© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 174/19 Auslieferung an Drittstaaten Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 2 Auslieferung an Drittstaaten Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 174/19 Abschluss der Arbeit: 26. Juli 2019 (zugleich letzter Abruf der Internetquellen) Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Verpflichtung zur Verfolgung von Auslandstaten 4 2.1. Geltung des deutschen Strafrechts 4 2.2. Verbot der Doppelbestrafung 6 3. Auslieferungsabkommen und sonstige Regelungen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen 7 3.1. Freiwillige Überstellung 8 3.2. Zwangsweise Überstellung 9 3.2.1. Europäisches Auslieferungsabkommen 9 3.2.2. Zusatzprotokoll zum Überstellungsübereinkommen vom 18. Dezember 1997 10 3.2.3. Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 4 1. Fragestellung Hintergrund des Sachstands ist die Frage, ob mutmaßliche bzw. in der Türkei verurteilte Täter des 1993 im türkischen Sivas verübten Brandanschlags auf Teilnehmer eines alevitischen Festivals in Deutschland strafrechtlich verfolgt oder an die Türkei ausgeliefert werden können bzw. müssen. Der Sachstand befasst sich zunächst mit der Verpflichtung zur Verfolgung von Straftaten , die im Ausland verübt wurden. Anschließend werden die verschiedenen Abkommen dargestellt , die Deutschland für die Auslieferung von strafrechtlich verfolgten oder verurteilten Personen mit Drittstaaten abgeschlossen hat.1 Zudem wird auf das inländische Verfahren der Auslieferung eingegangen. Ferner wurde nach den Auswirkungen der Verübung von Straftaten auf den aufenthaltsrechtlichen und den flüchtlingsrechtlichen Status gefragt. Dazu werden die beiden Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Auswirkung begangener Straftaten auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik, WD 3 - 3000 - 255/15 (Anlage 1) und Ausschluss und Widerruf von flüchtlingsrechtlichem Schutz, WD 3 - 3000 - 324/18 (Anlage 2) übermittelt. 2. Verpflichtung zur Verfolgung von Auslandstaten 2.1. Geltung des deutschen Strafrechts Nach dem sogenannten Legalitätsprinzip sind die deutschen Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich verpflichtet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, wenn sie Kenntnis vom Verdacht einer Straftat erlangen, §§ 152 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO)2, 160 StPO, 163 StPO.3 Voraussetzung ist allerdings, dass das deutsche Strafrecht auf die Tat überhaupt anwendbar ist. Dem in § 3 Strafgesetzbuch (StGB)4 normiertem Territorialitätsprinzip entsprechend findet das deutsche Strafrecht grundsätzlich auf Taten Anwendung, die auf deutschem Staatsgebiet begangen werden.5 Für im Ausland begangene Taten gilt das StGB nur, soweit dies ausdrücklich geregelt ist. Die §§ 4 bis 7 StGB normieren Durchbrechungen des Territorialitätsprinzips, indem sie 1 Die Ausführungen dieses Abschnitts entstammen zum Teil dem Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Überstellung verurteilter Personen, WD 3 - 3000 - 367/10. 2 In der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), zuletzt geändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 11. Juli 2019 (BGBl. I S. 1066). 3 Eine Ausnahme vom Legalitätsprinzip besteht für die sogenannten Antragsdelikte, die nur auf Antrag des Verletzten verfolgt werden, §§ 77 ff. Strafgesetzbuch. 4 In der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 19. Juni 2019 (BGBl. I S. 844). 