© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 174/20 Mögliche Nichtigkeit der geänderten Bußgeldkatalog-Verordnung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/20 Seite 2 Mögliche Nichtigkeit der geänderten Bußgeldkatalog-Verordnung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 174/20 Abschluss der Arbeit: 21. Juli 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/20 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand befasst sich mit der Vierundfünfzigsten Änderungsverordnung zur Straßenverkehrsordnung 1. Mit der Verordnung wurden mehrere straßenverkehrsrechtliche Verordnungen geändert, darunter die Bußgeldkatalog-Verordnung. Unter anderem wurden die Regelungen für die Erteilung eines Fahrverbots erweitert. Nach Presseberichten geht das normgebende Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur inzwischen von der Nichtigkeit der geänderten Fassung der Bußgeldkatalog-Verordnung aufgrund eines formellen Fehlers aus. Soweit ersichtlich, will nach aktuellem Stand der Großteil der Bundesländer die entsprechenden Vorschriften bis auf Weiteres nicht mehr anwenden.2 Der Sachstand behandelt zunächst die mögliche Nichtigkeit der Änderungen der Bußgeldkatalog- Verordnung. Des Weiteren wird die Frage behandelt, ob die Verwaltung das Recht hat, für nichtig erachtete Rechtsverordnungen nicht anzuwenden. Abschließend wird erläutert, welche Folge eine Nichtanwendung der Änderungsverordnung aufgrund von Nichtigkeit hätte. 2. Nichtigkeit der geänderten Bußgeldkatalog-Verordnung? Art. 80 Abs. 1 GG benennt die Voraussetzungen für den Erlass einer Rechtsverordnung. Nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen durch Gesetz ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG verpflichtet den Verordnungsgeber, die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage in der Verordnung anzugeben. Dieses sog. Zitiergebot dient zum einen der Klarstellung, ob der Verordnungsgeber von einer ihm erteilten Ermächtigung Gebrauch machen wollte.3 Zum anderen dient es der Kontrolle, ob der Verordnungsgeber sich in den gesetzlichen Grenzen der Ermächtigung gehalten hat.4 Ermächtigungsgrundlage für die Bußgeldkatalog-Verordnung ist § 26a Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StVG. Dieser ermächtigt das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Vorschriften über die Erteilung von Verwarnungen (Nr. 1), Geldbußen (Nr. 2) und Fahrverboten (Nr. 3) zu erlassen. Durch die Vierundfünfzigste Änderungsverordnung zur Straßenverkehrsordnung wurden in der Bußgeldkatalog-Verordnung unter anderem die Voraussetzungen für die Erteilung eines Fahrver- 1 Vom 20. April 2020 (BGBl. I S. 814). 2 Frankfurter Allgemeine Zeitung, "Raser-Regeln" nichtig, 11. Juli 2020, S. 17. Siehe zum aktuellen Stand auch faz.net, Brandenburg lässt bei Rasern Gnade walten, 19. Juli 2020, abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/politik/inland /nichtiger-bussgeldkatalog-brandenburg-laesst-bei-rasern-gnade-walten-16867784.html (Stand: 21. Juli 2020). 3 BVerfGE 101, 1 (42). 4 Uhle, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 43. Edition 15. Mai 2020, Art. 80 Rn. 32c; Bauer, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2015, Art. 80 Rn. 44. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/20 Seite 4 bots (§ 26a Abs. 1 Nr. 3 StVG) geändert. Als Ermächtigungsgrundlagen werden in der Eingangsformel 5 der Änderungsverordnung allerdings nur § 26a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StVG genannt, während die Nr. 3 fehlt. Das Zitiergebot wurde daher in Bezug auf die Änderung der Regelungen zur Erteilung eines Fahrverbots nicht eingehalten. Eine Rechtsverordnung, die das Zitierverbot verletzt, ist nichtig.6 Für die Annahme der Nichtigkeit kommen im vorliegenden Fall grundsätzlich drei Ansatzpunkte in Betracht:7 Zunächst besteht die Möglichkeit, die gesamte Vierundfünfzigste Änderungsverordnung zur Straßenverkehrsordnung , durch die die Änderung der Bußgeldkatalog-Verordnung erfolgte, als nichtig einzustufen. Diese Ansicht dürfte allerdings eher fernliegend sein: Bei der Änderungsverordnung handelt es sich um eine sog. Artikelverordnung, die mehrere Rechtsverordnungen zugleich ändert. Die nicht genannte Ermächtigungsgrundlage ist nur für die Bußgeldkatalog-Verordnung