auffassung des Bundesfinanzministers ginge es nicht um die Vergemeinschaftung von Schulden, sondern um die Schaffung einer gemeinsamen Aufsicht über die Banken.35 31 BVerfGE 123, 267, 361. 32 BVerfGE 123, 267, 361 f. 33 Siehe Pressemitteilung der EU-Ratspräsidenten: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/131294.pdf [letzter Abruf: 9. Juli 2012]. 34 http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/protestaufruf-der-offene-brief-der-oekonomen-im-wortlaut-11810652.html (letzter Abruf: 9. Juli 2012] 35 http://www.tagesschau.de/wirtschaft/bankenunion102.html [letzter Abruf: 9. Juli 2012]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 8 Das BVerfG hat in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon Folgendes zur Politischen Union ausgeführt :36 „Die von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG erlaubte Mitwirkung Deutschlands an der Entwicklung der Europäischen Union umfasst neben der Bildung einer Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft auch eine politische Union. Politische Union meint die gemeinsame Ausübung von öffentlicher Gewalt, einschließlich der gesetzgebenden, bis hinein in die herkömmlichen Kernbereiche des staatlichen Kompetenzraums.37 Dies ist in der europäischen Friedens- und Einigungsidee insbesondere dort angelegt, wo es um die Koordinierung grenzüberschreitender Lebenssachverhalte geht und um die Gewährleistung eines gemeinsamen Wirtschafts- und Rechtsraumes, in dem sich Unionsbürger frei entfalten können (Art. 3 Abs. 2 EUV-Lissabon). cc) Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf allerdings nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören unter anderem die Staatsbürgerschaft , das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen. Zu diesen bedeutsamen Sachbereichen gehören auch kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs -, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis.“ Die Europäische Union ist bereits jetzt nicht nur eine Wirtschafts- und Währungsunion, sondern in Ansätzen auch eine Politische Union. Wie sich aus den o.g. Aussagen des BVerfG in seiner Lissabon-Entscheidung ergibt, muss den Mitgliedstaaten ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse verbleiben. 36 BVerfGE 123, 267 (357 f.). 37 Hervorhebung durch die Verfasserin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 9 6. Wie weit geht die Integration noch selbstbestimmt oder fremdbestimmt durch die wirtschaftlichen Zwänge, insbesondere wenn die Aufsicht der EU-Kommission die nationale Kontrolle der nationalen Staatshaushalte übernimmt? Mit dem Fiskalvertrag übernimmt die EU-Kommission keine generelle Kontrolle über die nationalen Haushalte. Nach Art. 5 Abs. 1 Fiskalvertrag sollen die Vertragsstaaten, die sich in einem Defizitverfahren befinden, sog. Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme auflegen, die im Einzelnen die zur dauerhaften Korrektur des Defizits erforderlichen Strukturreformen beschreiben. In Art. 5 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 des Fiskalvertrags ist folgende Einbindung von Kommission und Rat in das Überwachungsverfahren vorgesehen: „1. […] Inhalt und Form dieser Programme werden im Recht der Europäischen Union festgelegt . Sie werden dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission im Rahmen der bestehenden Überwachungsverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts zur Genehmigung vorgelegt werden und auch innerhalb dieses Rahmens überwacht werden. 2. Die Umsetzung des Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramms und die mit diesem Programm in Einklang stehenden jährlichen Haushaltspläne werden vom Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission überwacht werden.“ Nach dem ausdrücklichen Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 Fiskalvertrag soll die Genehmigung und Überwachung der Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme im Rahmen der bestehenden Überwachungsverfahren des SWP stattfinden. Kommission und Rat sollen also nach der Intention des Artikels keine grundsätzlich neuen Überwachungsfunktionen übertragen werden. 7. Wenn sich die Mitglieder der Währungsunion ein immer engeres Regierungsgerüst geben, wird dann nicht die Kluft zu den EU-Staaten, die nicht der Eurozone angehören, größer und tiefer? Dies ist möglich. 