5 Ambos, in: Münchner Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2017, § 3 Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 5 das deutsche Strafrecht über das inländische Hoheitsgebiet hinaus auf Auslandssachverhalte für anwendbar erklären.6 Völkerrechtlich gilt grundsätzlich das Interventionsverbot7, welches eine willkürliche Ausdehnung der eigenen Strafgewalt untersagt.8 Für die Ahndung von Straftaten, die auf fremdem Territorium begangen wurden und für die originär die Strafgewalt des betreffenden Staates greift, ist es erforderlich, dass die Erstreckung der eigenen Strafgewalt durch ein völkerrechtlich anerkanntes Geltungsprinzip gedeckt ist.9 Die wichtigsten völkerrechtlich anerkannten Geltungsprinzipien sind dabei das Territorialitätsprinzip (inklusive des Flaggenprinzips), das Schutzprinzip, das passive und das aktive Personalitätsprinzip, das Weltrechtsprinzip (auch Universalitätsprinzip) und das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege.10 § 4 StGB kodifiziert das völkerrechtlich anerkannte Flaggenprinzip11 und dehnt die deutsche Strafgewalt auf Straftaten aus, die auf deutschen Schiffen und Luftfahrzeugen außerhalb des deutschen Hoheitsgebiets verwirklicht werden.12 Der das Schutzprinzip13 verkörpernde § 5 StGB enthält einen Katalog von „Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug“ und statuiert, dass in diesen Fällen das deutsche Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts gilt.14 § 5 StGB dient dabei insbesondere dem Schutz inländischer staatlicher Interessen sowie dem Schutz von Individualrechtsgütern .15 § 6 StGB normiert als Ausdruck des Weltrechtsprinzips16 die Geltung des deutschen Strafrechts für bestimmte Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter, auch wenn kein konkreter Anknüpfungspunkt im Inland besteht. Die Auswahl der Straftatbestände gründet überwiegend in zwischenstaatlichen Abkommen, durch die sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet hat, bestimmte, das gemeinschaftliche Interesse der Vertragsparteien 6 Ambos, in: Münchner Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2017, Vorbemerkung zu § 3 Rn. 1. 7 Siehe hierzu Ambos, in: Münchner Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2017, Vorbemerkung zu § 3 Rn. 11 ff.; Böse, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2017, Vorbemerkungen zu §§ 3 ff. Rn. 12 ff. 8 Reinbacher, Die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf Auslandstaten gem. § 7 StGB, in: ZJS 2018, 142 (143). 9 Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, § 2 Rn. 2; Reinbacher, Die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf Auslandstaten gem. § 7 StGB, in: ZJS 2018, 142 (143). 10 Reinbacher, Die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf Auslandstaten gem. § 7 StGB, in: ZJS 2018, 142 (143). 11 Siehe hierzu Eser/Weißer, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), StGB, 30. Aufl. 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 3-9 Rn. 19. 12 V. Heintschel-Heinegg, in: BeckOK, StGB, 42. Ed. 1. Mai 2019, § 4 Rn. 1. 13 Siehe hierzu Eser/Weißer, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), StGB, 30. Aufl. 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 3-9 Rn. 21 ff. 14 V. Heintschel-Heinegg, in: BeckOK, StGB, 42. Ed. 1. Mai 2019, § 5 Rn. 1. 15 V. Heintschel-Heinegg, in: BeckOK, StGB, 42. Ed. 1. Mai 2019, § 5 Rn. 17. 16 Siehe hierzu Fischer, in: ders., StGB, 64. Aufl. 2017, Vor §§ 3-7 Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 6 verletzende Verhaltensweisen mit Strafe zu bedrohen.17 Es wird insofern eine abgeleitete Strafgewalt ausgeübt, als die Taten „treuhänderisch“ für die gesamte Staatengemeinschaft verfolgt werden .18 § 7 StGB ist nach überwiegender Auffassung in der Literatur keinem einheitlichen völkerrechtlichen Geltungsprinzip zuzuordnen.19 So kommen das aktive sowie das passive Personalitätsprinzip und das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege in § 7 StGB zum Ausdruck. § 7 StGB erstreckt die deutsche Strafgewalt auf Auslandstaten, die gegen Deutsche (§ 7 Abs. 1 StGB) oder von Deutschen (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB) oder auch von Ausländern begangen werden, die sich im Inland aufhalten, aber nicht ausgeliefert werden (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB).20 Gemeinsame Voraussetzung der in § 7 StGB genannten Fälle ist, dass die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Maßgeblich ist dabei der Zeitpunkt der Tatbegehung.21 Ist das deutsche Strafrecht nach den §§ 4 bis 7 StGB anwendbar, so sind die Verjährungsfristen nach §§ 78 ff. StGB zu beachten. Zudem kann die Staatsanwaltschaft nach § 153c StGB bei bestimmten Auslandstaten von der Verfolgung absehen. 