Überwachung von Abgeordneten des Deutschen Bundestages durch den Verfassungsschutz - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 3 - 178/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Überwachung von Abgeordneten des Deutschen Bundestages durch den Verfassungsschutz Ausarbeitung WD 3 - 178/06 Abschluss der Arbeit: 04.05.2006 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - Zusammenfassung - Der verfassungsrechtliche Status von Abgeordneten des Deutschen Bundestages steht einer Beobachtung des einzelnen Abgeordneten durch den Verfassungsschutz nicht entgegen . Insbesondere verstößt eine solche Beobachtung nicht gegen die Grundsätze des freien Mandats (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), der Immunität (Art. 46 Abs. 2 GG) und des Schutzes vor Beschränkung der persönlichen Freiheit (Art. 46 Abs. 3 GG). Inhalt 1. Einleitung 4 2. Aufgaben des Verfassungsschutzes 4 3. Beobachtung durch den Verfassungsschutz und Status eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages 5 3.1. Das freie Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) 5 3.2. Immunität (Art. 46 Abs. 2 GG) 6 3.3. Beschränkung der persönlichen Freiheit (Art. 46 Abs. 3 GG) 7 4. Ergebnis 8 - 4 - 1. Einleitung Es gehört zur Aufgabe der Verfassungsschutzorgane, einzelne Personen sowie politische Gruppierungen und Zusammenschlüsse unter den in den einschlägigen Gesetzen normierten Voraussetzungen auf Länder- und Bundesebene zu beobachten. Problematisch könnte eine Beobachtung von einzelnen Abgeordneten des Deutschen Bundestages in Hinblick auf ihre verfassungsrechtliche Stellung sein. 2. Aufgaben des Verfassungsschutzes Aufgabe des Verfassungsschutzes des Bundes ist gemäß § 3 Abs. 1 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über Tätigkeiten oder verfassungsfeindliche Bestrebungen, die gegen die freiheitlichdemokratische Grundordnung gerichtet sind. Neben der Informationsbeschaffung aus den frei zugänglichen und öffentlichen Quellen, an die keine weitere Voraussetzung geknüpft ist, kann der Verfassungsschutz gemäß §§ 8, 9 BVerfSchG auch nachrichtendienstliche Mittel wie V-Leute, Observation, Bildund Tonaufnahmen, Tarnpapiere etc. einsetzen.1 § 9 BVerfSchG regelt die sachlichen Voraussetzungen für den Einsatz spezieller nachrichtendienstlicher Mittel und verlangt implizit einen besonderen Verdachtsmoment gegen die betroffene Person.2 Bei besonders schwerwiegendem und konkretem Verdacht kann der Einsatz der nachrichtendienstlichen Mittel auch auf den besonders geschützten Privatbereich ausgedehnt werden und zu Ermittlungen in der Wohnung oder innerhalb des durch das Post- und Fernmeldegeheimnis geschützten Bereichs führen. Der Verfassungsschutz ist nicht als Polizei- oder Strafverfolgungsbehörde anzusehen, sondern als Instrument der Informationsbeschaffung zu verstehen.3 1 Bäumler, Helmut, Das neue Geheimdienstrecht des Bundes, NVwZ 1991, 643, 644. 2 Bäumler, NVwZ 1991, 643, 644. 3 Vgl. auch das ausdrückliche Verbot des § 2 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG hinsichtlich der Angliederung an polizeiliche Dienststellen. - 5 - 3. Beobachtung durch den Verfassungsschutz und Status eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages Es fragt sich, ob die Beobachtung eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages durch den Verfassungsschutz mit seinem besonderen im Grundgesetz verankerten Status zu vereinbaren ist. Verfassungsrechtliche Bedenken könnten bestehen hinsichtlich des freien Mandats (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), der Immunität (Art. 46 Abs. 2 GG) sowie im Hinblick auf die mögliche Beschränkung der persönlichen Freiheit des Abgeordneten (Art. 46 Abs. 3 GG). 3.1. Das freie Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) Die Beobachtung eines Abgeordneten durch den Verfassungsschutz könnte einen unzulässigen Eingriff in das Prinzip des freien Mandats bedeuten. