© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 171/20 Fragen zu den Kontroll- und Mitwirkungsrechten des Deutschen Bundestages bezüglich europäischer Rechtsakte Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 171/20 Seite 2 Fragen zu den Kontroll- und Mitwirkungsrechten des Deutschen Bundestages bezüglich europäischer Rechtsakte Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 171/20 Abschluss der Arbeit: 16. Juli 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 171/20 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wird nach den Möglichkeiten des deutschen Gesetzgebers, Vorschriften der Europäischen Union (EU) entgegenzuwirken, die zu einer Benachteiligung von mittelosteuropäischen Mitgliedstaaten (sog. MOE-Staaten) gegenüber anderen europäischen Mitgliedstaaten führen. 2. Nichtigkeitsklage bei Verletzung europäischer Diskriminierungsverbote Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit sind auf der Grundlage des Primärrechts der EU verboten: Art. 18 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) statuiert ein allgemeines Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit. Nach Art. 45 AEUV ist darüber hinaus speziell die Arbeitnehmerfreizügigkeit und nach Art. 56 AEUV der freie Dienstleistungsverkehr gewährleistet; aus diesen Vorschriften folgen spezielle Diskriminierungsverbote, die dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV vorgehen.1 Die Diskriminierungsverbote gelten gemäß Art. 52 Abs. 1 Vertrag über die Europäische Union (EUV) für alle Mitgliedstaaten .2 Abweichende Übergangsvorschriften, die im Zuge der Osterweiterung der EU im Jahre 2004 zwischen den Mitgliedstaaten vereinbart wurden, waren befristet und gelten seit Ablauf der Übergangsfristen im Jahr 2011 nicht mehr.3 Der Gerichtshof der Europäischen Union überwacht nach Art. 263 Abs. 1 AEUV unter anderem die Rechtmäßigkeit der Gesetzgebungsakte. Ist ein Mitgliedstaat der Ansicht, ein Rechtssetzungsakt der Europäischen Union sei nicht mit den primärrechtlichen Bestimmungen des EUV oder dem AEUV vereinbar, etwa weil dieser eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit enthält, kann er eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV vor dem Gerichtshof der Europäischen Union erheben. Ist diese Klage erfolgreich, wird die Geltung des Rechtsaktes durch das Urteil beseitigt.4 Die angegriffene Regelung ist dann als von Anfang an unwirksam zu betrachten.5 Dem Bundestag steht insofern die Möglichkeit zu, die Bundesregierung dazu aufzufordern, eine Nichtigkeitsklage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu erheben, wenn er der Ansicht ist, dass europäische Vorschriften gegen die Diskriminierungsverbote verstoßen. 1 Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 18 AEUV Rn. 44. 2 Siehe aber die Ausnahmen gemäß Art. 355 Abs. 5 AEUV für die Färöer Inseln, die Kanalinseln, die englischen Hoheitszonen auf Zypern und die Insel Man. 3 Ausführlich hierzu Infobrief der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Arbeitnehmerfreizügigkeit nach der Osterweiterung der Europäischen Union, Chancen und Risiken für den Arbeitsmarkt, WD 6 - 3010 - 001/11, https://www.bundestag.de/resource/blob/191742/2fe22b0fca7cbd5342713e4bb0a608b1/arbeitnehmerfreizuegigkeit _nach_der_osterweiterung-data.pdf. 4 Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 263 AEUV Rn. 1. 5 Pechstein, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 264 Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 171/20 Seite 4 3. Mitwirkungsrechte des Bundestages im Hinblick auf das europäische Gesetzgebungsverfahren Die Bundesrepublik Deutschland hat der EU auf der Grundlage des Art. 23 Grundgesetz (GG) umfassende Hoheitsrechte zugewiesen. Das auf der Grundlage des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ergangene Zustimmungsgesetz zum EUV und zum AEUV bewirkt die innerstaatliche Geltung der Verträge.6 Als supranationaler Organisation kommen der EU unter anderem auch legislative Befugnisse zu.7 Rechtsakte, die das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union beschließen, sind von den Mitgliedstaaten zu beachten: Europäische Richtlinien haben die nationalen Parlamente durch ein eigenes innerstaatliches Gesetz umzusetzen; europäische Verordnungen gelten in den Mitgliedstaaten unmittelbar und verbindlich, vgl. Art. 288 AEUV. Die Mitwirkungsrechte des Bundestages im Hinblick auf europäische Gesetzgebungsverfahren bestimmen sich nach Art. 23 GG: Während die Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU gemäß Art. 23 Abs. 1 GG eines Parlamentsgesetzes bedarf, beschränkt sich die Mitwirkung des Bundestages in anderen Angelegenheiten der EU auf das Recht gegenüber der Bundesregierung auf umfassende Unterrichtung zum frühestmöglichen Zeitpunkt sowie auf das Recht zur Abgabe von Stellungnahmen. Für die Mitwirkung der Bundesregierung an europäischen Rechtsetzungsakten sieht Art. 23 Abs. 3 GG besondere Pflichten vor. Die Bundesregierung hat dem Bundestag vor ihrer Mitwirkung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Über das Mittel der Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung kann der Bundestag Einfluss nehmen, um der Verabschiedung von benachteiligenden europäischen Regelungen entgegenzuwirken. Liegt eine solche Stellungnahme des Bundestages vor, muss die Bundesregierung diese bei den Verhandlungen berücksichtigen. Die nähere Ausgestaltung der parlamentarischen Mitwirkungsrechte regeln das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und dem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Zusammenarbeitsgesetz – EUZBBG) und das Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Integrationsverantwortungsgesetz – IntVG).8 Gemäß § 8 Abs. 4 EUZBBG hat die Bundesregierung in den Verhandlungen von Rechtssetzungsakten der EU einen Parlamentsvorbehalt einzulegen, wenn der Bundestag von der Gelegenheit zur Stellungnahme Gebrauch gemacht hat und der Beschluss des Bundestages in einem seiner wesentlichen Belange nicht durchsetzbar ist. Die Bundesregierung hat den Bundestag in einem gesonderten Bericht unverzüglich darüber zu unterrichten. Dieser Bericht muss der Form und dem Inhalt nach angemessen sein, um eine Beratung in den Gremien des Bundestages zu ermöglichen. Vor der abschließenden Entscheidung hat sich die Bundesregierung zu bemühen, Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen. Das Recht der Bundesregierung, in Kenntnis der Stellungnahme des Bundestages aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen abweichende Entscheidungen zu treffen, bleibt allerdings unberührt . *** 6 Sauer, Staatsrecht III, 5. Auflage 2018, § 8 Rn. 12. 7 Uerpmann-Wittzack, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 23 Rn. 37. 8 Ausführlich hierzu Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zu den Mitwirkungsrechten des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union, WD 3 - 3000 - 204/16, https://www.bundestag.de/resource/blob/479180/e904ebfef04badc27a1aaaa73947b07f/WD-3-204-16-pdfdata .pdf.