© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 176/20 Fragen zu Mitgliederversammlungen politischer Parteien bei Naturkatastrophen oder pandemischen Notlagen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 176/20 Seite 2 Fragen zu Mitgliederversammlungen politischer Parteien bei Naturkatastrophen oder pandemischen Notlagen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 176/20 Abschluss der Arbeit: 24. Juli 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 176/20 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung § 9 Parteiengesetz (PartG) bestimmt die wesentlichen parteiinternen Aufgaben der Mitgliederversammlung . Gemäß § 27 i.V.m. § 21 Bundeswahlgesetz (BWG) erfolgt in der Mitgliederversammlung zudem die Aufstellung von Listenkandidaten für die Bundestagswahl. Gefragt wird, ob politische Parteien die Aufgaben der Mitgliederversammlung durch Regelungen in ihrer Satzung für den Fall von Naturkatastrophen und pandemischen Notlagen (wie der derzeitigen Corona-Pandemie) auf andere Gremien übertragen können, wenn ein ordnungsgemäßer und sicherer Zusammentritt der Mitgliederversammlung nicht möglich ist. 2. Aufgaben der Mitgliederversammlung nach § 9 PartG Die Mitgliederversammlung als oberstes Organ der Partei wird bei Gebietsverbänden höherer Stufen als Parteitag bezeichnet; bei Gebietsverbänden unterster Stufen als Hauptversammlung, § 9 Abs. 1 S. 1 PartG. Ihr obliegt die Wahrnehmung der in § 9 Abs. 3 bis 5 genannten Aufgaben (u.a. Beschlussfassung über Parteiprogramm, Satzung und Tätigkeitsberichte; Wahl des Vorstands). An ihre Stelle kann unter den Voraussetzungen von § 8 Abs. 1 S. 2 bis 4 PartG zwar durch Bestimmung in der Satzung eine Vertreterversammlung treten. Darüber hinaus können die Parteien in ihren Satzungen auch weitere Aufgaben der Mitglieder- oder Vertreterversammlungen bestimmen. § 9 PartG enthält jedoch keine Befugnis zur Abweichung durch Satzungsregelungen, sondern behält die in Abs. 3 bis 5 festgelegten Aufgaben zwingend der Mitglieder- oder Vertreterversammlung vor. Diese können daher in der Satzung weder auf den Vorstand noch auf allgemeine Parteiausschüsse1 (§ 12 PartG) oder sonstige Organe der Parteien übertragen werden.2 § 9 PartG sichert damit die Stellung der Mitglieder- und Vertreterversammlung als „Grundlage und Ursprung aller Parteiwillensbildung“3. Auf diese Weise wird die verfassungsrechtliche Vorgabe des Art. 21 Abs. 1 S. 3 Grundgesetz (GG) gewahrt, wonach die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muss (innerparteiliche Demokratie). Ausnahmen sieht Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG nicht vor. Soweit ersichtlich , ist verfassungsrechtlich auch nicht anerkannt, dass in Extremfällen wie Naturkatastrophen oder pandemischen Notlagen vom Grundsatz der innerparteilichen Demokratie abgewichen werden dürfte. 1 Morlok, NK-PartG, 2. Aufl. 2013, PartG, § 12 Rn. 1; allgemeine Parteiausschüsse werden u.a. auch als „kleine Parteitage“ bezeichnet; die konkrete Benennung in den einzelnen Parteien variiert stark (bspw. Bundesausschuss, Bundeshauptausschuss, Parteirat). 2 Augsberg, in: Kersten/Rixen, Parteiengesetz und europäisches Parteienrecht, Kommentar, 2009, § 9 Rn. 4, 18; Lenski, PartG, 1. Aufl. 2011, § 9 Rn. 25. 3 Amtliche Begründung der ursprünglich in § 12 PartG enthaltenen Regelung der Aufgaben der Mitglieder- und Vertreterversammlung, BT-Drs. III/1509, S. 20 (letzter Abruf aller Internetfundstellen: 24. Juli 2020). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 176/20 Seite 4 Jedenfalls stellen die Anpassung der Modalitäten der Durchführung4 der Mitglieder- oder Vertreterversammlung und des Wahlverfahrens oder auch die terminliche Verschiebung vorrangig auszuschöpfende Mittel dar, um die in § 9 Abs. 3 bis 5 PartG beschriebenen Aufgaben wahrzunehmen. 