© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 175/20 Regionale Ausreisesperren als Maßnahme zur Pandemiebekämpfung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 2 Regionale Ausreisebeschränkungen als Maßnahme zur Pandemiebekämpfung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 175/20 Abschluss der Arbeit: 25. August 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Fragestellung 4 2. Verfassungsmäßigkeit von regionalen Ausreisesperren 5 2.1. Grundrechtseingriff 5 2.1.1. Recht auf Freiheit, Art. 2 Abs. 2 S. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG 5 2.1.2. Recht auf Freizügigkeit, Art. 11 GG 7 2.1.3. Weitere Grundrechtseingriffe 8 2.2. Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe 8 2.2.1. Rechtsgrundlage 8 2.2.1.1. § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG 9 2.2.1.2. § 32 S. 1 IfSG 11 2.2.1.3. Weitere Rechtsgrundlagen 11 2.2.2. Verhältnismäßigkeit von regionalen Ausreisesperren 12 2.2.2.1. Legitimer Zweck 12 2.2.2.2. Geeignetheit 12 2.2.2.3. Erforderlichkeit 14 2.2.2.4. Angemessenheit 16 2.3. Fazit 18 3. Ausreisesperre vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG 19 3.1. Schutzbereich 19 3.2. Ungleichbehandlung innerhalb einer Vergleichsgruppe 19 3.3. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung 20 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 4 1. Einleitung und Fragestellung Nachdem die Fallzahlen der aktuell mit dem neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) Infizierten in Deutschland seit dem Höchststand im März 2020 kontinuierlich gesunken sind,1 kam es Ende Juni 2020 in einzelnen Regionen punktuell zu heftigen Ausbrüchen des Virus, mit teilweise über 1.000 betroffenen Personen. Anfang Mai 2020 hatten sich Bund und Länder auf eine regionale Fokussierung zur Bekämpfung der Pandemie geeinigt; danach soll in Landkreisen, in denen mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb einer Woche auftreten, ein regionales Beschränkungskonzept durch die zuständigen Landesbehörden erarbeitet werden.2 Als Reaktion auf die zu beobachtenden regionalen „Corona-Hotspots“ wurden Überlegungen bekannt, bundesweit einheitliche Regelungen für die Beschränkung der Mobilität in den betroffenen Kreisen bzw. Regionen zu schaffen. Diese wurden unter dem Stichwort „Ausreiseverbote“ bzw. „Ausreisesperren“ zum Teil stark kritisiert .3 Am 16. Juli 2020 haben Bund und Länder sich darauf verständigt, dass bei nicht begrenzten Ausbrüchen , d.h. wenn ein signifikanter Anstieg der Neuinfektionen außerhalb bereits isolierter Kontakt - bzw. Ausbruchscluster zu beobachten sei, frühzeitig Eindämmungsmaßnahmen lokal auf weitere Cluster und/oder möglicherweise besonders betroffene Gebiete auszuweiten seien. Beschränkungen nicht erforderlicher Mobilität in die besonders betroffenen Gebiete hinein und aus ihnen heraus seien „spätestens dann geboten, wenn die Zahl [der Neuinfektionen] weiter steigt und es keine Gewissheit gibt, dass die Infektionsketten bereits umfassend unterbrochen werden konnten“4. Diese Mobilitätsbeschränkungen sollen sich – je nach den örtlichen Gegebenheiten – auf die tatsächlich betroffenen Bereiche oder kommunalen Untergliederungen (auch in Nachbarkreisen) beschränken, müssen sich also nicht auf den gesamten Landkreis bzw. die gesamte kreisfreie Stadt beziehen. Damit der Zeitraum der Maßnahmen möglichst kurz gehalten werden kann, ist vorgesehen, dass das jeweilige Land und der Bund mit zusätzlichen Kapazitäten die schnelle Kontaktnachverfolgung und Testung unterstützen sollen. Gefragt wird, nach der juristischen Umsetzbarkeit einer Ausreisesperre aus stark von Infektionen betroffenen Landkreisen. 1 Siehe die täglich aktualisierten Informationen des Robert Koch-Instituts online, abrufbar unter https://experience .arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4 (letzter Abruf 25. August 2020). 2 Siehe den Beschluss TOP 2 Nr. 3 der Telefonschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 6. Mai 2020; abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource /blob/975226/1750986/fc61b6eb1fc1d398d66cfea79b565129/2020-05-06-mpk-beschluss-data.pdf?download =1 (letzter Abruf 25. August 2020). 3 Siehe bspw. die Presseberichterstattung in: Der Tagesspiegel vom 15. Juli 2020, 1, Ausreisesperren für Corona- Hotspots geplant; FAZ vom 16. Juli 2020, 4, Streit über Ausreiseverbote bei Corona-Ausbruch; Die Welt vom 16. Juli 2020, 1, Widerstand der Bundesländer gegen Corona-Ausreisesperren. 4 Beschluss der Besprechung des Chefs des Bundeskanzleramtes mit den Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien am 16. Juli 2020, abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/besprechung -des-chefs-des-bundeskanzleramtes-mit-den-chefinnen-und-chefs-der-staats-und-senatskanzleien-am-16- juli-2020-1769380 (letzter Abruf 25. August 2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 5 Verbote, aus bestimmten Regionen auszureisen (regionale Ausreisesperren), reihen sich ein in andere Maßnahmen der Mobilitätsbeschränkung, von denen bisher zur Bekämpfung der Corona- Pandemie Gebrauch gemacht worden sind, wie bspw. dem Verbot die eigene Wohnung zu verlassen (Ausgangssperre), diese nur aus triftigem Grund verlassen zu dürfen (Ausgangsbeschränkung ) oder dem Verbot touristischer Reisen (Einreiseverbote). Anders als für diese Maßnahmen gibt es für regionale Ausreisesperren bislang keinen Präzedenzfall und damit auch keine einschlägige Rechtsprechung. Die Rechtsprechung zu den anderen Maßnahmen, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, erging ausnahmslos im einstweiligen Verfahren. Sie beruht daher auf einer summarischen Prüfung und ist insoweit vorläufig. Da keine konkrete Regelung einer regionalen Ausreisesperre zur Prüfung vorliegt, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf generelle Überlegungen und exemplarische Punkte. 2. Verfassungsmäßigkeit von regionalen Ausreisesperren Zu prüfen ist, ob regionale Ausreisesperren mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar sind. Dies bedeutet zum einen, dass die jeweiligen Anordnungen auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen müssen. Zudem müssen regionale Ausreisesperren, soweit sie in Grundrechte eingreifen, verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Es wird zunächst auf die in Frage kommenden Grundrechtseingriffe eingegangen, da diese die Anforderungen an die Rechtsgrundlage determinieren. 2.1. Grundrechtseingriff Regionale Ausreisesperren berühren die Schutzbereiche verschiedener Grundrechte. Im Vordergrund der Prüfung stehen die Grundrechte, die die Bewegungsfreiheit schützen, insbesondere das Recht auf Freiheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG. Darüber hinaus kommen Eingriffe in weitere Freiheitsgrundrechte in Betracht. Welche dies im Einzelnen sind, hängt maßgeblich von der konkreten Regelung und ggfs. den vorgesehenen Ausnahmetatbeständen, den örtlichen Gegebenheiten in der einschlägigen Region sowie den persönlichen Lebensumständen der betroffenen Person ab. 2.1.1. Recht auf Freiheit, Art. 2 Abs. 2 S. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen.5 Die Freiheit der Person nimmt einen hohen Rang ein; ihr hoher Rang kommt der neben der Bezeichnung als „unverletzlich “ auch in den verfahrensrechtlichen Sicherungen des Art. 104 GG zum Ausdruck,6 der besondere Voraussetzungen für die Einschränkungen der in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG garantierten Freiheit aufstellt. Das Zusammenspiel mit Art. 104 Abs. 1 GG zeigt, dass nicht nur klassische Freiheits- 5 BVerfGE 90, 166 (198); Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 2, Rn. 228. 6 Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 43. Edition Stand: 15.05.2020, Art. 2, Rn. 84. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 6 entziehungen Gegenstand des Schutzbereiches sind, sondern auch allgemeinere Freiheitsbeschränkungen vom Schutzbereich des Grundrechts erfasst sind.7 Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt die Freiheit, einen gegenwärtigen Aufenthaltsort zu verlassen, enthält nach allgemeiner Ansicht aber keine generelle „Mobilitätsgarantie“8. Die Reichweite des Schutzbereiches ist in der Literatur umstritten ;9 es werden verschiedene Einschränkungen gefordert: So wird vielfach vertreten, ein Eingriff setze voraus, dass durch die Maßnahmen der öffentlichen Gewalt die körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben bzw. auf einen engen Raum beschränkt werde.10 Zum Teil wird auch vertreten, dass eine Freiheitsbeschränkung erst dann anzunehmen sei, wenn „mit großer Wahrscheinlichkeit bei Nichtbefolgung einer Anordnung sofortiger unmittelbarer Zwang zulasten der körperlichen Bewegungsfreiheit zu erwarten“11 sei oder eine „besondere Sicherung gegen das Verlassen des Raums“12 vorliegen würde. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfasst der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG „von vornherein nicht eine Befugnis, sich unbegrenzt überall aufhalten und überall hin bewegen zu dürfen. Demgemäß liegt eine Freiheitsbeschränkung nur vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist“13. In der Literatur wird kritisiert, dass durch den Bezug zur rechtlichen Zugänglichkeit der Schutzbereich durch einfaches Recht bestimmbar würde und sich demzufolge der Staat selbst den Bereich definieren könne, in welchem er das Grundrecht der Freiheit der Person zu wahren habe.14 Gegen diese Kritik wird eingewandt, dass sich die genannte Schutzbereichsbegrenzung nicht auf spezifisch die Bewegungsfreiheit zulasten bestimmter Individuen oder Gruppen beschränkende Gesetze erstrecke.15 Die Frage, ob eine regionale Ausreisesperre einen Eingriff bedeuten würde, ist anders als der Fall der Ausgangssperre bisher nicht erörtert worden. Die im Zusammenhang mit der Corona-Pande- 7 Sachs, in: Stern/Sachs/Dietlein (Hrsg.), Staatsrecht: Die einzelnen Grundrechte Bd. IV/1, 1. Auflage 2006, 1088 f. 8 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 2, Rn. 98. 9 Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 2, Rn. 229. 10 Siehe nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 90. EL Februar 2020, Art. 2 Abs. 2 Nr. 2 Freiheit, Rn. 29; Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 43. Edition Stand: 15.05.2020, Art. 2, Rn. 86 ff. 11 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 2, Rn. 104. 12 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG Kommentar, 16. Auflage 2020, Art. 2, Rn. 114. 13 BVerfGE 90, 166 (198). 14 Siehe nur Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG Kommentar, 16. Auflage 2020, Art. 2, Rn. 112 m. w. N. 15 Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 90. EL Februar 2020, Art. 2 Abs. 2 Nr. 2 Freiheit, Rn. 26 m. w. N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 7 mie in einigen Bundesländern verhängten Ausgangssperren werden allgemein als Freiheitsbeschränkung und damit als Eingriff bewertet, da die betroffenen Personen nur noch in äußerst beschränkten Umfang dazu in der Lage waren, einen anderen Ort als ihre Wohnung aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten.16 Bei einer regionalen Ausreisesperre verbleibt den Betroffenen hingegen ein größerer Aktionsraum. Je nach den Umständen im Einzelfall sind neben der eigenen Wohnung viele andere Orte denkbar, die die Betroffenen aufsuchen und an denen sie sich aufhalten können. Insofern könnte es an der von der Literatur geforderten Beschränkung auf einen engen Raum fehlen. Für einen Eingriff spricht aber der Umstand, dass regionale Ausreisesperren der körperlichen Bewegungsfreiheit gezielt Grenzen setzen, über die sich die Betroffenen nicht hinaus bewegen dürfen. Die Maßnahmen sind spezifisch darauf ausgerichtet, die Fortbewegungsfreiheit auf das betroffene Gebiet zu beschränken. Die Einschränkung, zur Unterbindung eines weiteren Infektionsgeschehens das betroffene Gebiet nicht verlassen zu dürfen, ist nicht lediglich eine Nebenfolge zur Verfolgung eines anderen primären Zweckes, sondern wird von der Maßnahme selbst bezweckt. Eine solche primär bezweckte Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit hat sich dann aber auch am Maßstab des Freiheitsrechts des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zu messen. Der ggfs. relativ große Aktionsraum ist für die Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffes relevant. 2.1.2. Recht auf Freizügigkeit, Art. 11 GG Nach Art. 11 Abs. 1 GG genießen alle Deutschen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. Das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 11 GG beinhaltet „das Recht, an jedem Orte innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen “17. Von dem Schutzbereich des Freizügigkeitsrechts ist damit die Freiheit der Ortsveränderung im Sinne sowohl eines Wegzugs als auch eines Zuzugs als auch des freien Zugs selbst, also den Vorgang der Ortsveränderung erfasst.18 In Abgrenzung zu Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG handelt es sich beim Grundrecht der Freizügigkeit um Aufenthalte „zwecks Wohnsitzbegründung im Sinne einer Verlagerung des alltäglichen Lebensschwerpunkts“.19 In Abgrenzung zur Bewegungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG wird unter Freizügigkeit ein Ortswechsel von einiger Bedeutung und Dauer verstanden.20 Regionale Ausreisesperren können daher nur dann einen Eingriff in Art. 11 GG darstellen, wenn durch sie ein Ortswechsel verhindert wird, der über den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG hinausgeht. Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 GG kommt in Bezug auf Personen in 16 VG Ansbach, Ausgangsbeschränkungen und weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, CoVuR 2020, 150 (Rn. 20); VG München, Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie, NVwZ 2020, 651 (653 f.); Ziekow, Die Verfassungsmäßigkeit von sogenannten Ausgangssperren nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz , DVBl 2020, 732 (734); Guckelberger, Kontaktverbote anlässlich Corona, NVwZ – Extra 9a/2020, 1 (7 und 10); siehe auch Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 90. EL Februar 2020, Art. 2 Abs. 2 Nr. 2 Freiheit, Rn. 38. 17 BVerfGE 2, 266 (273). 18 Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 11 GG, Rn. 24. 19 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. März 2020 – OVG 11 S 12/20, BeckRS 2020, 4408, Rn. 4. 