2.2. Verbot der Doppelbestrafung Es stellt sich die Frage, ob eine Tat, für die bereits im Ausland eine Verurteilung erfolgt ist, in Deutschland weiterhin verfolgt werden darf. Dies könnte gegen den in Art. 103 Abs. 3 GG statuierten Grundsatz verstoßen, dass niemand wegen derselben Tat auf Grundlage der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf („ne bis in idem“). Über den Wortlaut hinaus ist der Anknüpfungspunkt für das Verbot einer erneuten Strafe nicht nur eine rechtskräftige Verurteilung , sondern auch ein rechtskräftiger Freispruch. Ebenso ist das Verbot wiederholter Strafverfolgung von Art. 103 Abs. 3 GG erfasst.22 Das Bundesverfassungsgericht vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass grundsätzlich nur Entscheidungen durch Gerichte der Bundesrepublik Deutschland die Rechtsfolgen des Art. 103 Abs. 3 GG auslösen können.23 Ein von einem ausländischen Gericht Verurteilter bzw. Freigesprochener kann sich daher gegenüber der deutschen Strafjustiz nicht auf Art. 103 17 V. Heintschel-Heinegg, in: BeckOK, StGB, 42. Ed. 1. Mai 2019, § 6 Rn. 1. 18 Böse, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2017, § 6 Rn. 1. 19 Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl. 2007, § 7 Rn. 4; Reinbacher, Die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf Auslandstaten gem. § 7 StGB, in: ZJS 2018, 142 (144). 20 Zu den Voraussetzungen der Auslieferung siehe unter 3. 21 Ambos, in: Münchner Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2017, § 7 Rn. 4. 22 Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 2. 23 BVerfGE 12, 62 (66 f.); BVerfG, Beschluss vom 9. Juli 1997 – 2 BvR 3028/95 – juris Rn. 17; BVerfG NJW 2012, 1202 (1203); Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 76. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 7 Abs. 3 GG berufen.24 Eine Ausnahme besteht für Entscheidungen von Gerichten der Europäischen Union (EU). Infolge einer entsprechenden Kompetenzübertragung üben Gerichte der EU mittelbar auch ein Stück deutscher Hoheitsgewalt aus, sodass sie nicht als „ausländische“ Gerichte in diesem Sinne betrachtet werden.25 Zwar wird angesichts des Gebots der unions- und völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes teilweise eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 3 GG auch auf Urteile ausländischer Gerichte gefordert.26 Dagegen wird allerdings angeführt, dass „die Rechtsordnungen verschiedener Staaten unterschiedliche Vorstellungen davon haben, welche Verhaltensweisen in welchem Ausmaß strafwürdig sind. Ein im Ausland mit hoher Strafe bedrohtes Verhalten kann in Deutschland straffrei oder nur mit geringer Strafe bedroht sein – und umgekehrt. Würde sich Art. 103 Abs. 3 GG auch auf ausländische Urteile beziehen, könnte nach einer milden Bestrafung einer Tat durch ein ausländisches Gericht oder nach einem Freispruch anschließend ein deutsches Gericht das unter Umständen schärfere deutsche Strafrecht nicht mehr durchsetzen. Das führt zu Ungleichbehandlungen bei der Durchsetzung des deutschen Strafrechts und bedeutet vor allem einen Souveränitätsverlust des deutschen Rechts und seiner Durchsetzung [...].“27 Die Staatsanwaltschaft kann allerdings nach § 153c Abs. 2 StPO von der Verfolgung absehen, wenn wegen der Tat im Ausland schon eine Strafe gegen den Beschuldigten vollstreckt wurde und die im Inland zu erwartende Strafe nach Anrechnung der ausländischen nicht ins Gewicht fiele oder der Beschuldigte wegen der Tat im Ausland rechtskräftig freigesprochen wurde. 