3. Aufstellung der Listenkandidaten für die Bundestagswahl nach § 27 Abs. 5 i.V.m. § 21 Abs. 1 BWG Die Wahl zur Aufstellung der Listenkandidaten der Parteien erfolgt gemäß § 27 Abs. 5 BWG in entsprechender Anwendung des § 21 Abs. 1 BWG. Danach werden die Listenkandidaten auf Landesebene durch Mitgliederversammlungen oder durch besondere oder allgemeine Vertreterversammlungen der Parteien gewählt.5 Das BWG sieht in seiner aktuellen Fassung keine Möglichkeiten vor, die Listenkandidaten anders als im Rahmen von Mitglieder- oder Vertreterversammlungen aufzustellen. Eine Abweichung durch Satzungsregelung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Im September soll ein von den Regierungsfraktionen eingebrachter Gesetzentwurf beraten werden,6 mit dem das Bundesministerium des Innern für Bau und Heimat (BMI) ermächtigt werden soll, „im Falle einer Naturkatastrophe oder eines ähnlichen Ereignisses höherer Gewalt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates von den Bestimmungen über die Aufstellung von Wahlbewerbern abweichende Regelungen zu treffen, um die Benennung von Wahlbewerbern ohne Versammlungen zu ermöglichen, wenn der nach § 3 des Wahlprüfungsgesetzes gebildete Ausschuss des Deutschen Bundestages zu einem Zeitpunkt, der näher als neun Monate vor dem Beginn des nach Artikel 39 Absatz 1 Satz 3 des Grundgesetzes bestimmten Zeitraums liegt, feststellt, dass die Durchführung von Versammlungen ganz oder teilweise unmöglich ist.“7 Aus der Begründung des Entwurfes geht hervor, dass hier persönlich-körperliche Versammlungen gemeint sind, da nur bei dieser Art der Versammlungsdurchführung im Falle von pandemischen Notlagen ein Infektionsrisiko besteht.8 So könne das BMI etwa bestimmen, „dass die Parteien abweichend von den §§ 21, 27 BWG und entgegenstehenden Bestimmungen ihrer eigenen Satzungen Vertreter zu den Vertreterversammlungen im Sinne des § 21 BWG, Wahlbewerber in den Wahlkreisen und Listenbewerber angesichts der Krisensituation ausnahmsweise nicht wie sonst in Versammlungen wählen, wenn neun Monate vor der Wahl die Durchführung von regulären Versammlungen krisenbedingt nicht möglich ist. Hierzu könnte, soweit dies nicht schon aufgrund einer Sonderregelung wie in § 5 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-,Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der Infektionen mit dem SARSCoV-2-Virus 4 Zu sog. Online-Parteitagen (auch Internetparteitage oder virtuelle Parteitage genannt) vgl. bereits die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 29. November 2011, Online-Parteitage, WD 3 - 3000 - 327/11; siehe aus der neueren Literatur auch v. Notz, Liquid Democracy, 2020, S. 228 ff. (263). 5 Siehe dazu auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Sachstand vom 23. November 2016, Aufstellung der Listenkandidaten zur Bundestagswahl, WD 3 - 3000 - 251/16; Ausarbeitung vom 27. Januar 2017, Wahl der besonderen Vertreterversammlung für die Aufstellung von Listenkandidaten zur Bundestagswahl. Zur Ausgestaltung durch Parteisatzung, WD 3 - 3000 - 017/17. 6 TOP 21 der geplanten Tagesordnung für die 173. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am Donnerstag, dem 10. September 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/tagesordnung. 7 Vgl. den Entwurf eines neuen § 52 Abs. 4 BWG, BT-Drs. 19/20596, S. 2. 8 BT-Drs. 19/20596, (Fn. 7), S. 3. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 176/20 Seite 5 möglich ist, durch die Rechtsverordnung zugelassen werden, dass die Parteien durch Vorstandsbeschluss von anderslautenden Regelungen ihrer Satzung abweichen können, um die Ausübung der Mitgliedschaftsrechte bei der Kandidatenaufstellung ausnahmsweise in anderer Form zu ermöglichen .“9 Eine Übertragung der Kandidatenaufstellung auf andere Organe als die Mitglieder- oder Vertreterversammlung wird dagegen in der Begründung des Entwurfs nicht in Betracht gezogen. *** 9 BT-Drs. 19/20596, (Fn. 7), S. 4.