20 Pagenkopf, in: Sachs Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 11, Rn. 16; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 25 März 2008 – 1 BvR 1548/02, Rn. 25, juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 8 Betracht, die durch die Ausreisesperre an einem dauerhaften Umzug oder an dem Aufsuchen eines Zweitwohnsitzes gehindert werden. 2.1.3. Weitere Grundrechtseingriffe Durch regionale Ausreisesperren können zudem die Schutzbereiche weiterer Grundrechte betroffen sein. Es kommen hier insbesondere folgende Grundrechte in Betracht: Sofern regionale Ausreisesperren Menschen daran hindern sollten, ihren Glauben – bspw. in einem außerhalb des Sperrgebietes liegenden Gotteshauses – auszuüben, ist hierin ein Eingriff in die Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu sehen. Soweit durch die Ausreisesperren eine räumliche Trennung von Familienmitgliedern entsteht, bspw. weil die Elternteile eines Kindes getrennt voneinander in verschiedenen Landkreisen leben, ist der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz der Ehe und Familie) betroffen. Sofern es im konkreten Fall durch eine regionale Ausreisesperre unmöglich gemacht wird, an einer Versammlung teilzunehmen, liegt hierin ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG. Weiter ist an einen Eingriff in die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG zu denken, wenn durch die Ausreisesperre Personen an der Ausübung ihrer gewerbsmäßigen oder selbstständigen Tätigkeit gehindert werden würden. Ein Eingriff in die durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG garantierte Eigentumsfreiheit könnte bspw. darin liegen, wenn ein Eigentümer oder Mieter einer Zweitwohnung durch die regionale Ausreisesperre daran gehindert wird, diese aufzusuchen und zu nutzen. 2.2. Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe 2.2.1. Rechtsgrundlage Die Grundrechte werden nicht schrankenlos gewährleistet. In die meisten der genannten Grundrechte kann nur „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ eingegriffen werden (vgl. Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 11 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 S. 2, Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG). Bei einer Freiheitsbeschränkung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG sind zudem die Anforderungen des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG zu beachten: Es bedarf eines förmlichen Gesetzes, dass ausreichend bestimmt sein muss und die materiellen Voraussetzungen der Freiheitsbeschränkung „in berechenbarer, messbarer und kontrollierter Weise“ regelt.21 Auf einer Grundlage eines entsprechend bestimmten förmlichen Gesetzes ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch eine begrenzte Spezifizierung durch Rechtsverordnung möglich.22 Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln stehen der notwendigen Bestimmtheit nicht zwingend entgegen .23 Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass je gewichtiger der Eingriff ist, umso genauer die Ermächtigung ausfallen muss.24 21 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG Kommentar, 16. Auflage 2020, Art. 104, Rn. 4; unter Verweis auf BVerfGE 131, 268 (306). 22 BVerfGE 75, 329 (342 f.); 78, 374 (383). 23 BVerfGE 117, 71 (111 f.); 131, 268 (307). 24 BVerfGE 109, 133 (188); 117, 71 (111). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 9 2.2.1.1. § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG Als Rechtsgrundlage kommt zunächst § 28 Abs. 1 S. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Betracht. Gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 HS 2 IfSG ist die zuständige Behörde ermächtigt, Personen zu verpflichten , den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Die Möglichkeit, das Verlassen eines bestimmten Ortes zu untersagen, ist nach dem Wortlaut auf den „Ort, an dem sich die Person befindet“ geknüpft. Dies impliziert, dass es sich dabei um einen Ort handeln muss, an dem die Person zum Zeitpunkt der Anordnung physisch anwesend ist. Der Begriff des Ortes wird nicht näher bestimmt; dies spricht dafür, dass auch größere räumliche Zusammenhänge vom Wortlaut umfasst sein können, soweit sich diese gegenüber anderen räumlichen Zusammenhängen abgrenzen lassen. Der Wortlaut § 28 Abs. 1 IfSG wurde „aus Gründen der Normenklarheit“ mit Wirkung zum 28. März 2020 geändert.25 In Bezug auf die bis zum 27. März 2020 geltende Fassung war in der Literatur umstritten, ob Ausgangssperren und Ausgangsbeschränkungen – insbesondere, wenn sie sich an die Allgemeinheit und damit auch an Nichtstörer richten – aufgrund ihrer Eingriffsintensität auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden können.26 Der Meinungsstreit in der Literatur hat sich durch die Änderung des § 28 Abs. 1 IfSG nicht erledigt. Es wird bemängelt, dass die Regelung weiterhin nicht hinreichend bestimmt sei bzw. nicht der Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichts genüge. Um den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden, bedürfe es einer tatbestandlichen Eingrenzung auf Fälle epidemischer Notlagen von nationaler Tragweite sowie einer zeitlichen Begrenzung auf Rechtsfolgenseite.27 Andere Stimmen betonen dagegen den Charakter des § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG als gefahrenrechtliche Generalklausel, deren Sinn gerade darin bestehe, auf kaum bzw. schwer vorhersehbare Gefahrenlagen flexibel reagieren 25 Siehe dazu die ausführliche Gegenüberstellung der verschiedenen Fassungen in der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz, WD 3 - 3000 - 086/20 vom 2. April 2020, 9 f. 26 Ausführlich hierzu siehe die Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Rechtsgrundlagen für Ausgangssperren, WD 3 - 3000 - 075/20 vom 24. März 2020 sowie Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz, WD 3 - 3000 - 086/20 vom 2. April 2020. 27 Vgl. bspw. Klafki, Neue Rechtsgrundlagen im Kampf gegen Covid-19, verfassungsblog.de vom 25. März 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/neue-rechtsgrundlagen-im-kampf-gegen-covid-19/; Kießling, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bei Ausgangssperren & Co? Zur geplanten minimalinvasiven Änderung des § 28 I IfSG; juwiss.de vom 24. März 2020, abrufbar unter: https://www.juwiss.de/33-2020/ (letzter Abruf jeweils 25. August 2020); Schmitt, Die Verfassungswidrigkeit der landesweiten Ausgangsverbote, NJW 2020, 1626 (1629); Katzenmeiner Grundrechte in Zeiten von Corona, MedR 2020, 461 (462); Guckelberger, Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote anlässlich der Corona-Pandemie, NVwZ-Extra Nr. 9a, 2020, 1 (9). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 10 zu können.28 Es wird darauf hingewiesen, dass gewisse Beschränkungen der Fortbewegungsfreiheit ausdrücklich erwähnt seien. Damit habe der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass die persönliche Freiheit einschränkbar sei.29 Die Schwere des Infektionsgeschehens sowie die zeitliche Befristung der Maßnahmen seien bedeutsam für deren Verhältnismäßigkeit.30 Eine Präzisierung des § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG durch den Gesetzgeber wird gleichwohl empfohlen.31 Von der Rechtsprechung wurde § 28 Abs. 1 IfSG sowohl in seiner alten als auch in seiner neuen Fassung als hinreichende Grundlage für Ausgangsbeschränkungen angesehen.32 Das Bundesverfassungsgericht hat sich soweit ersichtlich mit den in der Literatur aufgeworfenen Fragen bisher nicht inhaltlich befasst; Eilanträge gegen Ausgangsbeschränkungen scheiterten in den durch das Bundesverfassungsgericht beschiedenen Fällen an der Folgenabwägung33 bzw. aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde34. Der Meinungsstreit zu den Ausgangsbeschränkungen lässt sich nur zum Teil auf regionale Ausreisesperren übertragen. Zwar handelt es sich bei beiden Maßnahmen um Beschränkungen der Mobilität, die zu intensiven Freiheitsbeschränkungen führen können. Bei regionalen Ausreisesperren verbleibt dem Einzelnen allerdings ein größerer Aktionsradius. Der Freiheitsbeschränkung kommt damit ein geringeres Gewicht zu. Insofern erscheint es gerechtfertigt, geringere Anforderungen an die Bestimmtheit der Rechtsgrundlage zu stellen. Dafür, dass der geänderte § 28 Abs. 1 S. 1 HS. 2 IfSG als Rechtsgrundlage für regionale Reiseverbote herangezogen werden kann, spricht zudem folgender Umstand: Es ist davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber zum Zeit- 28 Bethge, Ausgangssperre, verfassungsblog.de vom 24. März 2020, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/ausgangssperre /(letzter Abruf 25. August 2020); Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2000, 1097 (1098 f.); Ziekow, Die Verfassungsmäßigkeit von sogenannten „Ausgangssperren“ nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz, DVBl 2020, 732 (736 f.). 29 Wieland, in: Was sie zu den Ausgangsbeschränkungen wissen müssen, Süddeutsche Zeitung vom 20. März 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-ausgangssperre-grundgesetz-1.4852101 (letzter Abruf 25. August 2020). 30 Linder, in: Schmidt (Hrsg.), COVID-19, Rechtsfragen zur Coronakrise, 1. Auflage 2020, Rn. 73 ff und 86 ff.; Rixen, Grenzenloser Infektionsschutz in der Corona-Krise?, Recht und Politik 2020, 109 (111). 31 Vgl. Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2000, 1097 (1099); Ziekow, Die Verfassungsmäßigkeit von sogenannten „Ausgangssperren“ nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz , DVBl 2020, 732 (737); Guckelberger, Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote anlässlich der Corona-Pandemie, NVwZ-Extra Nr. 9a, 2020, 1 (9). 32 Siehe die Zusammenstellungen verschiedener gerichtlicher Entscheidungen in den Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz, WD 3 - 3000 - 086/20 vom 2. April 2020, S. 7 f. und Reisebeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie , WD 3 - 3000 - 133/20, S. 6; sowie OVG Münster, Beschluss vom 29 Juni 2020, 13 B 911/20.NE, Rn. 82, juris . 33 BVerfG, Beschluss vom 9. April 2020 – 1 BvR 802/20, BeckRS 2020, 5596, Rn. 12 ff.; Beschluss vom 7. April 2020 – 1 BvR 755/20, NJW 2020, 1429 f. 34 BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 2020 – 1 BvR 990/20, NJW 2020, 2326; Beschluss vom 18. April 2020 – 1 BvR 829/20, NVwZ 2020, 707. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 11 punkt der Änderung die Diskussion um die Reichweite und die Bestimmtheit der Regelung bewusst war. Gleichwohl heißt es in der Gesetzesbegründung lapidar, dass der Wortlaut aus Gründen der Normklarheit angepasst werde. Dies deutet daraufhin, dass der Gesetzgeber sich die Ansicht der bestehenden Rechtsprechung zu eigen gemacht hat, wonach schon § 28 Abs. 1 IfSG alte Fassung bereits für mobilitätsbeschränkende Maßnahmen der Ausgangsbeschränkung eine taugliche Rechtsgrundlage ist.35 2.2.1.2. § 32 S. 1 IfSG § 32 S. 1 IfSG ermächtigt die Landesregierungen, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote als Schutzmaßnahmen zu erlassen. Gemäß § 32 S. 2 IfSG können die Landesregierungen die Ermächtigung ihrerseits durch Rechtsverordnung auf andere Stellen übertragen.36 Wie oben dargelegt, stehen die Anforderungen des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einer begrenzten Spezifizierung der Freiheitsbeschränkung durch Rechtsverordnung nicht entgegen.37 Dies steht allerdings unter der Prämisse, dass § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG als ausreichend bestimmtes förmliches Gesetz im Sinne des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG zu bewerten ist. 2.2.1.3. Weitere Rechtsgrundlagen Weitere mögliche Rechtsgrundlagen finden sich in den Landespolizeigesetzen, in den Landeskatastrophenschutzgesetzen der Länder sowie im Amtshilferecht (Art. 35 Abs. 2 und Abs. 3 GG). Mit diesen Ermächtigungsgrundlagen setzt sich bereits die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste, Rechtsgrundlagen für Ausgangssperren, WD 3 - 3000 - 075/20 vom 24. März 2020 Anlage auseinander und kommt zu dem Schluss, dass diesen angesichts der Spezialität des IfSG kaum Bedeutung zukommen könne. Hierzu ist anzumerken, dass der Ausarbeitung noch der alte Wortlaut des § 28 IfSG zu Grunde lag und die Ausführungen zum IfSG daher nicht mehr aktuell sind.38 35 So schon Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz, WD 3 - 3000 - 086/20 vom 2. April 2020, 11. 36 Siehe hierzu auch Katzenmeier, Grundrechte in Zeiten von Corona, MedR 2020, 461 (462). 37 Siehe oben unter 2.2.1. 38 Zur Gegenüberstellung der verschiedenen Fassungen siehe Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz, WD 3 - 3000 - 086/20 vom 2. April 2020, 9 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 12 2.2.2. Verhältnismäßigkeit von regionalen Ausreisesperren In ihrer Ausgestaltung müssen die angeordneten regionalen Ausreisesperren in jedem konkreten Fall verhältnismäßig sein. Die setzt voraus, dass mit der Anordnung der Maßnahme ein legitimer Zweck in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgt wird.39 2.2.2.1. Legitimer Zweck Dem Beschluss vom 16. Juli 2020 des Chefs des Bundeskanzleramtes und der Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien ist zu entnehmen, dass durch regionale Mobilitätsbeschränkungen die Verbreitung von Infektionen aus dem besonders betroffenen Gebiet hinaus verhindert werden soll.40 In der vorangegangenen Diskussion wurde für regionale Ausreisesperren zudem angeführt, dass durch diese besser umfassend getestet und Infektionsketten erfasst werden könnten.41 Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, die Ausbreitung der Corona-Pandemie zu verlangsamen bzw. aufzuhalten, dienen dem Schutz der Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung sowie einer Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems. Diese Maßnahmen sind legitime Ziele für Grundrechtseingriffe.42 2.2.2.2. Geeignetheit Die Geeignetheit der Maßnahme zur Zweckerreichung bestimmt sich danach, ob die Maßnahme zur Herbeiführung des gewünschten Erfolges zumindest förderlich ist.43 Das Coronavirus überträgt sich nach bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen vor allem durch soziale Kontakte. Daher sind Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, soziale Kontakte zu verringern oder zu verhindern, geeignet, die Gesundheit der Bevölkerung und das Funktionieren des Gesundheitssystems zu schützen. Bei der Beurteilung der Geeignetheit staatlicher Maßnahmen steht der Exekutive ein Einschätzungsspielraum zu.44 39 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 20, Rn. 314. 