© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 170/20 Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz Gesetzgeberische Möglichkeiten, Koalitionsvereinbarung und Stand der verfassungsrechtlichen Diskussion Aktualisierung der Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 128/14 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Einführung In Politik und Rechtswissenschaft wird seit langem darüber diskutiert, ob und wie ein Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz geschaffen werden kann.1 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthält im Unterschied zum deutschen Grundgesetz ein Recht auf Bildung sowie auf Zugang zu beruflicher Ausbildung (Art. 14 Abs. 1 Grundrechtecharta). Diese Vorschrift der Grundrechtecharta umfasst kein klagbares Recht auf einen (bestimmten) Ausbildungsplatz, sondern in ihrem Kern nur ein Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu bestehenden (schulischen ) Einrichtungen.2 Forderungen nach der Normierung eines Rechtsanspruchs auf einen Ausbildungsplatz wurden wiederholt im Deutschen Bundestag diskutiert. Daher stellt sich die Frage, in welchem gesetzlichen Rahmen dieses Recht verankert werden könnte, also ob ein solches Recht im Grundgesetz oder „nur“ auf einfachgesetzlicher Ebene umgesetzt werden kann (dazu unten Ziff. 2.). Dabei ist auch von Interesse, welche Aussagen die Koalitionsverträge der Regierungsparteien der 18. und 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestags zu einem Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz treffen (dazu unten Ziff. 3. und 4.). Schließlich wird in einem Überblick der aktuelle Stand der verfassungsrechtlichen Diskussionen zu einem solchen Rechtsanspruch dargestellt (dazu unten Ziff. 5.). 2. Gesetzlicher Rahmen für einen Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz Der „Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz“ umfasst zwei aufeinander aufbauende Aspekte. Zum einen muss es einen Anspruch auf einen Ausbildungsplatz geben, z.B. für Personen mit einem Schul-, aber noch keinem Berufsabschluss. Zum anderen muss ein gerichtliches Verfahren zur Verfügung stehen, in dem dieser Anspruch bei Vorliegen aller Voraussetzungen von den Betroffenen durchgesetzt werden kann. Ein solcher Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz könnte grundsätzlich sowohl im Grundgesetz als auch in einem einfachen Gesetz verankert werden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber, d.h. jeweils zwei Drittel der Stimmen des Bundestages und des Bundesrates (Art. 79 Abs. 2 GG), kann in das Grundgesetz jegliche Änderung und Ergänzung aufnehmen, solange die Grenzen der so genannten Ewigkeitsgarantie3 (Art. 79 Abs. 3 GG) beachtet 1 Siehe die Literaturnachweise bei Fechner, Das Grundrecht auf einen Ausbildungsplatz, Studie zur Verankerung des Grundrechts im Grundgesetz als Staatszielbestimmung unter besonderer Berücksichtigung des UN-Sozialpaktes, S. 58 ff., herausgegeben von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Mai 2011, im Internet aufrufbar unter: https://www.gew.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=23945&token =dc12685fe536407333c640af97df05b86f8f9c2a&sdownload=&n=Studie_-_Fechner_komplett-web-neu.pdf (zuletzt aufgerufen am 16.7.2020). 2 Bernsdorff, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Auflage 2019, Art. 14, Rn. 12. 3 Vgl. zu diesem Begriff Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Loseblattsammlung, 72. Ergänzungslieferung (Stand: Juli 2014), Art. 79, Rn. 60. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 170/20 Seite 4 werden. Nach der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes darf auch der verfassungsändernde Gesetzgeber die föderalistische Ordnung, die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung sowie die in den Art. 1 GG und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze nicht verändern. Soweit die Aufnahme eines Rechtsanspruches auf einen Ausbildungsplatz in das Grundgesetz gefordert wird, wird vorgeschlagen, dies als Staatszielbestimmung mit einklagbarem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht zu tun.4 Auch wenn einer solchen Staatszielbestimmung verschiedene Bedenken entgegengebracht werden,5 stehen die Vorgaben der Ewigkeitsklausel einer solchen Verfassungsänderung nicht entgegen. Weitere flankierende Verfassungsänderungen und Ergänzungen, etwa zur Regelung eines Rechtswegs bei Verweigerung eines Ausbildungsplatzes könnten – auch wenn dies der geltenden Struktur des Grundgesetzes nicht entspricht – in das Grundgesetz aufgenommen werden. Daneben ist es auch möglich, den Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz einfachgesetzlich zu regeln. Dabei müssen allerdings alle Vorgaben des Grundgesetzes durch die einfachgesetzlichen Regeln beachtet werden. Dies betrifft zum einen die Gesetzgebungskompetenzen, aber auch die materiell-verfassungsrechtlichen Vorgaben. Im Rahmen der dualen Berufsausbildung verfügt der Bund über konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen für den betrieblichen Teil der Berufsbildung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 (Recht der Wirtschaft), Nr. 12 (Arbeitsrecht) und Nr. 13 (Ausbildungshilfen ) GG.6 Ein Gesetz, das einen Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz vorsieht, könnte daher durch den Bund erlassen werden, wenn die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz erfüllt sind (Art. 72 Abs. 2 GG7). Allerdings dürfte dieses Gesetz die materiell-rechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes, z.B. die Berufsfreiheit der ausbildenden Betriebe (Art. 12 Abs. 1 GG), nicht verletzen. Ob alle materiell-rechtlichen Vorgaben eingehalten werden, kann nur auf der Basis eines konkreten Gesetzgebungsvorschlags geprüft werden. 3. Aussagen des Koalitionsvertrages der 18. Wahlperiode zum Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz Der Koalitionsvertrag der Regierungsparteien CDU, CSU und SPD für die 18. Wahlperiode8 erwähnt einen Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz nicht. Genannt ist jedoch eine „Ausbildungsplatzgarantie “: „Wir werden den Ausbildungspakt gemeinsam mit den Sozialpartnern und den 4 Fechner, Das Grundrecht auf einen Ausbildungsplatz, S. 22 (siehe Fn. 1). 5 Vgl. dazu unten Ziff. 5, S. 5 ff. 6 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Loseblattsammlung, 74. Ergänzungslieferung (Stand: Mai 2015), Art. 7, Rn. 13. 7 Nach Art. 72 Abs. 2 GG darf der Bund u.a. von den konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 (Recht der Wirtschaft) und Nr. 13 (Ausbildungshilfen) nur Gebrauch machen, „wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.“ 8 Der Koalitionsvertrag kann im Internet aufgerufen werden unter: https://www.cdu.de/sites/default/files/media /dokumente/koalitionsvertrag.pdf (zuletzt aufgerufen am 16.7.2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 170/20 Seite 5 Ländern zur 'Allianz für Aus- und Weiterbildung' weiterentwickeln. Ziel der Allianz ist die Umsetzung der Ausbildungsgarantie in Deutschland. Kein junger Mensch darf zurückbleiben oder wertvolle Lebenszeit in Warteschleifen verlieren. Zusammen mit den Partnern in der Allianz unterstützen wir Jugendliche mit schlechteren Startchancen insbesondere durch ausbildungsbegleitende Hilfen und die assistierte Ausbildung.