relevant, nicht aber für durch andere Artikel geänderte Rechtsverordnungen. Die Nichtigkeit dürfte sich daher wohl nur auf die Bußgeldkatalog-Verordnung beziehen. In Bezug auf die Bußgeldkatalog- Verordnung besteht entweder die Möglichkeit, die gesamte geänderte Fassung der Verordnung als nichtig anzusehen oder aber nur den Teil, für den die Ermächtigungsgrundlage fehlt, also den Teil, der sich auf die Erteilung von Fahrverboten bezieht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Rechtsverordnung, die sich auf mehrere Ermächtigungsgrundlagen stützt und diese nur unvollständig benennt, insgesamt nichtig.8 Dies spricht dafür, die gesamte geänderte Fassung der Bußgeldkatalog-Verordnung als nichtig anzusehen. 3. Nichtanwendungskompetenz der Verwaltung Die Nichtigkeit einer Rechtsverordnung wird grundsätzlich im gerichtlichen Verfahren festgestellt. Bei Rechtsverordnungen des Bundes kommen in erster Linie die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG sowie die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG vor dem Bundesverfassungsgericht in Betracht.9 5 Die Nennung der Ermächtigungsgrundlage in der Eingangsformel einer Rechtsverordnung ist gängige Praxis. Diese Vorgehensweise ist auch dann zulässig, wenn – wie hier – durch eine Rechtsverordnung mehrere Verordnungen geändert werden. Eine genaue Zuordnung, welche Ermächtigungsnorm die Grundlage für welche der geänderten Rechtsverordnungen bildet, ist nicht erforderlich, siehe Uhle, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 43. Edition 15. Mai 2020, Art. 80 Rn. 32a. 6 BVerfGE 101, 1 (42 f.). 7 Siehe zu den drei Möglichkeiten auch Der Spiegel, „Bußgelder reduzieren“, 11. Juli 2020, S. 24. 8 BVerfGE 101, 1 (43). 9 Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 80 Rn. 83. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/20 Seite 5 Klagt ein Bürger gegen eine Handlung der Verwaltung, die auf einer Rechtsverordnung beruht, so prüft das jeweilige Verwaltungsgericht im Wege der sog. Inzidentkontrolle, ob die Rechtsverordnung eine taugliche Ermächtigungsgrundlage bildet oder ob sie unwirksam ist und daher unangewendet bleiben muss.10 Diese Entscheidung gilt allerdings nur im konkreten Einzelfall. Solange eine Rechtsverordnung nicht durch ein Gericht allgemeinverbindlich für nichtig erklärt wurde bzw. vom Verordnungsgeber geändert oder aufgehoben wurde, ist sie grundsätzlich wirksam. Der Verwaltung kann jedoch möglicherweise das Recht zustehen, von ihr als nichtig erkannte Rechtsvorschriften nicht anzuwenden. Bei Gesetzen ist eine Nichtanwendung durch die Verwaltung nach herrschender Meinung ausgeschlossen.11 In Bezug auf Rechtsverordnungen ist die Möglichkeit der Nichtanwendung durch die Verwaltung umstritten. Zum Teil wird sie generell abgelehnt.12 Nach wohl herrschender Meinung wird die Nichtanwendungskompetenz der Verwaltung aber in Bezug auf Rechtsverordnungen zumindest im Grundsatz bejaht. Dies wird zum Teil direkt aus der Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet.13 Aufgrund dieser Bindung steht der Verwaltung das Recht bzw. die Pflicht zu, von ihr anzuwendende Normen auf ihre Gültigkeit zu prüfen.14 Hat eine Behörde – etwa aufgrund ihr gegenüber vorgebrachter Gründe – Anlass, an der Wirksamkeit einer Vorschrift zu zweifeln, so verletzt sie ihre Amtspflichten, wenn sie die Norm zur Grundlage ihrer Entscheidung macht.15 Gegner der Nichtanwendungskompetenz betonen aber, dass die Verwaltung in diesen Fällen verpflichtet ist, die in Frage stehende Norm gerichtlich prüfen zu lassen.16 10 Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 90. EL Februar 2020, Art. 80 Rn. 141. 11 Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 1 Rn. 233; Kunig, in: von Münch/Kunig, 6. Auflage 2012, Art. 1 Rn. 61; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Auflage 2007, § 101 Rn. 5.; a.A. Kopp, Das Gesetzes- und Verordnungsprüfungsrecht der Behörden, in: DVBl. 1983, 821 (828 f.). 12 Gril, Normprüfungs- und Normverwerfungskompetenz der Verwaltung, in: JuS 2000, 1080 (1085). 13 Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 1 Rn. 233; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Auflage 2020, Art. 20 Rn. 57. 