© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 177/17 Parlamentarische Rehabilitierung Verurteilter Zum Todesurteil gegen die Matrosen Köbis und Reichpietsch Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 177/17 Seite 2 Parlamentarische Rehabilitierung Verurteilter Zum Todesurteil gegen die Matrosen Köbis und Reichpietsch Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 177/17 Abschluss der Arbeit: 3. November 2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 177/17 Seite 3 1. Einleitung Im August 1917 wurden die Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch wegen „vollendeter kriegsverräterischer Aufstandserregung“ von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt und wenige Tage später hingerichtet.1 Weitere Mitangeklagte, von denen drei ebenfalls zum Tode verurteilt worden waren, wurden begnadigt oder ihre Strafen wurden in Zuchthausstrafen umgewandelt. Bereits 1926 untersuchte der sozialdemokratische Abgeordnete Wilhelm Dittmann den Fall als Berichterstatter des parlamentarischen Untersuchungsausschusses für die Schuldfragen des Weltkrieges. In seinem monographisch veröffentlichten Referat spricht er von Justizmorden.2 Die Darstellungen der historischen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinen teils sehr tendenziös: Während die Matrosen in der DDR als mutige sozialistische Revolutionäre instrumentalisiert wurden, wurden sie in der Bundesrepublik oft ignoriert oder als zu Recht bestrafte Meuterer dargestellt.3 Eine Ausnahme bildete der SPD-Politiker und spätere Bundeswehrgeneral Fritz Beermann, der sich schon 1958 um eine – moralische – Rehabilitierung von Köbis und Reichpietsch bemühte.4 Eine neuere Studie von 2014 kommt zu dem Ergebnis, dass die Beschuldigten in Verhören bedroht und ihre Aussagen verfälscht worden seien, dass eine effektive Verteidigung der Angeklagten verhindert worden sei, und dass das Gericht bewusst falsch subsumiert und zu Unrecht eine vollendete Tat angenommen habe.5 Gefragt wird, ob der Bundestag Köbis und Reichpietsch rehabilitieren, insbesondere die Urteile als rechtswidrig einstufen oder aufheben könne. Eine rechtshistorische Aufarbeitung des Verfahrens kann hier nicht geleistet werden. Das Gutachten beschreibt daher allgemein die rein politischen und rechtsverbindlichen Handlungsmöglichkeiten des Bundestages. Es stellt bisherige Fallgruppen der kollektiven Rehabilitierung Verurteilter dar und beschreibt verfassungsrechtliche Grenzen der legislativen Kassation von Strafurteilen. 1 Urteil des Gerichts des IV. Geschwaders vom 28. August 1917, veröffentlicht bei: Deutscher Reichstag/Schücking/ Bell u.a. (Hrsg.), Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1928, Vierte Reihe: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918, 2. Abt.: Der Innere Zusammenbruch, Bd. 10/1, Berlin 1928, Anl. 8, S. 321, 322. 2 Dittmann, Die Marine-Justizmorde von 1917 und die Admirals-Rebellion von 1918, Berlin 1926; vgl. dagegen die Erwiderung des DVP-Abgeordneten und Marineoffiziers Brüninghaus, Die politische Zersetzung und die Tragödie der deutschen Flotte, Berlin 1926. 3 Vgl. nur Regulski, „Lieber für die Ideale erschossen werden, als für die sogenannte Ehre fallen.“, Albin Köbis, Max Reichpietsch und die deutsche Matrosenbewegung 1917, Wiesbaden 2014, S. 19 f.; rezensiert von Epkenhans, in: Historische Zeitschrift 303 (2016), 897, abrufbar unter https://doi.org/10.1515/hzhz-2016-0517; alle Internet-Quellen zuletzt abgerufen am 1. November 2017. 4 Ohne Verfasser, Tradition, Rüstzeit für Offiziere, in: Der Spiegel vom 3. Dezember 1958, S. 30-34, abrufbar unter http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/42620967. 