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet die Unabhängigkeit des Abgeordneten von Weisungen und Aufträgen4 und verstärkt dies durch die Bindung des Abgeordneten allein an sein Gewissen.5 Für einen Eingriff in das freie Mandat durch ein Tätigwerden des Verfassungsschutzes wäre demnach erforderlich, dass diese Tätigkeit einem Auftrag oder einer Weisung im Sinne von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gleichkommt. In Betracht kommen könnte der Einsatz von V-Leuten, soweit sie versuchen sollten, den Abgeordneten zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Die Befolgung des durch V-Leute nahe gelegten Verhaltens bleibt jedoch letztlich eine Gewissensentscheidung des Abgeordneten und stellt weder eine Weisung noch einen Auftrag dar, so dass in der Tätigkeit von V-Leuten kein Eingriff in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu sehen ist.6 Ferner könnte die Beobachtung verfassungswidrig sein, indem sie den Abgeordneten zumindest bei Bekannt werden der Überwachung und ihrer Ergebnisse dazu zwingt, sich anders zu verhalten und neben seinem Gewissen auch andere Maßstäbe, insbesondere aus der Sicht der öffentlichen Meinung, an sein politisches Verhalten anlegen zu lassen. 4 Roth in Umbach/Clemens, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2002, Art. 38, Rn. 107. 5 Roth in Umbach/Clemens, Art. 38, Rn. 108. 6 Vgl. Böttger, Ulrich, Beobachtung von Landtagsabgeordneten durch den Thüringer Verfassungsschutz , ThürVBl. 2002, S. 125, 126. - 6 - Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist jedoch nicht dahingehend zu verstehen, dass der Abgeordnete neben seinem Gewissen keinen anderen Instanzen unterworfen ist. Er ist selbstverständlich gehalten, die Werte der Verfassung zu achten und nicht gegen die freiheitlichdemokratische Grundordnung zu handeln, vielmehr sich positiv zu ihr zu positionieren.7 Ein eventuell entstehender Druck durch die öffentliche Meinung im Rahmen von Beobachtungen durch den Verfassungsschutz stellt daher keine unzulässige Einflussnahme auf die Gewissensfreiheit von Abgeordneten dar. Eine Verletzung des Grundsatzes des freien Mandats aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Tätigkeit des Verfassungsschutzes liegt mithin nicht vor. 3.2. Immunität (Art. 46 Abs. 2 GG) Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz könnte ferner die durch Art. 46 Abs. 2 GG geschützte Immunität des betroffenen Abgeordneten verletzen. Die Immunität gewährt dem Abgeordneten für die Zeit seines Mandats Schutz vor Verhaftung, Verfolgung und jeder anderen Form von staatlicher Beeinträchtigung seiner persönlichen Freiheit.8 Art. 46 Abs. 2 GG umfasst die Summe aller derjenigen von einer Behörde vorgenommenen oder angesprochenen Untersuchungsakte, die dazu dienen sollen, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer nach dem Strafgesetz strafbaren Handlung zu ermitteln und darauf abzielen, nach der Feststellung einer strafbaren Handlung den Täter zu ermitteln und zu bestrafen.9 Unstreitig ist daher, dass auch bereits Ermittlungsverfahren von Seiten der Staatsanwaltschaft unter den von Art. 46 Abs. 2 GG gewährten Schutz fallen.10 Ein möglicher Eingriff in die Immunität des Abgeordneten könnte darin liegen, dass der Verfassungsschutz nach § 20 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG verpflichtet ist, die ihm bekannt gewordenen Informationen an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten, wenn dies zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten erforderlich ist. Fraglich ist jedoch , ob die Tätigkeit des Verfassungsschutzes bereits dem Ermittlungsverfahren zuzurechnen ist. Zweifel bestehen bezüglich der Finalität des Tätigwerdens des Verfassungsschutzes . Dieser ermittelt nicht zielgerichtet hinsichtlich einer strafbaren Handlung und 7 Böttger, ThürVBl. 