40 Beschluss der Besprechung des Chefs des Bundeskanzleramtes mit den Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien am 16. Juli 2020, 1, abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/besprechung -des-chefs-des-bundeskanzleramtes-mit-den-chefinnen-und-chefs-der-staats-und-senatskanzleien-am-16- juli-2020-1769380 (letzter Abruf 25. August 2020). 41 Vgl. Ausreisesperren für Corona-Hotspots geplant, Der Tagesspiegel vom 15. Juli 2020, 1. 42 Vgl. etwa BVerfG, NVwZ 2020, 1040 (1041); OVG Münster, Beschluss vom 15. April 2020, 13 B 440/20.NE, BeckRS 2020, 5957, Rn. 53. 43 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 20, Rn. 314. 44 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 20, Rn. 316. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 13 Bei Reisenden aus einem Gebiet mit hohen Infektionszahlen besteht eine erhöhte Gefahr, eine unbemerkte Erkrankung zu verbreiten.45 Angesichts dessen erscheint eine regionale Ausreisesperre grundsätzlich als förderlich, um die weitere Verbreitung des Virus über den „Corona-Hotspot “ hinaus zu unterbinden. Dadurch bleiben Infektionsketten besser verfolgbar, was die Eindämmungsmöglichkeit weiter erhöht. Problematisch könnte die Geeignetheit einer Ausreisesperre, die einen ganzen Landkreis betrifft, allerdings vor folgendem Hintergrund sein: In der Diskussion wurden diese vielfach als nicht praktikabel bewertet.46 Anders als bei nationalen Grenzen bestünden an den Grenzen der Landkreise keine Schutzvorrichtungen; eine Kontrolle der Bewegungen über die Kreisgrenzen hinweg sei gerade bei großen Landkreisen nicht wirksam umsetzbar. Ob fehlende Kontrollmöglichkeiten durch eine große Akzeptanz der Maßnahme in der Bevölkerung ausgeglichen werden können, weil der Maßnahme freiwillig Folge geleistet werden würde, erscheint fraglich. Nach einer Umfrage ist die Bereitschaft, einschränkenden Maßnahmen Folge zu leisten, umso höher, je wahrscheinlicher es ist, bei einem Verstoß erwischt zu werden und je härter die darauffolgende Strafe gewesen wäre.47 Zudem zeigt eine andere Umfrage, dass sich die Risikowahrnehmung in der Bevölkerung verändert hat und die Akzeptanz von einschränkenden Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung insgesamt gesunken ist.48 Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass eine eingeschränkte Kontrolle dazu führen würde, dass sich niemand an die Ausreisesperre halten würde. Ein erneuter starker Ausbruch und stark gehäufte Infektionszahlen in einer Region könnten zudem zu einer erneuten Änderung der Einschätzung des Ansteckungsrisikos führen und für eine höhere Akzeptanz sorgen. Insofern erscheinen auch Ausreisesperren, die ganze Landkreise betreffen , nicht als völlig ungeeignet, zur Eindämmung der Pandemie beizutragen. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass eine Begrenzung auf kontrollierbare Gebiete eine größere Geeignetheit aufweisen würde. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere die Bedenken bezüglich der Praktikabilität dazu geführt haben, dass die Länder und die Bundesregierung im Juli davon abgesehen haben, einen Automatismus zu vereinbaren, bei Überschreiten bestimmter Schwellenwerte Maßnahmen gegenüber einem gesamten Landkreis zu erlassen. Stattdessen wurde sich darauf 45 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. April 2020, 11 S 25/20, BeckRS 2020, 6642, Rn. 15 46 Vgl. bspw. die Aussagen des Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts und Vertretern des Städte- und Gemeindebundes , Was für und was gegen lokale Ausreisesperren spricht, Der Tagesspiegel vom 15. Juli 2020, abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/nach-corona-ausbruch-in-guetersloh-was-fuer-und-was-gegen-lokaleausreisesperren -spricht/26005734.html (letzter Abruf 25. August 2020); Hürden für Ausreisesperren hoch, Berliner Morgenpost vom 15. Juli 2020, 4. 47 Vgl. Hohe Akzeptanz der Corona-Beschränkungen, Deutschen Apotheker Zeitung vom 24. Juli 2020, abrufbar unter https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/07/24/hohe-akzeptanz-der-corona-beschraenkungen -unter-buergern-in-deutschland/chapter:1 (letzter Abruf 25. August 2020). 48 Die Deutschen und das Virus, Süddeutsche Zeitung vom 18. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche .de/politik/coronavirus-corona-krise-einschraenkungen-lockerungen-umfragen-1.4904085 (letzter Abruf 25. August 2020) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 14 verständigt, frühzeitige Eindämmungsmaßnahmen je nach den örtlichen Begebenheiten auf die tatsächlich betroffenen Bereiche oder kommunalen Untergliederungen zu beschränken.49 2.2.2.3. Erforderlichkeit Damit das Verbot der Ausreise aus einem bestimmten Gebiet als erforderlich anzusehen ist, darf kein milderes Mittel zur Verfügung stehen, mit welchem sich der verfolgte Zweck ebenso verlässlich und effektiv erreichen lassen würde.50 Der Exekutive kommt im Hinblick auf die Wahl der Mittel eine Einschätzungsprärogative zu.51 Die Frage nach der Erforderlichkeit hängt von den konkreten Umständen ab, insbesondere dem Ausmaß des Infektionsgeschehens und den Erkenntnissen , die man über dieses hat. Von ebenso großer Bedeutung ist die konkrete Regelung und welche Härtefallregelungen diese ggfs. vorsieht. Mit Blick auf die Rechtsprechung zu den bisherigen Mobilitätsbeschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sind für die Beurteilung der Erforderlichkeit folgende Umstände maßgeblich: Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland durch das Coronavirus derzeit (Stand: 25.8.2020) weiterhin insgesamt als hoch, für Risikogruppen als sehr hoch ein.52 Bei der Bewertung der Erforderlichkeit von Mobilitätsbeschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus hielt die Rechtsprechung für bedeutsam, dass das Virus nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen hoch infektiös und die Sterberate insbesondere bei den so genannten vulnerablen Gruppen der Bevölkerung, vornehmlich ältere Menschen mit Vorerkrankungen, hoch sei. Es gebe bislang keinen Impfstoff und keine Möglichkeit der direkten medizinischen Behandlung. Andere Methoden als die Vermeidung von körperlicher Nähe und Kontaktmöglichkeiten zwischen Menschen sowie die Einhaltung bestimmter Hygieneregeln stünden derzeit nicht zu Verfügung.53 Die Erforderlichkeit der Maßnahme sei danach zu bemessen, wie effektiv sie die Einschränkung von sozialen Kontakten gewährleiste.54 Maßnahmen, die nur die Mobilität der Verdachts- und Krankheitsfälle in einem Hotspot beschränken (bspw. Quarantäne), würde weniger Personen betreffen und damit gegenüber einer 49 Beschluss der Besprechung des Chefs des Bundeskanzleramtes mit den Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien am 16. Juli 2020, abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/besprechung -des-chefs-des-bundeskanzleramtes-mit-den-chefinnen-und-chefs-der-staats-und-senatskanzleien-am-16- juli-2020-1769380 (letzter Abruf 25. August 2020). 