3. Auslieferungsabkommen und sonstige Regelungen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Das Recht der Auslieferung ist Teil der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen.28 Die Auslieferung ist die Überstellung einer im ersuchenden Staat verfolgten Person an diesen durch den ersuchten Staat zu Zwecken der Strafverfolgung oder Strafvollstreckung. Die für Deutschland einschlägigen Regelungen finden sich im innerstaatlichen Recht, in bi- und multilateralen Abkommen und in Rechtsakten der EU.29 24 Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 76. 25 Degenhart, in Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 81; Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 84. 26 Siehe die Nachweise bei Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 77. 27 Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 78. 28 Böse, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, Vorbemerkung zu §§ 3 ff. Rn. 6. 29 Böse, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, Vorbemerkung zu §§ 3 ff. Rn. 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 8 Bilaterale Auslieferungsabkommen zwischen Deutschland und der Türkei existieren – soweit ersichtlich – nicht. Beide Staaten sind allerdings Vertragsmitglieder mehrerer multilateraler Auslieferungsabkommen .30 3.1. Freiwillige Überstellung Freiwillige Überstellungen richten sich nach dem Übereinkommen des Europarats über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 (ÜberstÜbk)31. Bisher haben 68 Staaten – 46 Mitglieder des Europarats und 22 weitere Staaten – das Übereinkommen ratifiziert.32 In Deutschland ist das Übereinkommen gemeinsam mit dem Überstellungsausführungsgesetz (ÜAG)33, welches inländische Ergänzungsregelungen enthält, seit dem 1. Februar 1992 in Kraft.34 Nach Art. 2 Abs. 2 des Übereinkommens kann eine im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei verurteilte Person zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei überstellt werden. Das Ersuchen um Überstellung kann nach Art. 2 Abs. 3 des Übereinkommens entweder von dem Staat, in dem das Urteil verhängt wurde oder von dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Verurteilte besitzt, gestellt werden. Das Übereinkommen begründet weder eine Pflicht der betreffenden Staaten auf Überstellung der Verurteilten noch ein Recht der Verurteilten auf Überstellung. Der Verurteilte selbst kann kein Ersuchen stellen. Er kann jedoch nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ÜberstÜbk den Wunsch auf Überstellung äußern. Die Voraussetzungen, unter denen eine verurteilte Person nach dem Übereinkommen überstellt werden kann, ergeben sich zunächst aus Art. 3 Abs. 1 ÜberstÜbk. Danach erforderlich sind: die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsstaates, ein rechtskräftiges Urteil, eine freiheitsentziehende , noch mindestens sechs Monate oder auf unbestimmte Dauer zu vollstreckende Sanktion, die Zustimmung der verurteilten Person bzw. ihres gesetzlichen Vertreters, eine Strafbarkeit sowohl im Urteils- als auch im Vollstreckungsstaat und eine Einigung zwischen Urteils- und Vollstreckungsstaat . 30 Abkommen und Rechtsgrundlagen, die nur für Mitgliedstaaten der EU gelten, wie etwa das Schengener Durchführungsübereinkommen , sind mangels Bezugs zur Türkei nicht Gegenstand dieser Darstellung. 31 Vertragstext abrufbar unter: http://conventions.coe.int. 32 Vgl. https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/112/signatures?p_auth=Hx8FvIVJ. 33 Gesetz zur Ausführung des Übereinkommens vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen, des Zusatzprotokolls vom 18. Dezember 1997 und des Schengener Durchführungsübereinkommens (Überstellungsausführungsgesetz - ÜAG) vom 26. September 1991 (BGBl. I S. 1954; 1994 I S. 1425; 1992 I S. 1232), zuletzt geändert durch Artikel 5 des Gesetzes vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2274). 34 BGBl. II 1991, S. 1007. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 9 Aus deutscher Sicht ist zudem die Erklärung der Bundesrepublik zu Art. 3 Abs. 1 ÜberstÜbk von erheblicher Bedeutung.35 Danach übernimmt Deutschland nur die Vollstreckung solcher Freiheitsstrafen , die in einem rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechenden Verfahren verhängt wurden. Die Vollstreckung wird nur übernommen, wenn wegen derselben Tat nicht bereits in der Bundesrepublik eine abschließende, gerichtliche Entscheidung ergangen ist. Sie darf nach deutschem Recht nicht bereits verjährt sein. Zudem darf ein Verurteilter nur dann von der Bundesrepublik in einen anderen Vertragsstaat überstellt werden, wenn gewährleistet ist, dass ihm dort wegen derselben oder einer anderen Tat nicht weitere Verfolgungsmaßnahmen oder sonstige Nachteile drohen. Dies gilt dann nicht, wenn die Bundesrepublik diesen Maßnahmen zustimmt oder der Verurteilte nach der Strafverbüßung nicht innerhalb von 45 Tagen den anderen Staat verlässt. 3.2. Zwangsweise Überstellung 3.2.1. Europäisches Auslieferungsabkommen Wesentliche Rechtsgrundlage für Überstellungen im europäischen Bereich außerhalb der EU ist das Europäische Auslieferungsübereinkommen des Europarats von 1957 (EurAuslÜbk)36. Es ist das älteste vom Europarat erarbeitete strafrechtliche Übereinkommen und gilt mit seinen Zusatzprotokollen und deliktsbezogenen Begleitregelungen, wie dem Europäischen Terrorismusübereinkommen , für die überwiegende Anzahl von Europaratsstaaten, die nicht Mitglied der EU sind, grundsätzlich fort.37 Nach Art. 1 EurAuslÜbk verpflichten sich die Vertragsstaaten, einander gemäß den Vorschriften und Bedingungen des Übereinkommens Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung gesucht werden. Voraussetzung der Auslieferung zur Strafverfolgung ist nach Art. 2 Abs. 1 EurAuslÜbk, dass die Handlung sowohl im ersuchenden als auch im ersuchten Staat mit einer Freiheitsstrafe oder einer die Freiheit beschränkenden Maßregel in Höhe von mindestens einem Jahr bedroht ist. Soll die Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung erfolgen, so muss die verhängte Strafe oder Maßregel mindestens vier Monate betragen. Gemäß Art. 16 EurAuslÜbk kann auch eine vorläufige Verhaftung der verfolgten Person beantragt werden. Dieses Ersuchen kann nach Art. 16 Abs. 3 EurAuslÜbk auch über Interpol übersendet werden. Die grundsätzliche Auslieferungsverpflichtung wird durch zwingende und fakultative Ablehnungsgründe nach dem Übereinkommen sowie durch die Rechtsprechung der nationalen Gerichte eingeschränkt. So kann etwa die Auslieferung eigener Staatsangehöriger nach Art. 6 35 Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen vom 19. Dezember 1991 (BGBl. II 1992, S. 98 ff.). 36 Vom 13. Dezember 1957 (BGBl. 1964 II S. 1369, 1371). 37 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Europäischer Haftbefehl und Europäisches Auslieferungsübereinkommen , WD 7 - 3000 - 144/17, S. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 10 EurAuslÜbk abgelehnt werden.38 Zudem wird nach Art. 10 EurAuslÜbk die Auslieferung nicht bewilligt, wenn nach den Vorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates die Strafverfolgung oder -vollstreckung verjährt ist. Nach Art. 3 Abs. 1 EurAuslÜbk ist ein Auslieferungsersuchen abzulehnen, wenn die strafbare Handlung, derentwegen sie begehrt wird, vom ersuchten Staat als eine politische oder als eine mit einer solchen zusammenhängende strafbare Handlung angesehen wird. Was eine „politische Handlung“ ist, entscheidet der ersuchte Staat nach Maßgabe seines innerstaatlichen Rechts und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls.39 Zu den klassischen politischen Delikten gehören Taten, die sich unmittelbar gegen die politische Ordnung eines Landes richten, gegen die innere oder äußere Sicherheit, den Bestand, die politische Organisation oder Verfassung eines Staates oder gegen die Regierung. Zu diesen Delikten zählen beispielsweise Hochverrat oder Spionage. Nach Art. 3 Abs. 2 EurAuslÜbk ist ein Ersuchen zudem abzulehnen, wenn der ersuchte Staat ernsthafte Gründe für die