8. Wird mit der Ratifizierung des Fiskalvertrages der politische Handlungsspielraum der Nationalstaaten eingeengt, da jedes EU-Land keine eigene Haushalts- und Wirtschaftspolitik betreiben kann? Der Fiskalvertrag untersagt nicht eine eigene Haushalts- und Wirtschaftspolitik. Siehe Antwort unter Punkt 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 10 9. Ist Griechenland noch souverän, wenn Regulierungsmaßnahmen der EU und des ESM die nationale Selbstständigkeit einschränken?38 9.1. Finanzhilfe aus der Griechenland-Fazilität Die Finanzhilfen, die Griechenland seit Mai 2010 zur Verfügung gestellt werden, entstammen nicht der EFSF oder dem EFSM, sondern der separaten Griechenland-Fazilität. Die Griechenland-Fazilität beruht auf der Einigung der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets vom 2. Mai 2010. Sie umfasst ein Kreditvergabevolumen von insgesamt 110 Mrd. Euro, das in Höhe von 80 Mrd. Euro durch die Staaten der Euro-Gruppe aufgebracht wird; weitere 30 Mrd. Euro stellt der IWF zur Verfügung.39 Griechenland und die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets trafen hierzu eine Vereinbarung über eine Darlehensfazilität von 80 Mrd. Euro.40 Der auf Deutschland entfallende Anteil an dem in Form bilateraler Darlehen zu gewährenden Finanzhilfen für Griechenland beträgt für den gesamten Zeitraum 22,4 Mrd. Euro. Die Koordinierung und Verwaltung der gepoolten bilateralen Darlehen ist in einer Gläubigervereinbarung vom 7. Mai 2010 geregelt .41 9.2. Bisheriges griechisches Anpassungsprogramm Zwischen Griechenland und den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets wurde eine Vereinbarung über die spezifischen wirtschaftspolitischen Auflagen (Memorandum of Understanding on Specific Economic Policy Conditionality42) getroffen, die festlegt, welche wirtschaftspoliti- 38 Vgl. , Souveränitätsverlust durch Inanspruchnahme von Hilfsprogrammen der Griechenland-Fazilität und der Europäischen Finanzstabilisierungsfaszilität?, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, (WD 11- 26/12), 2012. 39 Statement by the Eurogroup, 2. Mai 2010, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/misc/114130.pdf (letzter Abruf: 14. Februar 2012). In Deutschland verabschiedete der Bundestag am 7. Mai 2010 das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunion erforderlichen Zahlungsfähigkeit der Hellenischen Republik (Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz – WFStG), BGBl. I S. 537. 40 Vereinbarung über eine Darlehensfazilität von 80 000 000 000 Euro zwischen den folgenden Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist: Königreich Belgien, Irland, Königreich Spanien, Französische Republik, Italienische Republik, Republik Zypern, Großherzogtum Luxemburg, Republik Malta, Königreich der Niederlande, Republik Österreich, Portugiesische Republik, Republik Slowenien, Slowakische Republik und Republik Finnland sowie der KfW; im staatlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland handelnd, gebunden an die Weisungen und ausgestattet mit der Garantie der Bundesrepublik Deutschland, als Darlehensgeber, und Der Hellenischen Republik als Darlehensnehmer , Der Bank von Griechenland als Bevollmächtigte des Darlehensnehmers, Mai 2010. 41 Gläubigervereinbarung (Intercreditor Agreement) zwischen Königreich Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Irland, Königreich Spanien, Französische Republik, Italienische Republik, Republik Zypern, Großherzogtum Luxemburg, Republik Malta, Königreich der Niederlande, Republik Österreich, Portugiesische Republik, Republik Slowenien, Slowakische Republik und Republik Finnland, Mai 2010. 42 S. European Commission, The Economic Adjustment Programme for Greece, Fifth Update, October 2011, S. 140 ff., online abrufbar nur in englischer Sprache unter: http://ec.europa.eu/economy_finance/publications/occasional_paper/2011/pdf/ocp87_en.pdf (letzter Abruf: 14. Februar 2012); s. auch Beschluss des Rates vom 8. Juni 2010 gerichtet an Griechenland zwecks Ausweitung und Intensivierung der haushaltspolitischen Überwachung und zur Inverzugsetzung Griechenlands mit der Maßgabe, die zur Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 11 schen Bedingungen Griechenland erfüllen muss, damit die nächste Darlehenstranche ausgezahlt wird.43 Die Vereinbarung wurde mehrfach revidiert. Das griechische Anpassungsprogramm zielt auf eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung mit einer Rückführung des Defizits unter 3 % bis 2014, Strukturreformen zur Modernisierung des öffentlichen Sektors, der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und der Gütermärkte und der Privatisierung von Staatsbesitz. Es wurden konkret zu treffende Maßnahmen innerhalb eines bestimmten Zeitplans festgelegt, z. B. die Einführung einer permanenten Abgabe auf Grundeigentum (erhoben mit der Stromabrechnung ) bis zur Auszahlung der sechsten Tranche der Griechenland-Hilfe; die Kürzung des Oster-, Urlaubs- und Weihnachtsgelds für Beamte mit dem Ziel einer Einsparung von 500 Mio. Euro jährlich bis Ende Juni 2010 oder die Versetzung von 15.000 Angestellten des öffentlichen Dienst in den Vorruhestand bis zum Ende 2011.44 9.3. Ggf. Finanzhilfen aus der EFSF Die Staats- und Regierungschefs und die EU-Organe erklärten am 21. Juli 2011 zunächst, dass sie ein neues Finanzierungsprogramm für Griechenland mit einem Gesamtvolumen von