50 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 20, Rn. 314. 51 BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 1 BvR 1021/20, NVwZ 2020, 876 (878); OVG Münster, Beschluss vom 29. Juni 2020 – 13 B 911/20.NE, Rn. 111, juris. 52 RKI, Risikobewertung zu COVID-19, Risikobewertung, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Inf AZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html (letzter Abruf 25. August 2020) 53 Siehe zum Ganzen etwa OVG Greifswald, Beschluss vom 8. April 2020, 2 KM 236/20, BeckRS 2020, 5637 Rn. 24; OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020, 2 KM 267/20, BeckRS 2020, 5675 Rn. 14. 54 VG Ansbach, Ausgangsbeschränkungen und weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, CoVuR 2020, 150 (153). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 15 generellen Ausreisesperre aller Einwohner eines Hotspots grundsätzlich ein milderes Mittel darstellen . Gerade bei einem unklaren Infektionsgeschehen erscheint diese Maßnahme aber als nicht gleich effektiv und verlässlich. Bezogen auf den erneuten lokalen Lockdown im Kreis Gütersloh hat das OVG Münster betont, dass eine Begrenzung der Beschränkungen auf den Schlachtbetrieb, in dem es zu dem massiven Corona-Ausbruch gekommen sei, bzw. auf dessen Mitarbeiter, nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand nicht als ebenso erfolgsversprechend zu bewerten sei.55 Es könne nicht unmittelbar nach dem Erkennen eines „Corona-Hotspots “ ermittelt werden, welche Bewohner einer Region bereits von dem Virus betroffen seien bzw. mit einer infizierten Person Kontakt gehabt hätten. Der Verordnungsgeber habe auch im Hinblick auf den räumlichen Schutzumfang der Maßnahmen einen Beurteilungsspielraum.56 Auch andere Gerichte betonen, es sei zu berücksichtigen, dass bereits vor Ausbruch der Symptome eine Ansteckung anderer Personen erfolgen könne. Daher sei zu Beginn eines lokalen Anstiegs der Infektionszahlen nicht verlässlich festzustellen, ob es sich um ein begrenztes oder sehr weitreichendes Infektionsgeschehen handele. Bei Einwohnern besonders betroffener Landkreise sei nicht auszuschließen, dass eine größere Zahl von Personen bereits unentdeckt infiziert sei und andere infizieren könne.57 Das Ausmaß und die Verteilung des Infektionsgeschehens sind für die Frage der Erforderlichkeit von ausschlaggebender Bedeutung. Eine Ausreisesperre für die Einwohner eines gesamten Landkreises kann von vornherein nicht erforderlich sein, wenn eine detaillierte Beurteilung des Infektionsgeschehens möglich ist und diese ergibt, dass sich das Infektionsgeschehen auf eine bestimmte Region des Landkreises bezieht. In diesem Fall wäre als milderes Mittel nur die betroffene Region mit einer Ausreisesperre zu belegen. Der VGH München hat zudem Zweifel angemeldet , Maßnahmen, die einen gesamten Landkreis betreffen, allein an die bisherigen Schwellenwerte (mehr als 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen) anzuknüpfen , und fordert die zusätzliche Feststellung einer erhöhten Gefahr im Einzelfall: „Wie bereits aus dem Beschluss der Bund-Länder-Konferenz vom 6. Mai 2020 – in der sich Bund und Länder auf das Kriterium der 7-Tages-Inzidenz und den maßgeblichen Schwellenwert verständigt haben – hervorgeht [...], kann das Infektionsgeschehen auf Kreisebene nicht nur regional verteilt, sondern auch lokalisiert und klar eingrenzbar – etwa in einem Betrieb, einer Einrichtung oder einer Wohneinheit – verlaufen. [...] Eine entsprechend detaillierte Erkenntnislage vorausgesetzt, erlaubt ein solches lokales Ausbruchsgeschehen gezielte, räumlich beschränkte Eindämmungsmaßnahmen, die das gesamte Kreisgebiet weder betreffen müssen noch – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit – dürfen. […] Daher dürfte es im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit ausgeschlossen sein, die Überschreitung des Schwellenwerts auf der jeweiligen Kreisebene als alleiniges Kriterium für das Entstehen eines Beherbergungsverbots auszugestalten bzw. das Beherbergungsverbot pauschal an die Anreise aus oder den Wohnsitz in einem solchen Landkreis /einer solchen kreisfreien Stadt zu knüpfen. Wenn der Verordnungsgeber - entspre- 55 OVG Münster, Beschluss vom 29. Juni 2020 – 13 B 911/20.NE, Rn. 138, juris. 56 OVG Münster, Beschluss vom 29. Juni 2020 – 13 B 911/20.NE, Rn. 141, juris. 57 Vgl. insoweit auch OVG Greifswald, Beschluss vom 8. April 2020, 2 KM 236/20, BeckRS 2020, 5637, Rn. 28. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 16 chend dem Bund-Länder-Beschluss vom 6. Mai 2020 - an der 7-Tages-Inzidenz auf Kreisebene und dem derzeitigen Schwellenwert festhalten wollte, wäre zusätzlich eine behördliche Feststellung im Einzelfall über die Wahrscheinlichkeit einer flächendeckenden Ausbreitung des jeweiligen Infektionsgeschehens erforderlich, um die Verhältnismäßigkeit des Aufnahmeverbots zu wahren.“58 Eine regionale Ausreisesperre kann ihre Erforderlichkeit zudem mit der Zeit verlieren, etwa wenn sich durch umfangreiche Tests in der Bevölkerung das Infektionsgeschehen besser beurteilen lässt und sich bestimmte Regionen mit einer erhöhte Gefahr ausmachen lassen.59 Als mildere Mittel kommen weiter die bisher angewandten Maßnahmen (Kontaktverbote, Abstandsgebote sowie die Schließung von Schulen, Kindertagesstätten, Gaststätten, Hotels, Kinos, Theatern, Stadien u.ä.) in Betracht. Soweit solche Maßnahmen des „Lockdowns“ nur für die betroffene Region bzw. für den betroffenen Kreis angeordnet werden, bleibt bei unbeschränkter Mobilität die Gefahr bestehen, dass Infektionen aus dem Hotspot in andere Kreise oder Bundesländer getragen werden. Mit diesen Maßnahmen ließe sich die Eindämmung des Virus nicht gleichermaßen verlässlich eindämmen. Dies gilt auch für ein „Beherbergungsverbot“ für Personen aus einer bestimmten Region. Da sich dieses auf touristische Reisen beschränkt, ist es nicht gleichermaßen geeignet, die Ausbreitung der Pandemie verlässlich zu bekämpfen. In Hinblick auf andere Mobilität, wie bspw. der Besuch eines Gottesdienstes in der Nachbarregion bliebe die Gefahr einer weiteren Verbreitung des Virus bestehen. 2.2.2.4. Angemessenheit Schließlich müsste eine angeordnete regionale Ausreisesperre auch angemessen sein. Die Angemessenheit ist gewahrt, wenn der verfolgte Zweck nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs bzw. der Eingriffe steht.60 Für die verschiedenen betroffenen Grundrechte gelten dabei entsprechend der betroffenen Rechtsgüter unterschiedliche Abwägungsmaßstäbe. Diese ergeben sich ausdrücklich aus dem Grundgesetz und/oder aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. So ist bspw. eine Einschränkungen der Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nach der Rechtsprechung nur aus besonders gewichtigen Gründen unter strenger Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zulässig,61 eine Einschränkung der Freizügigkeit setzt eine „Seuchengefahr“ voraus (Art. 11 Abs. 2 GG) und ein Berufsausübungsverbot ist nach der Rechtsprechung nur zum „Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaftsguts“62 zulässig. Diese Unterschiede können hier letztlich dahingestellt bleiben, da die regionalen Ausreisesperren eine weitere Ausbreitung des Coronavirus 58 VGH München, Beschluss vom 28. Juli 2020, 20 NE 20.1609, BeckRS 2020, 17622, Rn. 45. 