5 Regulski, Matrosenbewegung, S. 173 ff., 187, 214 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 177/17 Seite 4 2. Politische Maßnahmen Der Bundestag könnte sich zum Wirken von Köbis und Reichpietsch, zu ihrer Verurteilung und ihrer Hinrichtung in Form eines unverbindlichen („schlichten“) Beschlusses6 äußern. Solche Beschlüsse dienen „vornehmlich den öffentlichkeitsorientierten Funktionen der Artikulation, Repräsentation und Integration.“7 Die Handlungsform wurde beispielsweise für die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern gewählt.8 Unverbindliche Beschlüsse entfalten zwar keine rechtliche Bindungswirkung, besitzen aber durchaus rechtliche Erheblichkeit und müssen sich daher – auch bei Annahme einer grundsätzlichen Allzuständigkeit des Parlaments – in gewissen Grenzen halten.9 Eine solche Grenze käme insbesondere in Betracht, soweit hier neben Anerkennung für die Verurteilten auch eine Missbilligung der Urteile ausgesprochen werden sollte: Das Gewaltenteilungsprinzip steht Beschlüssen entgegen, mit denen das Parlament die richterliche Unabhängigkeit verletzt.10 Das gilt auch dann, wenn mittelbar Druck auf Richter ausgeübt wird. Es besteht aber kein generelles Befassungsverbot im Bereich der Judikative. So soll etwa Kritik an verfassungsgerichtlichen Urteilen zulässig sein.11 Zwar kann auch nach Abschluss eines Verfahrens durch „Urteilsschelte“ auf den betroffenen und auf andere Richter in künftigen Verfahren Druck ausgeübt und die in Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gewährleistete richterliche Unabhängigkeit verletzt werden.12 Im vorliegenden Fall eines historischen vorkonstitutionellen Urteils dürfte diese Befürchtung aber fernliegen. 3. Rechtsverbindliche Maßnahmen Insbesondere dann, wenn das Urteil gegen Köbis und Reichpietsch noch rechtskräftig ist und nicht durch einen Beschluss des Rates der Volksbeauftragten von 1918 bereits aufgehoben wurde,13 kommt – neben der Wiederaufnahme nach §§ 359, 361 der Strafprozessordnung – grundsätzlich auch dessen Aufhebung durch Gesetz infrage. 6 Zur Terminologie Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, Handbuch, 2016, § 10 Rn. 13. 7 Kretschmer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein (Begr.), Kommentar zum Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 40 Rn. 21. 8 BT-Drs. 18/8613. 9 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 10 Rn. 29 ff., 50. 10 Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2005, Bd. 3, § 50 Rn. 14. 11 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 10 Rn. 41. 12 Kisker, Zur Reaktion von Parlament und Exekutive auf „unerwünschte“ Urteile, in: NJW 1981, 889, 890. 13 Vgl. dazu Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Rechtskraft von Urteilen der kaiserlichen Militärjustiz, Az. WD 7 - 3000 - 116/17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 177/17 Seite 5 3.1. Fälle kollektiver Rehabilitierung Verurteilter in der Bundesrepublik In der Bundesrepublik kam es in drei Fallgruppen zur Aufhebung rechtskräftiger Urteile in Strafsachen . Diese Fallgruppen unterscheiden sich sowohl in der Begründung als auch in der jeweils gewählten Form der Urteilsaufhebung. 3.1.1. Aufhebung nationalsozialistischer Urteile Zur Aufhebung bestimmter nationalsozialistischer Urteile in Strafsachen ergingen zunächst zwischen 1946 und 1948 zahlreiche Gesetze und Verordnungen in den Besatzungszonen. Sie führten teils zur unmittelbaren Aufhebung durch Gesetz, so zum Beispiel in der amerikanischen Zone bei Verurteilungen wegen Wehrkraftzersetzung, Hochverrats oder Feindbegünstigung, teils ermöglichten sie die Wiederaufnahme auf Antrag des Verurteilten oder der Staatsanwaltschaft.14 Durch das „Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege“ (NS-AufhG) wurden 1998 weitere Entscheidungen aufgehoben, die „zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind“, § 1 NS-AufhG.15 Die Entscheidungen werden gemäß §§ 1, 3 