14 Gril, Normprüfungs- und Normverwerfungskompetenz der Verwaltung, in: JuS 2000, 1080 (1081); Nonnenmacher/ Feickert, Administrative Normverwerfungskompetenz: Zum Umgang mit ungültigen Rechtsverordnungen und Satzungen, in: VBlBW 2007, 328 (329). 15 Nonnenmacher/Feickert, Administrative Normverwerfungskompetenz: Zum Umgang mit ungültigen Rechtsverordnungen und Satzungen, in: VBlBW 2007, 328 (329) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 16 Gril, Normprüfungs- und Normverwerfungskompetenz der Verwaltung, in: JuS 2000, 1080 (1085). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/20 Seite 6 Unter den Befürwortern der Nichtanwendungskompetenz wird zum Teil angenommen, dass das Recht zur Nichtanwendung von Normen durch die Verwaltung generell bei allen verfassungsrechtlichen Bedenken bestehe.17 Nach anderer Ansicht besteht die Kompetenz zumindest dann, wenn die Verwaltung eine Vorschrift für nichtig hält.18 Einige Stimmen gehen davon aus, dass die jeweilige Behörde die in Frage stehende Vorschrift zunächst der normgebenden Stelle zur Entscheidung vorlegen muss.19 Da im vorliegenden Fall allerdings die normgebende Stelle – nämlich das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur – selbst von der Nichtigkeit ausgeht, wäre dieser Schritt hier überflüssig. Einige Autoren weisen darauf hin, dass übergeordnete Behörden zur Wahrung der Einheitlichkeit des Normvollzugs Verwaltungsvorschriften erlassen sollten, die den nachgeordneten Behörden Anordnungen bezüglich der Nichtanwendung von Vorschriften erteilen.20 In diesem Sinne hat etwa das nordrhein-westfälische Innenministerium einen Erlass an die Polizeibehörden und Bußgeldstellen gerichtet, der Regelungen bezüglich der Nichtanwendung der geänderten Bußgeldkatalog- Verordnung beinhaltet.21 4. Rechtsfolgen der Nichtanwendung aufgrund von Nichtigkeit Folge der Nichtigkeit einer Rechtsnorm ist grundsätzlich, dass diese von Anfang an keine Rechtswirkung entfalten konnte.22 Die Rechtsnorm wird daher so behandelt, als wäre sie nie erlassen worden. Bei Vorschriften, die zur Änderung eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung dienen sollten, hat die Nichtigkeit zur Folge, dass die ältere Vorschrift nicht verdrängt werden konnte und daher automatisch wieder auflebt.23 Nach diesem Rechtgedanken dürfte eine Behörde, die eine Vorschrift nicht anwendet, weil sie sie für nichtig hält, verpflichtet sein, das vor dem Erlass dieser Vorschrift geltende Recht anzuwenden. Eine Behörde, die die geänderte Fassung der Bußgeldkatalog-Verordnung für nichtig hält, wäre 17 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 99. 18 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Auflage 2007, § 103 Rn. 80; Schnelle, Eine Fehlerfolgenlehre für Rechtsverordnungen, 2007, 327; Pietzcker, Inzidentverwerfung rechtswidriger untergesetzlicher Rechtsnormen durch die Verwaltung, in: DVBl. 1986, 806 (807 f.). 19 Nonnenmacher/Feickert, Administrative Normverwerfungskompetenz: Zum Umgang mit ungültigen Rechtsverordnungen und Satzungen, in: VBlBW 2007, 328 (339); vgl. OVG Koblenz, Beschluss vom 14. Mai 2013 – 8 A 10043/13, NVwZ-RR 2013, 747; BGH, Urteil vom 10.04.1986 - III ZR 209/84, NVwZ 1987, 168 (169). 20 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Auflage 2007, § 103 Rn. 80; Kopp, Das Gesetzes- und Verordnungsprüfungsrecht der Behörden, in: DVBl. 1983, 821 (828). 21 Siehe sueddeutsche.de, „NRW: Vorerst keine Anwendung mehr von neuem Bußgeldkatalog“, 3. Juli 2020, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verkehr-duesseldorf-nrw-vorerst-keine-anwendung-mehr-vonneuem -bussgeldkatalog-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200703-99-665126 (Stand: 21. Juli 2020). 22 Vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, Fünftes Kapitel Rn. 1375. 23 Karpenstein, in: Walter/Grünewald, BeckOK BverfGG, 8. Edition Stand: 1. Januar 2020, § 78 Rn. 8; vgl. BVerfGE 102, 197 (208). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/20 Seite 7 daher wohl verpflichtet, diejenige Fassung anzuwenden, die vor der Änderung durch die Vierundfünfzigste Änderungsverordnung zur Straßenverkehrsordnung galt. Hält die Behörde nur den Teil der geänderten Bußgeldkatalog-Verordnung für nichtig, der sich auf die Anordnung von Fahrverboten bezieht, so wäre dementsprechend nur für diesen Teil die vorhergehende Fassung anzuwenden. ***