Annahme hat, dass das Auslieferungsersuchen wegen einer nach allgemeinem Recht strafbaren Handlung gestellt wurde, um eine Person aus rassischen, religiösen, nationalen oder auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen oder zu bestrafen , oder dass die Person der Gefahr einer Erschwerung ihrer Lage aus einem dieser Gründe ausgesetzt wäre. Eine politische Verfolgung liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vor, wenn der ersuchende Staat (auch politisch motivierte) Straftaten verfolgt , die sich gegen Rechtsgüter seiner Bürger richten.40 Die Verfolgung von Straftaten könne jedoch in politische Verfolgung umschlagen, wenn sich aus objektiven Umständen ergebe, dass der Betroffene auch wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werde. Dies sei insbesondere zu vermuten, wenn er eine härtere Behandlung erleide als diejenige, die sonst im Verfolgerstaat zur Verfolgung ähnlicher (nicht politischer) Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit üblich sei. Art. 9 EurAuslÜbk sieht ein Verbot der Doppelbestrafung vor. Danach darf die Auslieferung nicht bewilligt werden, wenn der Verfolgte wegen der Handlung, wegen der um Auslieferung ersucht wurde, bereits vom ersuchten Staat rechtskräftig verurteilt wurde. Die Auslieferung kann ferner abgelehnt werden, wenn die zuständigen Behörden des ersuchten Staates entschieden haben, wegen dieser Handlung kein Strafverfahren einzuleiten oder ein eingeleitetes Verfahren einzustellen . 3.2.2. Zusatzprotokoll zum Überstellungsübereinkommen vom 18. Dezember 1997 Am 18. Dezember 1997 wurde ein Zusatzprotokoll des Europarats zum oben genannten ÜberstÜbk von 1983 abgeschlossen. Es ist am 1. Juni 2000 in Kraft getreten und wurde von Deutschland am 10. Dezember 2002 ratifiziert.41 Das Protokoll enthält Bestimmungen über die 38 Nach Art. 16 Abs. 2 GG dürfen deutsche Staatsangehörige nicht an das Ausland ausgeliefert werden. 39 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Europäischer Haftbefehl und Europäisches Auslieferungsübereinkommen , WD 7 - 3000 - 144/17, S. 6 m.w.N., dort auch zum Folgenden. 40 BVerfGE 80, 315 (337 f.). 41 BGBl. II 2002, S. 286. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 11 Übertragung der Strafvollstreckung, wenn verurteilte Personen aus dem Urteilsstaat in ihren Heimatstaat fliehen oder wenn sie aufgrund ihrer Verurteilung der Ausweisung oder Abschiebung unterliegen (Art. 3 des Zusatzprotokolls). Abweichend von den Regelungen des ÜberstÜbk ist in diesen Fällen die Überstellung auch ohne Zustimmung der betroffenen Person möglich. Zum Ausgleich wird die Person förmlich angehört. 3.2.3. Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)42 regelt den Rechtsverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten, § 1 Abs. 1 IRG. Es ist nach § 1 Abs. 3 IRG subsidiär zu völkerrechtlichen Regelungen, die Teil des innerstaatlichen Rechts geworden sind. Es ist daher nur anzuwenden, soweit ratifizierte Auslieferungsabkommen keine spezielleren Regelungen enthalten. Das Gesetz regelt insbesondere das inländische Verfahren der Auslieferung. Neben dem IRG sind für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen die Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (RiVASt)43 maßgeblich. In der Anlage II (Länderteil) der Richtlinien44 finden sich zudem zu einer Vielzahl von Staaten konkrete Verfahrenshinweise . Das Auslieferungsverfahren beginnt mit der Übermittlung der Auslieferungsunterlagen. Welche Unterlagen erforderlich sind, richtet sich – falls nicht speziellere Regelungen eines Abkommens gelten – nach § 10 IRG. Nach § 10 Abs. 1 IRG ist die Auslieferung nur zulässig, „wenn wegen der Tat ein Haftbefehl, eine Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung oder ein vollstreckbares, eine Freiheitsentziehung anordnendes Erkenntnis einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates und eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen vorgelegt