NS-AufhG grundsätzlich unmittelbar durch das Gesetz vollständig oder teilweise aufgehoben. Die Regelung gilt nach § 2 NS-AufhG für alle Entscheidungen des Volksgerichtshofs und bestimmter Standgerichte sowie für Entscheidungen, die auf den in der Anlage zum NS-AufhG genannten Vorschriften beruhen. Auf Antrag stellt die zuständige Staatsanwaltschaft deklaratorisch die Aufhebung des Urteils fest und erteilt eine Bescheinigung, § 6 NS-AufhG. Mit dem NS-AufhG wollte der Gesetzgeber die in den Bundesländern unterschiedliche und unübersichtliche Rechtslage vereinheitlichen und die Unrechtsurteile der nationalsozialistischen Justiz einheitlich aufheben.16 Für die Aufhebung durch Gesetz sprach insbesondere, dass viele Akten im Krieg vernichtet worden waren und die Beweisführung in Wiederaufnahmeverfahren kaum möglich gewesen wäre.17 Die Gesetzesbegründung sieht in der Aufhebung der Urteile keine Störung des Rechtsfriedens, sondern vielmehr dessen späte Herstellung, da die betroffenen Urteile gerade nicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren ergangen seien.18 Das Gewaltenteilungsprinzip und das Prinzip der Rechtssicherheit stünden der Aufhebung offenbaren Unrechts nicht entgegen. „An der gesetzlichen Aufhebung vorkonstitutioneller Urteile ist er [scil. der Gesetzgeber ] nur dann gehindert, wenn es sich um Entscheidungen von Gerichten handelt, die aufgrund ihrer konkreten Stellung in der jeweiligen vorkonstitutionellen Rechts- und Verfassungsordnung 14 Ausführlich Fikentscher/Koch, Strafrechtliche Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, in: NJW 1983, 12; vgl. auch BT-Drs. 13/10013, S. 5 f. 15 Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998, BGBl. I S. 2501. 16 BT-Drs. 13/10013, S. 1, 6. 17 BT-Drs. 13/10013, S. 6. 18 BT-Drs. 13/10013, S. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 177/17 Seite 6 als Bestandteile einer unabhängigen ‚Dritten Gewalt‘, so wie sie das Grundgesetz vorsieht, gelten können.“19 Der Volksgerichtshof und die im NS-AufhG genannten Standgerichte seien keine solchen Gerichte gewesen. 3.1.2. Aufhebung von DDR-Urteilen Die Aufhebung von Strafurteilen ermöglicht auch das „Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz“ (StrRehaG) von 1992.20 Es betrifft strafrechtliche Gerichtsentscheidungen, die im Beitrittsgebiet ergangen und „mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar“ sind, § 1 Abs. 1 StrRehaG. Die Unvereinbarkeit wird bei der Verwirklichung bestimmter Straftatbestände sowie beim Vorliegen eines groben Missverhältnisses zwischen Tat und Strafmaß vermutet; sie besteht unwiderleglich bei den sogenannten Waldheimer Prozessen des Jahres 1950. Die Urteile werden hier nicht ex lege aufgehoben, sondern sind auf Antrag des Betroffenen, seiner Verwandten oder der Staatsanwaltschaft von dem zuständigen Gericht „für rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben (Rehabilitierung)“, § 1 Abs. 1, §§ 7 ff. StrRehaG. Das Gesetz begründet außerdem Ansprüche auf soziale Ausgleichsleistungen, §§ 16 ff. StrRehaG. Das Gesetz dient der Rehabilitierung und Entschädigung derjenigen, die am schwersten vom Unrechtsregime der SED betroffen waren.21 Rechtsstaatswidrige Entscheidungen werden gleichbehandelt unabhängig davon, ob sie auf politischem Strafrecht beruhen oder auf rechtsstaatswidriger Anwendung des allgemeinen Strafrechts.22 Als „rechtsstaatswidrig“ gelten dabei nur solche Entscheidungen, die „wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung“ zuwiderlaufen.23 Sie bilden „Staatsunrecht, das als ‚Systemunrecht‘ – die Individualität und Würde des Menschen mißachtend – diesen zum Objekt gesellschaftspolitischer Zielsetzungen degradiert.