59 OVG Münster, Beschluss vom 6. Juli 2020 – 13 B 940/20.NE, juris. 60 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 20, Rn. 314. 61 BVerfG, NVWZ 2016, 1079. 62 BVerfG, NJW 2017, 3704 (3705). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 17 und eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern sollen und damit dem Schutz von höchsten Rechtsgütern,63 nämlich Leben und Gesundheit der Bevölkerung dienen. Die Schwere des Eingriffs ist insbesondere abhängig von der konkreten Situation jeder einzelnen von der Ausreisesperre betroffenen Person. So wiegt bspw. der Eingriff in die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG umso schwerer, je kleiner das Gebiet ist, in welchem sich die betroffenen Personen bewegen dürfen. In der Abwägung wird zudem darauf abzustellen sein, ob und welche Ausnahmen von den regionalen Ausreisesperren für besondere Härtefälle vorgesehen werden. So könnte es bspw. unverhältnismäßig sein, wenn Kontakte zwischen Eltern und Kindern nicht möglich wären.64 Die bisherige Rechtsprechung bezüglich der Grundrechtseinschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zeigt, dass in der Abwägung der Schutzpflicht des Staates zum Gesundheitsschutz ein hoher Stellenwert zugemessen wird und die herausragende Stellung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG immer wieder hervorgehoben wird.65 Es lässt sich zudem beobachten, dass sowohl ein zeitlicher als auch ein räumlicher Faktor eine maßgebliche Rolle bei der Abwägung der widerstreitenden Interessenlagen spielen. Die Rechtsprechung zu Grundrechtseinschränkungen im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung betont , dass je länger und intensiver die Beschränkungen der Freiheitsrechte ausfallen, desto höher die Anforderung an die Rechtfertigung der getroffenen Maßnahmen ist.66 Zudem kann der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers für die zu treffenden Maßnahmen mit zunehmender Zeit und steigenden wissenschaftlichen Erkenntnissen geringer werden.67 Besonders deutlich wird dies mit Blick auf die beiden Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts Münster aus dem Juni und Juli 2020 zum erneuten Lockdown in Landkreis Gütersloh. In seinem Beschluss vom 29. Juni 2020 hielt das Gericht die Verhältnismäßigkeit für gegeben, da es davon ausging, dass die weitreichenden Schutzmaßnahmen für das Kreisgebiet Gütersloh von relativ kurzer Dauer sein würden: „Um möglichst schnell tragfähige Ergebnisse zu erzielen, werden kostenlose Tests nicht nur in den Gütersloher Testzentren durchgeführt, sondern auch von Allgemein- und Hausärzten angeboten. So kann voraussichtlich nach relativ kurzer Zeit auf belastbarer Datengrundlage über die weitere Vorgehensweise entschieden werden. [...] Hinzu kommt, dass die Regelungen vom Land fortwährend zu überprüfen und gegebenenfalls auch be- 63 BVerfGE 39, 1 (42). 64 Siehe dazu auch die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Reisebeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, WD 3 - 3000 - 133/20 vom 8. Juni 2020, 14 f. 65 Siehe bspw. OVG Saarlouis, Beschluss vom 22. April 2020 – 2 B 130/20, BeckRS 2020, 6458; OVG Berlin-Brandenburg , Beschluss vom 5. Mai 2020 – 11 S 38.20, BeckRS 2020, 7533, Rn. 26; OVG Münster, Beschluss vom 29. Juni 2020 – 13 B 911/20.NE, Rn. 142, juris. 66 OVG Saarlouis, Beschluss vom 22. April 2020 – 2 B 130/20, BeckRS 2020, 6458, Rn. 30. 67 BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 1 BvR 1021/20, NVwZ 2020, 876, Rn. 10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 18 reits vor Ablauf ihrer Geltungsdauer aufzuheben sind, wenn eine zwischenzeitlich gewonnene Datenlage ergibt, dass ein Eintrag des Virus in die übrige Bevölkerung des Kreises Gütersloh nicht oder nicht in dem befürchteten Umfang und Ausmaß stattgefunden hat.“68 In einem nur acht Tage später ergangenen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Münster erachtet das Gericht die Erstreckung der Coronaregionalverordnung auf den gesamten Kreis Gütersloh dann als unverhältnismäßig.69 Dort führt das Gericht unter Bezugnahme auch auf den vorherigen Beschluss aus: „Allerdings steigen die Differenzierungsmöglichkeiten mit einer Verdichtung der Erkenntnislage . [...] War es zu Beginn des Ausbruchsgeschehens voraussichtlich nicht zu beanstanden , die Schutzmaßnahmen anhand der 7-Tage-Inzidenz auf das gesamte Kreisgebiet auszuweiten, dürfte dies nunmehr unter Berücksichtigung der räumlichen Ausdehnung des Kreises und der mittlerweile vorliegenden Testergebnisse nach den dem Senat bekannten sowie den vom Antragsgegner präsentierten Erkenntnissen voraussichtlich nicht mehr erforderlich sein.“70 Im Hinblick auf die räumliche Ausgestaltung der staatlichen Beschränkungen führt das Oberverwaltungsgericht Münster aus: „Die Anknüpfung an die Verwaltungseinheit des Kreises dürfte sich angesichts der gegenwärtigen Erkenntnislage aber nunmehr als zu undifferenziert erweisen. Die aktuellen Neuinfektionszahlen lassen nicht erkennen, dass in sämtlichen kreisangehörigen Gemeinden und Städten des Kreises Gütersloh ein Infektionsgeschehen herrscht, das über dasjenige hingeht, das in anderen Regionen Nordrhein-Westfalens derzeit feststellbar ist und in denen der Verordnungsgeber sich auf Schutzmaßnahmen nach Maßgabe der Coronaschutzverordnung vom 1. Juli 2020 (GV. NRW. S. 456b) beschränkt. [...] Gerade weil der Landesverordnungsgeber tätig geworden ist, dessen Kompetenz nicht auf ein Kreisgebiet begrenzt ist, dürfte es nicht nur möglich sein, sondern nach gegenwärtigen Erkenntnissen sogar geboten erscheinen, diese regionalen Besonderheiten bei der Entscheidung über den räumlichen Umfang der Coronaregionalverordnung zu berücksichtigen.“71 2.3. Fazit Die bisherige Rechtsprechung lässt darauf schließen, dass aufgrund der Gefährdung, die von der Corona-Pandemie ausgeht, regionale Ausreisesperren durchaus verhältnismäßig sein können. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit kommt der Möglichkeit, das Infektionsgeschehen bewerten zu können, sowie einem räumlichen und zeitlichen Faktor große Bedeutung zu. Während kurz nach Bekanntwerden eines größeren Corona-Ausbruchs in einem bestimmten Gebiet der be- 68 OVG Münster, Beschluss vom 29. Juni 2020 – 13 B 911/20.NE, Rn. 143 u. 152 [Hervorhebungen nur hier]. 69 OVG Münster, Beschluss vom 6. Juli 2020 – 13 B 940/20.NE, Rn. 52, juris. 70 OVG Münster, Beschluss vom 6. Juli 2020 – 13 B 940/20.NE, Rn. 54 u. 62, juris. 