etwa 109 Mrd. Euro unterstützen wollen.45 Als Finanzierungsinstrument soll die EFSF dienen. Zusätzlich sollte sich der Privatsektor mit 37 Mrd. Euro durch einen freiwilligen Anleihetausch an dem zweiten Rettungspaket für Griechenland beteiligen. Nach dem Gipfel des Europäischen Rates am 23. Oktober 2011 und dem Euro-Gipfel am 26./27. Oktober 2011 wurde dieses Ergebnis modifiziert : Nun soll sich der private Sektor durch einen freiwilligen Anleihetausch mit einem Abschlag von 50 % des Nennwerts an der Senkung der griechischen Defizitquote beteiligen. Zur Absicherung der privaten Gläubiger im Rahmen dieses Anleihetausches soll die EFSF Garantien in Höhe von bis zu 30 Mrd. Euro übernehmen.46 Die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets erklärten sich auf dieser Grundlage bereit, eine zusätzliche Programmfinanzierung von bis zu 100 Mrd. Euro bereitzustellen, die auch die notwendige Rekapitalisierung griechischer Banken umfasst . Insgesamt würde das zweite Hilfsprogramm aus der EFSF so bis zu 130 Mrd. Euro umfas- Beendigung des übermäßigen Defizits als notwendig erachteten Maßnahmen zu treffen, Ratsbeschluss 2010/320/EU, ABL. 2010 L 145/6. 43 S. hierzu Häde, Rechtsfragen der EU-Rettungsschirme, Zeitschrift für Gesetzgebung (ZG) 2011, S. 1 (4 f.). 44 Vgl. zum Umsetzungsstand die Berichte der Europäischen Kommission auf Basis der Überprüfungen der Troika: European Commission, The Economic Adjustment Programme for Greece, Fifth Review – October 2011, Occasional Paper 87, online abrufbar unter: http://ec.europa.eu/economy_finance/publications/occasional_paper/2011/pdf/ ocp87_en.pdf (letzter Abruf: 14. Februar 2012). 45 Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der EU-Organe vom 21. Juli 2011, Drucksache des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union 17(21)0673, online abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/124011.pdf (letzter Abruf: 14. Februar 2012). 46 Erklärung des Euro-Gipfels, 26. Oktober 2011, Ziffer 12, Drucksache des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union 17(21)0781, online abrufbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/ 599328/publicationFile/160782/111026-Erklaerung-Euro-Gipfel.pdf (letzter Abruf: 14. Februar 2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 181/12 Seite 12 sen. Der Deutsche Bundestag hat am 27. Februar 2012 das zweite Hilfspaket für Griechenland gebilligt.47 Um zusätzliche Hilfen aus der EFSF zu erhalten, muss die Hellenische Republik nach dem EFSF- Rahmenvertrag wiederum eine Absichtserklärung (Memorandum of Understanding) mit der Europäischen Kommission in Abstimmung mit EZB und IWF abschließen. 9.4. Fazit Alle Memoranda of Understanding werden zwischen der Kommission und dem die Stabilitätshilfe beantragenden Mitgliedstaat verhandelt und sodann von dem beantragenden Mitgliedstaat und der Kommission unterzeichnet. Innerhalb des beantragenden Mitgliedstaats wird nach der Verhandlung seitens der Regierung das Memorandum of Understanding zunächst vom Parlament gebilligt; erst dann kann die Unterzeichnung erfolgen.48 Ein MoU kann weitreichende Vorgaben für Politikbereiche enthalten, die im Wesentlichen in rein nationaler Zuständigkeit liegen, wie die nationale Haushalts- und Finanzpolitik, die Organisation des Justizwesens oder die Arbeitsmarktpolitik. Insoweit tangiert das MoU die Hoheitsrechte des Stabilitätshilfe beantragenden Mitgliedstaats. Es ist aber essentiell zu betonen, dass der die Stabilitätshilfe beantragende Mitgliedstaat die Vorgaben aushandelt und sich im MoU freiwillig nach Zustimmung des nationalen Parlaments zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet – wenn auch als Voraussetzung der Gewährung einer Finanzhilfe aus der EFSF, dem EFSM oder der Griechenland-Fazilität. Es handelt sich also um eine selbst auferlegte temporäre Einschränkung von Hoheitsrechten, aus der der die Hilfe beantragende Mitgliedstaat auch wieder aussteigen kann: Die Nichtbefolgung der Vorgaben des MoU führt schließlich unmittelbar nur dazu, dass weitere Kredittranchen ggf. nicht mehr ausgezahlt werden. Inwieweit ein Mitgliedstaat Hoheitsrechte dergestalt temporär einschränken kann, um so die Voraussetzungen für die Gewährung von Stabilitätshilfen zu erfüllen, hängt einzig vom jeweiligen innerstaatlichen Verfassungsrecht ab und den dort festgelegten Grenzen. 47 FAZ vom 27. Februar 2012, Bundestag beschließt zweites Griechenland-Hilfspaket, online abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/abstimmung-bundestag-beschliesst-zweites-griechenland-hilfspaket- 11664616.html (letzter Abruf: 9. Juli 2012). 48 Vgl. Bundesregierung, Portugal beantragt Hilfe aus Euro-Rettungsschirm, online abrufbar unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2011/04/2011-04-08-portugal-hilfen,layoutVariant =Druckansicht.html (letzter Abruf: 14. Februar 2012).