“9 Ein Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz ist damit nicht ausdrücklich im Koalitionsvertrag vorgesehen. In ihrer Kleinen Anfrage vom 12. Februar 201410 hat die Fraktion DIE LINKE. die Frage aufgeworfen, wie die im Koalitionsvertrag vereinbarte Ausbildungsgarantie ausgestaltet sein wird, ob sie einen verbindlichen Rechtsanspruch beinhalten wird, um die Aufnahme einer Ausbildung tatsächlich zu garantieren, und, wenn ja, wie dieser ausgestaltet sein wird.11 Genauere Angaben konnte die Bundesregierung in ihrer Antwort vom 5. März 2014 auf die Kleine Anfrage jedoch nicht machen und führt dazu aus: „Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, wird der 'Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland' in eine 'Allianz für Aus- und Weiterbildung ' weiterentwickelt. Alle relevanten Akteure (bisherige Paktpartner und Gewerkschaften) befinden sich zurzeit in einem erst beginnenden Diskussionsprozess zum Konzept, zu möglichen Zielen und Inhalten einer neuen 'Allianz für Aus- und Weiterbildung'. Daher sind konkrete Angaben zur Thematik 'Ausbildungsgarantie' im jetzigen Stadium nicht möglich.“12 Es blieb somit unklar, in welchem Maße die im Koalitionsvertrag erwähnte „Ausbildungsgarantie“ in ein Recht auf Ausbildung mit einem entsprechenden Rechtsanspruch von der Bundesregierung umgesetzt wird. Am 21. Mai 2014 wurde von der Fraktion DIE LINKE. ein Antrag gestellt, in dem sie die Bundesregierung unter anderem dazu auffordert, „in Deutschland das Recht auf Ausbildung umzusetzen, dass allen jungen Menschen ermöglicht, eine vollqualifizierende Ausbildung aufzunehmen“.13 Dieser wurde am 16. Oktober 2014 mehrheitlich im Bundestag abgelehnt.14 Der Antrag „Berufsbildungsgesetz novellieren – Ausbildung verbessern“ der Fraktion Die LINKE. vom 9. November 201615 u.a. darauf, „einen Gesetzentwurf vorzulegen, um einen Rechtsanspruch auf Ausbildung grundgesetzlich zu verankern, sodass allen jungen Menschen ermöglicht wird, eine 9 Koalitionsvertrag, S. 31 (Fn. 8) – Hervorhebung durch die Verfasserin. 10 BT-Drs. 18/530. 11 BT-Drs. 18/530, Frage Nr. 5, S. 2 f. 12 BT-Drs. 18/711, Antwort auf Frage Nr. 5, S. 4. 13 BT-Drs. 18/1454. 14 Plenarprotokoll 18/60, S. 5608 (B) - 5614 (D). 15 BT-Drs. 18/10281. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 170/20 Seite 6 vollqualifizierende, mindestens dreijährige Ausbildung aufzunehmen“, wurde von der Mehrheit des Bundestages am 29. Juni 2017 abgelehnt.16 4. Aussagen des Koalitionsvertrages der 19. Wahlperiode zum Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz und Vorhaben zur Stärkung der Ausbildung Im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien CDU, CSU und SPD für die 19. Wahlperiode17 ist ebenso wenig ausdrücklich ein Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz erwähnt. Dort heißt es im Vergleich zu dem vorherigen Koalitionsvertrag leicht abgewandelt: „Wir wollen die Allianz für Aus- und Weiterbildung fortsetzen und mit dem Ziel weiterentwickeln, allen jungen Menschen einen qualitativ hochwertigen Ausbildungsplatz garantiert anzubieten.“18 Zudem soll „[d]ie assistierte Ausbildung, bei der neben den Jugendlichen auch Eltern, Schulen und Unternehmen unterstützt werden“, bundesweit ausgebaut werden.19 Im April und Mai 2020 hat der Gesetzgeber die von der Bundesregierung eingebrachten Gesetze zur Förderung der beruflichen Weiterbildung im Strukturwandel und zur Weiterentwicklung der Ausbildungsförderung („Arbeit-von-morgen-Gesetz I“) beschlossen.20 Ziel ist es, für Geringqualifizierte und Personen ohne Berufsabschluss verbesserte Beschäftigungsfähigkeiten herzustellen. „Geringqualifizierte sollen einen grundsätzlichen Rechtsanspruch auf Förderung einer berufsabschlussbezogenen Weiterbildung durch Agenturen für Arbeit und Jobcenter erhalten.“21 Hiermit einher geht allerdings kein genereller Anspruch auf Berufsausbildung. Der Antrag „Berufliche Bildung modernisieren, Recht auf Ausbildung umsetzen“22 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 15. Mai 2019 u.a. darauf, „eine Ausbildungsgarantie zu schaffen, die allen jungen Menschen, die keinen betrieblichen Ausbildungsplatz finden, einen direkten Einstieg in eine vollqualifizierende überbetriebliche Ausbildung ermöglicht“, wurde von der Mehrheit des Bundestages am 24. Oktober 2019 abgelehnt.23 Bereits mit ihrem Antrag vom 23. April 2018, die im Koalitionsvertrag von 2013 genannte Ausbildungsgarantie umzusetzen, war die Fraktion 16 Plenarprotokoll 18/243, S. 25036 (A). 