71 OVG Münster, Beschluss vom 6. Juli 2020 – 13 B 940/20.NE, Rn. 62 u. 67 [Hervorhebungen nur hier], juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 19 troffene Kreis durchaus groß zu ziehen sein kann, sind nach gezielten und flächendeckenden Testungen möglichst kleinschrittige regionale Differenzierungen vorzunehmen, die zudem zeitlich zu beschränken sind. 3. Ausreisesperre vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG 3.1. Schutzbereich Regionale Ausreisesperren sind auch anhand des Maßstabes des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Auf Grundlage des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG darf „weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich“ behandelt werden.72 3.2. Ungleichbehandlung innerhalb einer Vergleichsgruppe Ob eine Ungleichbehandlung vorliegt, ist in zwei Schritten herauszuarbeiten; zunächst ist ein gemeinsamer Oberbegriff zu bilden. Die Ungleichbehandlung lässt sich dann durch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen den Personen, Sachverhalten oder Gruppen feststellen.73 Als Oberbegriff kommt hier die Bevölkerung eines Bundeslandes bzw. eines Landkreises in Betracht. Soweit in einem Bundesland aufgrund eines gehäuften Infektionsgeschehens in einem Landkreis für diesen eine Ausreisesperre angeordnet werden würde, wäre nur den Einwohnern dieses Landkreises die Ausreise aus ihrem Landkreis untersagt. Sie würden damit gegenüber den Einwohnern eines (benachbarten) Landkreises, bei dem kein entsprechendes Infektionsgeschehen zu beobachten ist, ungleich behandelt. Auf kleinerem Maßstab gilt dies auch für den Fall, dass nur die Einwohner eines bestimmten Gebiets eines Landkreises (bspw. ein Dorf) von einer Ausgangssperre betroffen sind; hier würden die Einwohner des Gebiets gegenüber den Einwohnern des gesamten Landkreises ungleich behandelt. Hierbei gilt zu beachten, dass eine Ungleichbehandlung voraussetzt, dass alle die Ungleichbehandlung ausmachenden Akte demselben Hoheitsträger zurechenbar sind.74 Der Gleichheitssatz bindet jeden Träger öffentlicher Gewalt nur innerhalb seines eigenen, durch Verfassungs- und Organisationsrecht umgrenzten Zuständigkeits- und Kompetenzbereichs.75 Der Zuständigkeitsbereich eines Trägers von öffentlicher Gewalt stellt die Grenze des Gleichheitssatzes dar.76 Das gilt für Rechtsungleichheiten in den verschiedenen Bundesländern sowie in Angelegenheiten der 72 BVerfGE 4, 144 (155). 73 Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Auflage 2013, Rn. 24. 74 Vgl. Boysen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 3, Rn. 67. 75 BVerfGE 93, 319 (351); 122, 1 (25). 76 Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, Kommentar, 8. Auflage 2018, Art. 3, Rn. 81. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 20 kommunalen und funktionalen Selbstverwaltung.77 Soweit Landkreise und Städte für das gesamte ihnen unterstehende Gebiet dem jeweiligen Infektionsgeschehen angepasste Maßnahmen anordnen, stellt dies noch keine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG dar. Soweit es durch einen Akt desselben Hoheitsträgers zu einer Ungleichbehandlung kommen sollte, bspw. weil das Gesundheitsamt nur für die Einwohner eines Dorfes eine regionale Ausgangssperre aufgrund eines erhöhten Infektionsaufkommens anordnet, für andere Gebiete, die demselben Gesundheitsamt unterstehen, dagegen nicht, stellt sich die Frage nach ihrer Rechtfertigung . 3.3. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Eine Ungleichbehandlung stellt nicht automatisch einen grundgesetzwidrigen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz dar, sondern kann einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zugeführt werden. Bei der Ungleichbehandlung kommt dem Gesetzgeber ein Ermessensspielraum zu, der keiner vollständigen gerichtlichen Kontrolle hinsichtlich der Zweckmäßigkeit unterliegt.78 Die Grenzen, die sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ergeben, sind abhängig von dem konkreten Regelungsgegenstand – die konkret an die Rechtfertigung zu stellenden Anforderungen sind anhand der Eigenheiten des zu regelnden Sachverhalts zu bestimmen.79 Differenzierungen sind in jedem Fall nur auf der Grundlage von Sachgründen zulässig.80 Eine Differenzierung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dabei umso schwieriger zu rechtfertigen, je weiter die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auf die Freiheitsausübung sein können.81 Im Einzelnen besteht in Literatur und Rechtsprechung keine Einigkeit bezüglich des exakten Prüfungsmaßstabes, der auf Rechtfertigungsebene zugrunde zu legen ist.82 Der Maßstab kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen .83 Angesichts der Betroffenheit zahlreicher Freiheitsrechte wird die Ungleichbehandlung an den Anforderungen des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu messen sein. Dabei ist 77 Boysen, in: v. Münch/Kunig(Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 3, Rn. 67 m. w. N. 78 BVerfGE 3, 162 (182). 79 BVerfG, Beschluss vom 19. November 2019 – 2 BvL 22/14, NJW 2020, 451 (452). 80 BVerfG, Beschluss vom 19. November 2019 – 2 BvL 22/14, NJW 2020, 451 (452). 81 BVerfGE 122, 210 (Rn. 56). 82 Siehe hierzu Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 43. Edition Stand: 15.05.2020, Art. 3, Rn. 24 u. 34 ff.; Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 3, Rn. 53; zu dem „gleitenden Rechtfertigungsmaßstab“ des BVerfG siehe Boysen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG- Kommentar, 6. Auflage 2012, Rn. 103 f. 83 BVerfGE 117, 1 (30). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 175/20 Seite 21 zu beachten, dass im Gefahrenabwehrrecht jedenfalls besonders die Unvorhersehbarkeit sowie die Variabilität des Geschehensablaufs zu berücksichtigen sein wird.84 Mit dem Zweck des Gesundheitsschutzes durch Verringerung der weiteren Ausbreitung der Pandemie verfolgt eine regionale Ausreisesperre einen sachlichen Grund. Wie im Rahmen der Rechtfertigung der Einschränkung von Freiheitsrechten aufgezeigt, kommt es für die Bewertung der Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung wesentlich auf einen vom Einzelfall abhängigen zeitlichen und räumlichen Faktor an. So hat das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem ersten Eilbeschluss zu den Beschränkungen im Kreis Gütersloh die Kurzfristigkeit der Maßnahmen betont: „Die Ungleichbehandlung dürfte sachlich gerechtfertigt und angemessen sein. Sie knüpft an die unterschiedlichen Erkenntnislagen über die regionale Verbreitung des Virus innerhalb der Bevölkerung an. Es dürfte unter Berücksichtigung der bestehenden Unsicherheiten und der hohen Infektiosität des Virus nicht zu beanstanden sein, wenn der Verordnungsgeber örtlich begrenzt, kurzfristig (strengere) Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des (potenziellen) Infektionsgeschehens ergreift, um Zeit für notwendige Aufklärungsmaßnahmen - etwa zur Durchführung von Massentests innerhalb der Bevölkerung - zu gewinnen , um anschließend auf belastbarer Grundlage über die weitere Vorgehensweise zu entscheiden .“85 Dabei gilt zu beachten, dass Ausreisesperren auch vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG auf der Grundlage des aktuellen Infektionsgeschehens ständig einer Evaluierung zu unterziehen sind. Auch hinsichtlich der räumlichen Ausdehnung der Ausreisesperren ist eine Orientierung an der geographischen Verteilung der Infektionsfälle nötig. *** 84 OVG Hamburg, Beschluss vom 26. März 2020 – 5 Bs 48/20, COVuR 2020, 105 (Rn. 13). 85 OVG Münster, Beschluss vom 29. Juni 2020 – 13 B 911/20.NE, Rn. 151, juris.