“24 Die Vermutungsregelungen und ein vereinfachtes Verfahren sollen die Gerichte entlasten.25 3.1.3. Aufhebung bundesrepublikanischer Urteile gegen Homosexuelle Die jüngste Aufhebung strafgerichtlicher Urteile geschah im Juli 2017 durch das „Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen“ (StrRehaHomG).26 Das Gesetz betrifft, wie sich aus dem Titel 19 BT-Drs. 13/10013, S. 8, Hervorhebung hinzugefügt. 20 Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet vom 29. Oktober 1992, BGBl. I S. 1814. 21 BT-Drs. 12/1608, S. 2, 13. 22 BT-Drs. 12/1608, S. 13, 17. 23 BT-Drs. 12/1608, S. 16. 24 BT-Drs. 12/1608, S. 16, Hervorhebung hinzugefügt. 25 BT-Drs. 12/1608, S. 2, 14. 26 BGBl. I S. 2443. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 177/17 Seite 7 ergibt, zu einem großen Teil Urteile von Gerichten der Bundesrepublik. Es knüpft dabei an die Verurteilung nach bestimmten Straftatbeständen an, insbesondere nach § 175 des Strafgesetzbuches. Nach § 1 Abs. 1 StrRehaHomG werden die Urteile unmittelbar durch das Gesetz aufgehoben. Auf Antrag stellt die Staatsanwaltschaft die Aufhebung deklaratorisch fest und erteilt eine Rehabilitierungsbescheinigung , § 3 StrRehaHomG. Der Rehabilitierte hat einen Anspruch auf eine Entschädigung in Geld, §§ 5 f. StrRehaHomG. Ziel des Gesetzes ist es, den Betroffenen den Strafmakel zu nehmen, mit dem sie infolge einer Verurteilung leben mussten.27 Die Gesetzesbegründung setzt sich mit Bedenken hinsichtlich des Rechtsstaatsprinzips und des Prinzips der Gewaltenteilung auseinander.28 Diese Bedenken hätten dazu geführt, dass man nationalsozialistische – vorkonstitutionelle – Urteile gegen Homosexuelle bereits aufgehoben habe; zu den nachkonstitutionellen Urteilen, also solchen von Gerichten der Bundesrepublik, habe der Bundestag lediglich in Form einer Entschließung Stellung genommen.29 Die Bedenken griffen jedoch nicht durch: Der Eingriff in das Prinzip der Gewaltenteilung sei aus übergeordneten Gründen gerechtfertigt, da die Kriminalisierung und die Verfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen „aus heutiger Sicht in besonderem Maße grundrechts- und menschenrechtswidrig“ gewesen seien.30 Solche Handlungen unterfielen heute sowohl dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als auch dem in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgten Recht auf Achtung des Privatlebens. Überdies sei in der vorliegenden Ausnahmesituation die Rechtssicherheit nicht beeinträchtigt. Es handele sich nämlich um opferlose Straftaten; Schutzgut der Tatbestände sei nur die allgemeine Sittlichkeit gewesen. Geschädigte, die sich grundsätzlich auf die durch ein Urteil verschaffte Genugtuung verlassen dürften, gebe es hier nicht.31 Die pauschale Aufhebung der Urteile durch Gesetz verdeutliche, dass es nicht um die Auseinandersetzung mit einzelnen Fällen, sondern um die generelle Korrektur der Folgen grundrechtswidriger Strafnormen gehe.32 3.2. Verfassungsrechtliche Grenzen der legislativen Aufhebung von Strafurteilen Rechtsprechung und Literatur haben sich bisher mit den verfassungsrechtlichen Grenzen der legislativen Aufhebung von Strafurteilen im Zusammenhang mit den oben genannten Fallgruppen befasst. Die Diskussion lässt sich auf den vorliegenden Fall der Matrosen Köbis und Reichpietsch nicht ohne weiteres übertragen. 27 BT-Drs. 18/12038, S. 1, 11; BT-Drs. 18/12786, S. 2. 28 BT-Drs. 18/12038, S. 12 f., unter Hinweis auf BVerfGE 72, 302, 328, und BVerfG, Beschluss vom 8. März 2006, Az. 2 BvR 486/05. 29 BT-Drs. 18/12038, S. 12; vgl. den Entschließungsantrag in BT-Drs. 14/4894, S. 4, mit dem der Bundestag sein Bedauern ausdrückt und eine Verletzung der Menschenwürde der Betroffenen feststellt. 30 BT-Drs. 18/12038, S. 13, Hervorhebung hinzugefügt. 31 BT-Drs. 18/12038, S. 13. 