17 Der Koalitionsvertrag kann im Internet aufgerufen werden unter: https://www.bundesregierung.de/resource /blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertragdata .pdf?download=1 (zuletzt aufgerufen am 16.7.2020). 18 Koalitionsvertrag 19. Wahlperiode (Fn. 14), S. 31 – Hervorhebung durch die Verfasserin. 19 Koalitionsvertrag 19. Wahlperiode (Fn. 14), S. 31. 20 BT-Drs. 19/18076; BT-Drs. 19/17740. 21 BT-Drs. 19/18076, S. 2; siehe Gerlach, Das Arbeit-von-morgen-Gesetz I – Krisen-Vorsorge, ArbRAktuell 2020, 135, 137. 22 BT-Drs. 19/10219. 23 Plenarprotokoll 19/121, S. 14918 (A). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 170/20 Seite 7 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gescheitert.24 Beschlossen hat der Bundestag am 24. Oktober 2019 hingegen einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung.25 Es wird unter anderem eine „angemessene“ Mindestvergütung für Auszubildende festgeschrieben , nicht jedoch ein generelles Recht auf Ausbildung. 5. Stand der verfassungsrechtlichen Diskussion um einen Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz Die Schaffung eines Rechts auf einen Ausbildungsplatz stößt in der juristischen Diskussion sowohl auf Unterstützung als auch auf Zweifel. In einem älteren Gutachten von Mückenberger aus dem Jahr 1986 wird noch die Auffassung vertreten, dass aus der Berufsausbildungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) eine grundrechtliche Pflicht von Unternehmen folge, Ausbildungsplätze zu schaffen. Der Autor wägt diese Pflicht mit der Berufs- und Eigentumsfreiheit der betroffenen Unternehmen ab und kommt zu dem Ergebnis, dass die „Ausbildungs- und Berufswahlfreiheit Jugendlicher einen so hohen personalen existentiellen Stellenwert [hat …], dass im Konflikt damit schutzwerte Eigentums- und Berufsfreiheitsinteressen von Unternehmen, nicht auszubilden, nur in Ausnahmefällen Bestand haben, im Regelfall jedoch zurücktreten werden .“26 Eine solche grundrechtliche Pflicht der privaten Unternehmen wird in der neueren Literatur – soweit ersichtlich – nicht mehr vertreten. Jarass weist in einem Artikel von 1995 darauf hin, dass sich das von Art. 12 Abs. 1 GG vermittelte Recht auf Teilhabe an berufsbezogener Ausbildung nur an staatliche Einrichtungen richte.27 Einen Anspruch auf einen Ausbildungsvertrag mit einem privaten Unternehmen leitet er daraus nicht ab. Auch Avenarius und Rux sehen in ihrem Gutachten im Rahmen eines Untersuchungsauftrags der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaften aus dem Jahr 2004 nur eine Verpflichtung des Staates zur Sicherstellung eines genügenden Ausbildungsangebots . Insoweit vertreten die Autoren jedoch sehr deutlich, dass der Staat durch die Grundrechte verpflichtet sei, im Rahmen seiner Möglichkeiten ein hinreichend differenziertes Bildungs- und Ausbildungssystem vorzuhalten, das den individuellen Begabungen junger Menschen nach Möglichkeit Rechnung trage.28 24 BT-Drs. 19/1795. 25 BT-Drs. 19/10815. 26 Mückenberger, Die Ausbildungspflicht der Unternehmen nach dem Grundgesetz, Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, 1986, S. 130 f. 27 Jarass, Zum Grundrecht auf Bildung und Ausbildung, DÖV 1995, 674, 675. 28 Avenarius/Rux, Rechtsprobleme der Berufsausbildung, Gutachten im Auftrag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften, 2004, S. 103. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 170/20 Seite 8 Die „Expertise“ von Nagel29 von 2009 untersucht die Frage, ob aus der Berufsfreiheit im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein so genanntes Teilhaberecht an beruflicher Bildung besteht. Er bejaht dies insbesondere unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz von 1976.30 Er weist jedoch darauf hin, dass aus diesem Teilhaberecht auf berufliche Bildung nicht folgt, „dass der Staat derartige Bildungsmaßnahmen selbst finanzieren oder durchführen muss, wohl aber, dass er durch Gesetze, Verordnungen oder sonstige Maßnahmen ein System schaffen und aufrechterhalten muss, in dem den Bürgern angemessene Bildungsmöglichkeiten eröffnet werden. Bei der Ausgestaltung dieses Systems hat der Staat einen weiten Ermessensspielraum. Er könnte theoretisch, wenn er seine Schutzpflichten beachtet, z.B. die berufliche Bildung ausdrücklich auf private Träger beschränken. Er kann seine Durchführungsverantwortung weit zurücknehmen, eine Gewährleistungsverantwortung für ein Mindestangebot an beruflicher Bildung ergibt sich aber aus seiner Schutzpflicht im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG. Er kann das öffentliche Angebot an Bildungsmaßnahmen auch verstärken.“31 Dies bedeutet, dass Nagel die Ausgestaltung des Teilhaberechts der Gesetzgebung zuweist und einen einklagbaren Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz nicht aus der Verfassung ableitet. Befürwortet und umfassend untersucht wird ein Recht auf Ausbildung in einem Gutachten von Fechner aus dem Jahr 2011.32 Der Autor führt im Einzelnen aus, wie das Recht auf Ausbildung einschließlich eines Rechtsanspruches darauf, im Grundgesetz aufgenommen werden könnte. Er plädiert für die Aufnahme des Rechts auf Ausbildung als Staatszielbestimmung in Art. 12 GG (Berufsfreiheit), weist aber darauf hin, dass ein aus der Staatszielbestimmung unmittelbar folgender einklagbarer Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz eine Reihe erheblicher Probleme aufwerfen würde.33 Dies ergebe sich schon daraus, dass die Grundrechte und Staatszielbestimmungen nicht zwischen Privaten gelten, das Ausbildungsverhältnis jedoch zwischen Privaten, d.h. dem Auszubildenden und dem ausbildenden Betrieb, entstehe. Das Grundgesetz wäre zudem nicht der geeignete Rahmen, um die mit der Ausbildungsverpflichtung der Betriebe geeigneten Detailfragen zu klären: „So stellte sich zunächst die Frage, ob die Ausbildungspflicht alle Unternehmen trifft oder nur einen Teil. Was gilt für Unternehmen, die keine Mitarbeiter/-innen mit ausbildungsfähigen Berufen beschäftigen? Was gilt für Unternehmen, die keine ausbildungsberechtigten Mitarbeiter/ -innen beschäftigen? Sind diese verpflichtet, neue Mitarbeiter/-innen mit Ausbildungsberechtigung einzustellen? Wie ist mit diesbezüglichen Arbeitsmarktproblemen umzugehen? Wo liegt die Grenze der Zumutbarkeit? Ab welcher Größe müssen Betriebe ausbilden? Welche Ausbildungskapazitäten müssen sie vorhalten? Nach welchem System wäre festzustellen, ob die Kapazitäten ausgeschöpft sind? All dies sind Detailfragen, auf welche die Verfassung nur schwerlich eine unmittelbare Antwort geben könnte und die darauf hinweisen, dass ein gegenüber Privaten klagbarer Anspruch auf 29 Nagel, Das Teilhaberecht auf Ausbildung und Weiterbildung, Januar 2009, abrufbar unter: https://de.readkong .com/page/grundrecht-auf-ausbildung-2199091?p=3 (zuletzt aufgerufen am 16.7.2020), S. 21 ff. 30 BVerfGE 55, 276. 31 Nagel, Das Teilhaberecht auf Ausbildung und Weiterbildung, (siehe Fn. 29), S. 21, 25. 32 Fechner, Das Grundrecht auf einen Ausbildungsplatz, (siehe Fn. 1). 33 Fechner, Das Grundrecht auf einen Ausbildungsplatz, S. 22 f. (siehe Fn. 1). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 170/20 Seite 9 einen Ausbildungsplatz kaum sinnvoll in der Verfassung selbst abschließend geregelt werden kann. Daher erscheint es angemessener, eine solche Aufgabe der Gesetzgebung zuzuweisen.