2002, S. 125, 126. 8 Roll, Hans-Achim, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Kommentar, 2001, § 107, Rn. 1. 9 So schon das Reichsgericht in RGSt. 23, 184, 193 zur Immunitätsregel des Art. 31 der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871; Böttger, ThürVBl. 2002, S. 125, S. 127. 10 Achterberg/Schulte in von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band II, 5. Auflage 2005, Art. 46, Rn. 23. - 7 - verfolgt auch nicht das Ziel, mögliche Täter in die Hände der Strafverfolgungsbehörden zu überführen. Primäre Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es vielmehr, Informationen zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu sammeln.11 Für eine solche Differenzierung spricht zudem, dass erst die Staatsanwaltschaft über die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens entscheidet. Sollte sie die Aufnahme von Ermittlungen beschließen, so gelangt der Immunitätsschutz des Abgeordneten nach Art. 46 Abs. 2 GG in ausreichender Weise zur Anwendung. Denn die staatsanwaltschaftliche Ermittlung bedürfte dann weiterhin der Genehmigung des Deutschen Bundestages . Die reine Beobachtung eines Abgeordneten durch den Verfassungsschutz stellt daher keine Maßnahme im Sinne des Art. 46 Abs. 2 GG dar und verletzt somit nicht den Schutzbereich des Art 46 Abs. 2 GG. 3.3. Beschränkung der persönlichen Freiheit (Art. 46 Abs. 3 GG) Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz könnte in den durch Art. 46 Abs. 3 GG geschützten Bereich der persönlichen Freiheit des Abgeordneten eingreifen. Nach Art. 46 Abs. 3 GG ist die Genehmigung des Deutschen Bundestages bei jeder anderen – über Art. 46 Abs. 1 und 2 GG hinausgehenden – Beschränkung der persönlichen Freiheit des Abgeordneten erforderlich. In der Literatur ist allerdings umstritten, wie weit der Begriff der persönlichen Freiheit zu fassen ist. Eine Ansicht will darunter alle staatlichen Maßnahmen verstehen, die die Ausübung der parlamentarischen Tätigkeit behindern.12 Begründet wird dies vor allem mit der Gefahr eines möglichen Missbrauchs von Überwachungsmaßnahmen durch die Regierung zur Gewinnung von Informationen über Abgeordnete der Opposition.13 Nach der herrschenden Lehre ist hingegen unter der persönlichen Freiheit in Abgrenzung zu Art. 46 Abs. 2 und in Anlehnung an Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 1 GG primär die körperliche Freiheit zu verstehen.14 Die Mindermeinung würde zudem zu der Konsequenz führen, dass die Abgeordneten bei weiter Auslegung des 11 Böttger, ThürVBl. 2002, S. 125, 127. 12 Böttger, ThürVBl. 2002, S. 125, 127. 13 Böttger, ThürVBl. 2002, S. 125, 128 m. w. N. 14 Achterberg/Schulte in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 46 Rn. 57; Wehowsky in Umbach/Clemens, Grundgesetz Kommentar, Band II, Heidelberg 2002, Art. 104, Rn. 7. - 8 - Begriffs der persönlichen Freiheit de facto von jedem staatlichen Zwang freigestellt würden, was mit dem Wortlaut des Art. 46 Abs. 3 GG schwer vereinbar wäre.15 Daher ist der herrschenden Lehre zu folgen. Unter persönlicher Freiheit im Sinne des Art. 46 Abs. 3 GG ist demnach lediglich die körperliche Freiheit zu verstehen. Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz greift jedoch nicht in die körperliche Freiheit des Abgeordneten ein. Daher liegt mit der Tätigkeit des Verfassungsschutzes kein Verstoß gegen Art. 46 Abs. 3 GG vor. 4. Ergebnis Der verfassungsrechtliche Status von Abgeordneten des Deutschen Bundestages steht einer Beobachtung des einzelnen Abgeordneten durch den Verfassungsschutz nicht entgegen . 15 Magiera in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Band VI, 42. Ergänzungslieferung, April 1981, Art. 46 Rn. 82