32 BT-Drs. 18/12038, S. 13 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 177/17 Seite 8 3.2.1. Gesetzgebungskompetenz Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Kassation von Strafurteilen dürfte bestehen, ein entsprechendes Gesetz daher formell verfassungsgemäß sein.33 Zwar wird den Ländern teilweise die Kompetenz für den Erlass von Amnestiegesetzen zugeschrieben; diese Auffassung knüpft an die Regelungsmaterie des Strafvollzugs an. Unabhängig von der Beurteilung der Kompetenz für Amnestiegesetze, dürfte im vorliegenden Fall eine Bundeskompetenz bestehen. Zum einen beträfe die Kassation das Urteil eines Militärgerichts des Reiches. Zum anderen geht es weder um die Niederschlagung laufender Verfahren, noch um den Erlass verhängter Strafen. 3.2.2. Grundsatz der Rechtssicherheit Die materielle Verfassungskonformität setzt zunächst voraus, dass ein Kassationsgesetz mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar ist.34 Er ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, Art. 20 Abs. 2, 3 GG. Der Grundsatz der Rechtssicherheit schützt sowohl das subjektive Einzelinteresse an der Verbindlichkeit rechtskräftiger Urteile als auch objektiv das generelle Vertrauen in die Beständigkeit von Gerichtsentscheidungen.35 Hier dürfte keine dieser beiden Schutzdimensionen einer Urteilsaufhebung entgegenstehen. In subjektiver Hinsicht fehlt es – wie im Fall einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter Erwachsenen36 – an einem Geschädigten, der in seinem Vertrauen auf den Fortbestand des ihm Genugtuung verschaffenden Urteils schutzwürdig wäre. In objektiver Hinsicht dürfte die Aufhebung eines einzelnen Urteils oder weniger, genau umrissener Urteile kaum das allgemeine Vertrauen in die Verlässlichkeit staatlichen Handelns erschüttern.37 3.2.3. Grundsatz der Gewaltenteilung Weiterhin begrenzt der Grundsatz der Gewaltenteilung die legislative Aufhebung rechtskräftiger Urteile.38 Das Grundgesetz normiert in Art. 20 Abs. 2 S. 2 die Teilung der drei Staatsgewalten. 33 So auch Krieg/Wieckhorst, Bewältigung gravierenden Unrechts im demokratischen Rechtsstaat, Verfassungsrechtliche Grenzen der legislativen Kassation von rechtskräftigen Strafurteilen, in: Der Staat 54 (2015), 539, 549 ff., mit Nachweisen zur Gegenauffassung. 34 Krieg/Wieckhorst, Der Staat 54 (2015), 539, 570 f.; der Grundsatz der Rechtssicherheit bildet den Prüfungsschwerpunkt bei Burgi/Wolff, Rehabilitierung der nach § 175 StGB verurteilten homosexuellen Männer: Auftrag, Optionen und verfassungsrechtlicher Rahmen, 2016, S. 77 ff., abrufbar unter https://www.antidiskriminierungsstelle .de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Rechtsgutachten/Rechtsgutachten-Burgi-Rehabilitierung- 175.pdf?__blob=publicationFile&v=6, und Wolff, Grundgesetzliche Vorgaben für die Rehabilitierung der nach § 175 StGB verurteilten homosexuellen Männer, in: Recht und Politik 2016, 129, 132 ff. 35 Krieg/Wieckhorst, Der Staat 54 (2015), 539, 570 f.; vgl. auch BVerfGE 72, 302, 327 f. 36 Vgl. BT-Drs. 18/12038, S. 13; Beukelmann, Aufhebung von Altverurteilungen wegen homosexueller Handlungen, in: NJW-Spezial 2017, 312. 37 Vgl. auch Krieg/Wieckhorst, Der Staat 54 (2015), 539, 571. 38 BT-Drs. 18/12038, S. 13; BVerfG, Beschluss vom 8. März 2006, Az. 2 BvR 486/05, Rn. 72 ff.; Krieg/Wieckhorst, Der Staat 54 (2015), 539, 552 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 177/17 Seite 9 Nach Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus: „Das Prinzip der Gewaltenteilung ist nirgends rein verwirklicht. Es bestehen zahlreiche Gewaltenverschränkungen und -balancierungen. Das Grundgesetz fordert nicht eine absolute Trennung, sondern die gegenseitige Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Gewalten. Allerdings muss die in der Verfassung vorgenommene Verteilung der Gewichte zwischen den drei Gewalten gewahrt bleiben. Keine Gewalt darf ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über eine andere Gewalt erhalten, und keine Gewalt darf der für die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben erforderlichen Zuständigkeiten beraubt werden (…). Ob die Wahrnehmung einer Aufgabe als ‚Rechtsprechung‘ anzusehen ist, hängt wesentlich von der verfassungsrechtlichen, traditionellen oder durch den Gesetzgeber vorgenommenen Qualifizierung ab (…). Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend die ‚Ausübung der Strafgerichtsbarkeit‘ als typische Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt bezeichnet (…). Demzufolge sind für die Frage, ob rechtskräftige strafgerichtliche Entscheidungen abgeändert werden können, das heißt deren Rechtskraft durchbrochen wird, grundsätzlich die Gerichte selbst zuständig, so dass etwa im Strafprozessrecht das Wiederaufnahmeverfahren den Strafgerichten vorbehalten ist (§ 367 Abs. 1 StPO, § 140a GVG).“39 Demnach ist die Aufhebung rechtskräftiger Strafurteile durch den Gesetzgeber nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen gestattet. Es handelt sich um „eine Maßnahme, die in einem Rechtsstaat besonderer Rechtfertigung bedarf.“40 Dabei werden in Rechtsprechung und Literatur zwei Argumentationsstränge verfolgt: Zur Rechtfertigung wird einerseits auf den gravierenden Verstoß angewandter Strafgesetze gegen höherrangiges Recht abgestellt, andererseits auf einen „Systembruch “. Der Verstoß von Straftatbeständen gegen höherrangiges Recht wird insbesondere im Zusammenhang mit der Aufhebung bundesrepublikanischer Strafurteile gegen homosexuelle Männer angeführt . Weil § 175 des Strafgesetzbuches an die sexuelle Orientierung anknüpfte, wird eine Verletzung des von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG geschützten unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung angenommen; damit bestehe ein „qualifizierter Verfassungsverstoß“.41 Auch der Gesetzgeber stellte hier entscheidend auf die „in besonderem Maße grundrechts- und 39 BVerfG, Beschluss vom 8. März 2006, Az. 2 BvR 486/05, Rn. 73 f., Hervorhebungen hinzugefügt. 40 BVerfG, Beschluss vom 8. März 2006, Az. 2 BvR 486/05, Rn. 75, Hervorhebung hinzugefügt. 41 Burgi/Wolff, Rehabilitierung, S. 83 ff., zur Rechtfertigung der Durchbrechung des Prinzips der Rechtssicherheit; Krieg/Wieckhorst, Der Staat 54 (2015), 539, 559 ff., nehmen eine „zeitgebundene Unrechtsbeurteilung“ vor. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 177/17 Seite 10 menschenrechtswidrig(e)“ Pönalisierung ab.42 In diesen Fällen „korrigiert sich also [der Gesetzgeber] eher selbst, als dass er in den Tätigkeitsbereich der Gerichte übergreift.“ 43 Mit dem „Systembruch“ wird insbesondere die Aufhebung nationalsozialistischer Urteile gerechtfertigt . Entscheidend ist nicht, dass es sich um vorkonstitutionelle Urteile handelt. Vielmehr kommt es darauf an, ob die betroffenen Urteile von einem unrechtsstaatlichen System geprägt sind.44 Das Bundesverfassungsgericht nennt zwei Fallgruppen, in denen die Aufhebung von Strafurteilen durch Gesetz nicht gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstößt, nämlich „Urteile, die zur Förderung eines Unrechtsregimes gegen die elementaren Grundgedanken der Gerechtigkeit verstoßen oder auf Bestimmungen beruhen, die gravierendes Unrecht verkörperten, und daher offenbares Unrecht darstellen (…) sowie Urteile von Institutionen, die wie der Volksgerichtshof zwar als Gerichte bezeichnet, aber aufgrund ihrer Stellung und Aufgabe keine Organe einer unabhängigen rechtsprechenden Gewalt waren“.45 Der vorliegende Fall unterfällt keiner der genannten Kategorien. Die angewandten Strafnormen werden, soweit ersichtlich, nirgends grundsätzlich infrage gestellt. Auch heute noch stellen die §§ 81 ff. des Strafgesetzbuches den Hochverrat und § 27 des Wehrstrafgesetzes die Meuterei unter Strafe. Ebenso wenig passt hier