worden sind“. Nach Eingang des Auslieferungsersuchens – unter bestimmten Voraussetzungen bereits zuvor, § 16 IRG – kann gegen die betroffene Person Auslieferungshaft angeordnet werden. Die Voraussetzungen und das Verfahren der Auslieferungshaft richten sich nach den §§ 15 ff. IRG. Die Auslieferung darf nach § 12 IRG nur bewilligt werden, wenn sie gerichtlich für zulässig erklärt wurde. Eine Ausnahme besteht für das vereinfachte Auslieferungsverfahren nach § 41 IRG, bei dem die Zustimmung der betroffenen Person erforderlich ist. Zuständig für die Entscheidung über die Zulässigkeit sind – neben den wenigen dort genannten Ausnahmefällen – nach § 13 IRG grundsätzlich die Oberlandesgerichte. Wurde die Auslieferung gerichtlich für zulässig erklärt, ist nach § 74 Abs. 1 IRG grundsätzlich das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) für die Bewilligung der Auslieferung zuständig. Das BMJV entscheidet im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und mit anderen Bundesministerien, deren Geschäftsbereich von der Rechtshilfe betroffen wird. Die Bundesregierung kann nach § 74 Abs. 2 IRG ihre Zuständigkeit 42 In der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juni 1994 (BGBl. I S. 1537), zuletzt geändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 27. August 2017 (BGBl. I S. 3295). 43 Abrufbar unter http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/RiVaSt/Anhaenge/RiVaSt_Textfassung _2016.pdf;jsessionid=F116F9D000037CFC8A4FD00ED085EFE0.2_cid297?__blob=publicationFile&v=5. 44 Abrufbar unter http://www.bmjv.de/SiteGlobals/Forms/Suche/RiVaStsuche_Formular.html;jsessionid =6EF04F6EC7EEE9E4E61E9D01F3D9A703.2_cid297?templateQueryString=Suchbegriff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 174/19 Seite 12 durch Vereinbarung auf die Landesregierungen übertragen. Dies ist mit der Zuständigkeitsvereinbarung vom 200445 teilweise geschehen. Das BMJV erstellt jährlich eine Auslieferungsstatistik.46 Diese gibt Aufschluss über die Zahl und den Inhalt der dort eingegangenen und ausgegangenen Ersuchen um Auslieferung und Durchlieferung , über die Art ihrer Erledigung, über Zahl, Staatsangehörigkeit, Geschlecht der Verfolgten, über die den Ersuchen zugrunde liegenden Straftaten und über die beteiligten Staaten. Neben der Auslieferung kann die Bundesrepublik nach den §§ 48 ff. IRG auch Rechtshilfe durch Vollstreckung einer im Ausland verhängten Strafe oder sonstigen Sanktion leisten. Voraussetzung ist nach § 49 Abs. 1 IRG das Vorliegen einer rechtskräftigen und vollstreckbaren Entscheidung . Außerdem muss die Tat auch nach deutschem Recht strafbar sein und das gerichtliche Verfahren im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention47 geführt worden sein. Die Rechtshilfe darf nach § 56 Abs. 1 IRG nur bewilligt werden, wenn die ausländische Entscheidung für vollstreckbar erklärt wurde. Zuständig für die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit sind nach § 50 IRG die Landgerichte. Wird die Entscheidung für vollstreckbar erklärt, so wird die verhängte Sanktion in die ihr im deutschen Recht am meisten entsprechende Sanktion umgewandelt , § 54 Abs. 1 S. 2 IRG. Für die Zuständigkeit hinsichtlich der Bewilligung gelten wiederum § 74 Abs. 1 IRG sowie die Zuständigkeitsvereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen. *** 45 Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin , Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (Zuständigkeitsvereinbarung 2004) vom 19. April 2004, abrufbar unter http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet .de/bsvwvbund_28042004_935021713162004.htm. 46 Die Statistiken der Jahre 2003 bis 2017 sind abrufbar unter https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste /Justizstatistik/Auslieferung/Auslieferung_node.html. 47 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II S. 1198), geändert durch das 15. EMRK-Protokoll vom 24. Juni 2013 (BGBl. 2014 II S. 1034).