“34 Der Petitionsausschuss des Bundestages hat sich allerdings im Jahr 2010 gegen die Schaffung eines Grundrechts auf Ausbildung ausgesprochen. Eine im Jahr 2008 beim Deutschen Bundestag eingereichte Petition forderte die Verankerung eines Grundrechts auf Ausbildung im Grundgesetz. Die Petition trug rund 78.000 Unterschriften.35 Der Petitionsausschuss hat dem Anliegen der Petition jedoch nicht entsprochen. Zur Begründung36 führt er aus, dass die Einführung sozialer Grundrechte bereits in der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Änderung des Grundgesetzes in den Jahren 1992/1993 diskutiert und abgelehnt wurde. Klagbare Grundrechte sollten nicht ins Grundgesetz aufgenommen werden, „da der Staat damit überfordert wäre und sich solche Rechte nur unter den Bedingungen einer zentralen Verwaltungswirtschaft und damit um den 'Preis der Freiheit' einführen ließen (Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Drucksache 12/6000, S. 77 […]).“ Darüber hinaus seien die Wirkungen eines „Grundrechts auf Ausbildung“ und eine gesetzliche „Ausbildungsabgabe “ in Fachkreisen umstritten. Der Petitionsausschuss führt dazu weiter aus: „Der Petitionsausschuss kann eine solche Abgabe auch deshalb nicht befürworten, weil es höchst fraglich ist, ob durch eine derartige Abgabe – die einen erheblichen Kostenschub und einen erhöhten Verwaltungsaufwand für die Wirtschaft mit sich brächte – tatsächlich neue betriebliche Ausbildungsplätze geschaffen würden.“37 Er könne daher die Einführung eines Rechts auf Ausbildung in das Grundgesetz nicht unterstützten. Auch in der neueren Kommentarliteratur wird ein aus der Verfassung ableitbarer Anspruch auf einen bestimmten betrieblichen Ausbildungsplatz verneint.38 Über Art und Maß der Ausbildungsförderung zu entscheiden, sei Sache des Gesetzgebers.39 Dieser sei für die Bestimmung der bildungspolitischen Prioritäten verantwortlich.40 Aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit dem Gleichheitssatz und Sozialstaatsprinzip kann im Einzelfall lediglich in jenen Ausbildungsbereichen, die faktisch in staatlicher Verantwortung betrieben werden (bspw. im Bereich der Referendarausbildung oder 34 Fechner, Das Grundrecht auf einen Ausbildungsplatz, S. 23 (siehe Fn. 1). 35 Die Petition und das Petitionsverfahren ist einschließlich der abschließenden Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses des Bundestages abgedruckt bei: Fechner, Das Grundrecht auf einen Ausbildungsplatz, Anhang, S. 67 ff. (siehe Fn. 1). 36 Die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ist abgedruckt bei: Fechner, Das Grundrecht auf einen Ausbildungsplatz , Anhang, S. 77 ff. (siehe Fn. 1). 37 Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses, abgedruckt bei: Fechner, Das Grundrecht auf einen Ausbildungsplatz , Anhang, S. 80 (siehe Fn. 1). 38 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12, Rn. 13; Ruffert, in: Epping/Hillgruber , BeckOK Grundgesetz, 43. Edition, Stand: 15.5.2020, Art. 12, Rn. 25; Mann, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 12, Rn. 19. 39 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12, Rn. 13. 40 Mann, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 12, Rn. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 170/20 Seite 10 im Hochschulbereich), ein Teilhaberecht abgeleitet werden.41 Das Bereitstellen einer unbeschränkten universitären Ausbildungskapazität könne darüber hinaus nicht verlangt werden.42 Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass auch in der verfassungsrechtlichen Diskussion erhebliche Bedenken dagegen vorgebracht werden, dass ein justitiabler Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz im Grundgesetz verankert wird. *** 41 Mann, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 12, Rn. 18. 42 Langenfeld, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2. Auflage 2013, Kapitel 23, Rn. 15; siehe dazu bereits Breuer, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band VIII, 3. Auflage 2010, § 170, Rn. 105 ff.