die Argumentationslinie des „Systembruchs“. Zwar handelt es sich bei dem Urteil gegen Köbis und Reichpietsch – wie bei den nationalsozialistischen Urteilen46 – um eine vorkonstitutionelle Gerichtsentscheidung. Geht man von den eingangs wiedergegebenen Forschungsergebnissen aus, wurde auch kein rechtsstaatliches Strafverfahren im heutigen Sinne durchgeführt. Dennoch liegt es fern, das Kaiserreich insoweit mit dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat gleichzusetzen und seine Urteile vom Schutz des Gewaltenteilungsprinzips auszunehmen , sie „nicht als richterliche Entscheidungen zu werten“. 47 Es liegt nämlich keine systematische Begehung staatlichen Unrechts vor. Die historische Forschung weist gerade auf den Ausnahmecharakter der Verurteilung hin. Sowohl von einem Untersuchungsrichter am Reichsgericht als auch aus der Marine selbst wurden Verfahren und Urteil kritisiert.48 Eine Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips könnte hier allenfalls deshalb weniger schwer wiegen, weil es sich um ein militärgerichtliches Urteil handelt. Das zuständige Kriegsgericht genoss keine richterliche Unabhängigkeit im Sinne des Art. 97 Abs. 1 GG. Urteile mussten einem Admiral 42 BT-Drs. 18/12038, S. 13. 43 Wolff, Recht und Politik 2016, 129, 135. 44 Vgl. oben 3.1.1.; Krieg/Wieckhorst, Der Staat 54 (2015), 539, 555 ff. 45 BVerfG, Beschluss vom 8. März 2006, Az. 2 BvR 486/05, Rn. 75, Hervorhebungen hinzugefügt. 46 Vgl. oben 3.1.1.; auch die unter 3.1.2. behandelten Urteile der DDR sind – wenn auch nicht im wörtlichen Sinne „vorkonstitutionell“ – nicht unter der Geltung des GG ergangen. 47 So zu bestimmten nationalsozialistischen Urteilen BVerfG, Beschluss vom 8. März 2006, Az. 2 BvR 486/05, Rn. 75. 48 Vgl. nur Regulski, Matrosenbewegung, S. 185, 215 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 177/17 Seite 11 vorgelegt werden, der sie bestätigen oder abändern konnte.49 Andererseits spräche der Umstand, dass hier ein Einzelfall korrigiert werden soll, für eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips. Während sich der Gesetzgeber mit einer Generalkassation nicht an die Stelle des Richters setzt, entstünde im Fall der legislativen (Neu-) Entscheidung eines Einzelfalls der Eindruck von „Parlamentsjustiz “.50 Darin könnte ein unzulässiger Zugriff eines gewaltfremden Organs auf den absolut geschützten Aufgabenkern der Judikative zu sehen sein.51 Bei einzelnen Fehlurteilen besteht grundsätzlich die Möglichkeit einer Korrektur durch die Judikative im Wiederaufnahmeverfahren; wo dessen Voraussetzungen nicht vorliegen, werden Fehlurteile hingenommen. 3.2.4. Allgemeiner Gleichheitssatz Soweit von einer Grundrechtsrelevanz auszugehen ist, müsste ein Kassationsgesetz schließlich mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sein.52 Danach sind wesentlich gleiche Sachverhalte gleich und ungleiche Sachverhalte ihrer Eigenart nach ungleich zu behandeln . Hier erschiene es problematisch, nur die Matrosen Köbis und Reichpietsch zu rehabilitieren, nicht aber die übrigen Verurteilten desselben Verfahrens oder anderer entsprechender Verfahren. Sie wurden zwar begnadigt oder weniger schwer bestraft, sind aber von einem vergleichbaren Strafmakel betroffen. *** 49 Regulski, Matrosenbewegung, S. 212 f., 218 ff. 50 Dazu allgemein Kisker, NJW 1981, 889, 893; vgl. auch Burgi/Wolff, Rehabilitierung, S. 93 f. 51 Vgl. Krieg/Wieckhorst, Der Staat 54 (2015), 539, 553 m.w.N. 52 Vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 8. März 2006, Az. 2 BvR 486/05, Rn. 106 ff.; Burgi/Wolff, Rehabilitierung, S. 98 ff. Dagegen dürfte mangels Eingriffs in ein Freiheitsgrundrecht kein verbotenes Einzelfallgesetz i.S.d. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG vorliegen, vgl. Krieg/Wieckhorst, Der Staat 54 (2015), 539, 551 f.